Samstag, 29. Mai 2010

Predigt am 30. Mai über Röm 11,33-36

Liebe Gemeinde,
o Tiefe des Reichtums, schreibt Paulus. Wie kein Zweiter seiner Zeit hat Paulus versucht seinen Glauben, das was ihn zutiefst in seinem Herzen berührte, bewegte und erfüllte und sein Leben radikal verändert hat, zu durchdenken, in Worte zu fassen und für andere darzulegen und nachvollziehbar zu machen. Im Römerbrief tut er dies am Ausführlichsten und Umfassendsten. In immer neuen Anläufen formuliert er Grundeinsichten seines Glaubens und setzt sich mit Einwänden auseinander. Und dann dieser Abschnitt, der unser heutiger Predigttext ist. Die Argumentation bricht ab. "O Tiefe" kann er nur noch ausrufen. Und doch ist es keine unbestimmte Tiefe sondern es heisst: "O welch eine Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!" Der theologische Denker Paulus kapituliert vor dem Geheimnis Gottes, aber diese Kapitulation ist kein achselzuckendes "das kann man eh nicht begreifen" und erst recht kein gleichgültiges "was sich nicht beweisen lässt geht mich auch nichts an". Nein, das ganze Denken des Paulus mündet in Anbetung und Lobpreis. Wohl kann er keine letztgültigen Beweise liefern und viele Fragen bleiben unbeantwortet, aber am Ende steht nicht Ratlosigkeit und Resignation, sondern eine tief verwurzelte Glaubensgewissheit, ein Wissen des Herzens, dass dankbar dem Geheimnis Gottes entgegentritt.
Es ist diese Denkbewegung des Paulus, die mich fasziniert und ermutigt, ermutigt zum Denken und zum Glauben. Umgangssprachlich gelten Glauben und Denken ja heute fast als Gegensätze. Paulus steht für eine andere Haltung. Für ihn sind Glauben und Denken Geschwister. Ein Glaube, der das Denken scheut, verkommt zum blossen Fürwahrhalten, zur Unterwerfung und ist nichts anderes als Aberglaube. Aber umgekehrt gilt auch: Wenn wir nur glauben, was wir auch wirklich wissen, dann sperren wir Gott in unser Denken ein, dann ist er nicht mehr das Geheimnis dieser Welt, sondern nur noch das Ergebnis unserer Logik. Mit unserem Denken vergewissern wir uns, dass unser Glaube Sinn macht, dass er nicht willkürlich und beliebig ist, aber zugleich respektieren wir im Glauben das Geheimnis unseres Gottes, weil wir wissen, dass nur etwas den Namen "GOTT" verdient, das höher ist als all unsere Vernunft. Der Philosoph Kierkegaard hat einmal gesagt: Wenn ein junger Mensch am Beginn seines Studiums sagt: "Ich weiss, dass ich nichts weiss", dann ist das Faulheit. Wenn ein Sokrates am Ende seines Lebens zu dieser Einsicht gelangt, dann ist es Weisheit. Ich denke, in bezug auf unseren Glauben liesse es sich ähnlich formulieren.
Es ist ein langer Weg, den Paulus bis zu unserem Predigttext gegangen ist. Am Anfang steht für ihn die Erfahrung: In Jesus Christus hat Gott sich mir gezeigt als liebender und treuer Gott, der will, dass ich leben kann. Bei allem, was mir widerfahren mag, werde ich niemals vergessen, dass ich aus dieser Liebe lebe. Daraus ergibt sich für ihn die zweite Grundeinsicht: Wir müssen nichts dazu tun, dass Gott uns liebt, kein Gesetz erfüllen, keine Leistungen erbringen. Gott liebt uns bedingungslos – in der reformatorischen Tradition heisst das „ohne Werke des Gesetzes, allein aus Glauben“. Und die dritte Einsicht: Diese Liebe Gottes, die Einladung zum Glauben gilt allen Menschen, nicht nur den Juden.
Diese drei Glaubenseinsichten des Paulus sind bleibend wichtig. Wir glauben an einen Gott, den wir zwar nicht fassen können, der Geheimnis bleibt, aber auf dessen Liebe und Treue wir vertrauen dürfen, weil er uns in Jesus Christus begegnet mit einem menschlichen Gesicht. Wir brauchen an unserem Scheitern, unseren Fehlern nicht zu verzweifeln, weil unser Heil nicht von unserer Vollkommenheit abhängt. Befreit von Leistungs- und Vollkommenheitsdruck dürfen wir aufatmen und können unser Bestes geben. Und ohne die Öffnung hin zu allen Menschen, die Paulus entdeckt hat, hätten wir wohl heute keinen Zugang zum christlichen Glauben.
Aber aus diesen Einsichten entstehen wieder neue Fragen, mit denen Paulus konfrontiert wird. Zu seiner Zeit die Gewichtigste war: Wenn es nur auf den Glauben allein und gar nicht auf das Erfüllen des Gesetzes ankommt, werden dann die Menschen nicht geradezu zur Sünde verführt. Oder moderner formuliert: gehen da nicht alle ethischen Massstäbe verloren, bricht da nicht die ganze Ordnung zusammen? Kann denn jeder tun und lassen was er will, weil der liebe Gott sowieso alle zwei Augen zudrückt? Ist der, der sich dann noch um das Gute bemüht, letzlich dumm? Nein, sagt Paulus, aber erstens kann niemand das Gesetz vollkommen erfüllen und zweitens ist Gott nicht der mit dem grossen Kassenbuch, der am Ende abrechnet. Euer Denken ist falsch. Ihr tut Gutes, weil ihr meint, dass es euch im Himmel belohnt wird. Den Himmel könnt ihr euch nicht verdienen, den will Gott euch schenken. Aber können wir nicht Gutes tun aus Freude und Dankbarkeit, aus Liebe zu Gott und zu den Menschen ohne Spekulation auf himmlischen Lohn? Wir sollten uns nicht zu schnell von solch altmodischem Denken von himmlischem Lohn frei fühlen. Ist nicht schon unser irdischer Alltag viel zu sehr von der Frage geprägt, ob sich etwas auch lohnt? Und glauben wir nicht zu oft, dass es für alles Strafen und Drohungen braucht, weil sonst ja der der Dumme ist, der sich an die Regeln hält? Paulus sagt: Gott liebt euch, da könnt ihr nichts hinzufügen und nichts wegnehmen, das könnt ihr nur annehmen. Aber zugleich sagt er: Gott beansprucht nicht einfach die Einhaltung von Vorschriften und Gesetzen (und alles, was nicht verboten ist, ist dann erlaubt); er beansprucht euer ganzes Leben, eure Herzen. Euer Tun sei nicht Berechnung und Furcht vor Strafe, sondern Liebe, Freude und Einsicht. Befolgt nicht einfach Gesetze, sondern gebraucht euer Herz und eure Vernunft und tut, wozu sie euch führen. Grenzenlose, bedingungslose Liebe und radikaler Anspruch sind in Gott vereint. O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis.
Aber bleibt nicht auch der Glaube ein Geschenk? Wie aber kann dann der Glaube für Paulus die Bedingung der Gerechtigkeit sein? Und was geschieht mit denen, die nicht glauben. Für Paulus war damit vor allem die Frage nach dem Schicksal Israels verbunden. Er ist überzeugt, dass Gott Israel erwählt hat und dass er treu ist. Aber die Mehrheit Israels kann Jesus nicht als Messias, gar als Sohn Gottes ansehen. Hat Gott nun seine Erwählung zurückgenommen? Ist er Israel untreu geworden? Das ist für Paulus unmöglich. Aber eine Antwort auf die Frage kann er nicht geben. Wenn Gott das Heil aller Menschen will und Glaube ein Geschenk ist, wieso gibt es dann den Unglauben? Vorsicht ist auf jeden Fall geboten bei unseren Versuchen, die Menschen in Gläubige und Ungläubige, Gerettete und Verworfene einzuteilen oder anderen ihren Unglauben oder anderen Glauben vorzuwerfen. Und wer von uns kann wissen, ob Gott nicht mit anderen Menschen andere Wege geht. Den eigenen Glauben ganz ernst nehmen, ihn pflegen, sein Wachstum suchen und dankbar sein für dieses Geschenk und zugleich tolerant und offen für den Glauben und die Zweifel anderer, das scheint mir der beste Weg zu sein, das Geheimnis des Lebens, das Geheimnis unseres Gottes zu respektieren.
Paulus ruft in unserem Predigttext zwei alttestamentliche Schriften in Erinnerung, Hiob und den Exilspropheten Jesaja. Das harte und unbegreifliche Schicksal eines Mannes, dem – trotz seines Glaubens und frommen Lebenswandels – alles genommen wird, für den das Leben zur Hölle wird und das Schicksal des Volkes Israel, das in der Gefangenschaft anfängt zu fragen: Wo ist denn unser Gott? Paulus erinnert daran, dass wir in unserem Leben immer wieder an Grenzen unseres Verstehens stossen, dass längst nicht alles Sinn macht und aufgeht. Persönliches Leid, Krankheit und Tod, aber auch die Erfahrung von Krieg, menschlichem Hass und Gewalt oder von Naturkatastrophen – sie gehören zu den grössten Anfechtungen des Glaubens. Da zweifeln wir an einem Gott, der alles so herrlich regieret. Und dennoch sagt Paulus: Auch dann wenn ihr Gott gar nicht mehr versteht, wenn euch seine Wege unbegreiflich und rätselhaft sind, dürft ihr mit all euren Fragen und Zweifeln zu ihm kommen, nicht in Erwartung der Antwort auf alle Fragen, aber in dem Vertrauen, dass er euch Kraft schenkt und Glaubensgewissheit in eure Herzen zurückkehren kann – nicht als Voraussetzung, aber am Ziel eines schwierigen und vielleicht langen Weges. Glaubensgewissheit, die erkennt, dass unsere Erkenntnis nicht reicht, Gottes Wege mit uns und mit unserer Welt zu durchschauen, Glaubensgewissheit, die aber darum weiss, dass der nahe und der ferne Gott derselbe sind, nämlich der, der uns in Jesus Christus bedingungslos liebt und dem unser Schicksal und das Schicksal allen Lebens nicht gleichgültig ist.
Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

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