Samstag, 20. November 2010

Predigt über Offenbarung 21,1-7 am Ewigkeitssonntag, 21 November 2010

Liebe Gemeinde,
heute ist der Toten- oder Ewigkeitssonntag. Viele von ihnen werden heute die Gräber ihrer Lieben besuchen, vielleicht auch eine Kerze aufs Grab stellen. Wir werden nachher im Gottesdienst die Namen der Verstorbenen unserer Kirchgemeinde aus dem zu Ende gegangenen Kirchenjahr verlesen und die Kerzen für sie anzünden, die die KonfirmandInnen für sie gestaltet haben.
„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde“ heisst es in der Offenbarung. „Und Gott selbst wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein und er wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Siehe, ich mache alles neu!“
Was für eine wunderbare und tröstliche Vision: eine neue Welt ohne Leid, ohne Tränen, ohne Tod. Eine Welt, in der alles, was hier zerbrochen und unvollendet bleibt, heil und ganz ist, wo aller Streit überwunden ist, alle Schuld vergeben, aller Hader und Groll abgelegt. Eine Welt, in der uns nicht mehr genommen wird, was uns so lieb und kostbar ist, wo Krankheit und Leid nicht mehr erbarmungslos zuschlagen. Eine Welt auch, in der Menschen einander nicht mehr Leid zufügen, wo niemand mehr das Leid anderer zur Schau stellen kann, wo die Gier nach Macht, der Hass, die Intoleranz, die Zerstörung im Namen vermeintlicher Ideale keinen Raum mehr haben. Eine wunderbare Vision – oder doch nur ein schöner Traum?
Können uns die Worte des heutigen Predigttextes ermutigen, aufrichten, Hoffnung machen, wenn Trauer und Verzweiflung uns überwältigen beim Abschied von einem lieben Menschen oder dann, wenn beim Abschied so vieles ungesagt und ungelöst bleibt? Können wir leben und uns trösten mit der Hoffnung auf den neuen Himmel und die neue Erde oder sind das für uns nur leere, belanglose Worte – eben nur ein schöner Traum angesichts unserer Trauer, zu schön um wahr zu sein?
Jedenfalls ist es eine Utopie, eine Utopie im eigentlichen Sinn des Wortes – etwas, das in dieser Welt keinen Ort hat, etwas das wir nicht durch unser Planen und Machen erreichen und verwirklichen können. Ein neuer Himmel und eine neue Erde. Kein Fortschritt, keine kontinuierliche Entwicklung, schon gar nicht die Überwindung von Leid, Krankheit und Tod durch medizinische Forschung. „Der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen“, heisst es in der Offenbarung. Es gibt keinen Weg von hier nach dort. Solange diese Erde besteht, werden Menschen ihre Toten beweinen, werden Krankheiten und Schicksalsschläge Menschen treffen, werden Menschen einander Leid zufügen, wird es Kriege, Hass, Neid und Gewalt geben. Diesen Realismus lehrt uns die Bibel – von Kain und Abel bis hin zu den bedrückenden Bildern der Offenbarung. Und der Tod mag zwar gerecht sein, weil, wie das Sprichwort sagt, das letzte Hemd keine Taschen hat, aber er ist furchtbar ungerecht in der Auswahl seiner Opfer und er ist fast immer ungerecht für den, dem ein lieber Mensch genommen wird. Aber – noch einmal – was kann uns dann die biblische Utopie vom neuen Himmel und der neuen Erde helfen, wenn sie doch nicht von dieser Welt ist?
Wenn einem die Decke auf den Kopf fällt, dann tut es gut, wenn man aus dem Haus geht, hinaus an die frische Luft. Wenn man sich in den immer gleichen ausweglosen Grübeleien verheddert, tut es gut, wenn jemand einem auf andere Gedanken bringt, die Dinge in ein anderes Licht rückt. Ich glaube, dass die Utopie des heutigen Predigttextes genau diese Funktion hat, frische Luft in das Haus unserer Trauer hineinzubringen, die lähmenden Gedanken, die uns plagen in das Licht einer anderen Wirklichkeit zu stellen. Stell dir vor wie das wäre: eine Welt ohne Leid und Tod. Stell dir vor, keine deiner Tränen ist vor Gott vergessen, er wird sie abwischen. Stell dir vor, der Tod, die Verzweiflung, die Trauer – sie haben nicht das letzte Wort. Jenseits dieser Grenze, die für uns so unwiderruflich, so bitter und schmerzhaft ist, da ist noch etwas, oder besser gesagt, da ist noch einer, der uns erwartet, der uns trägt, der uns tröstet und hält und dessen Liebe zu uns stärker ist als der Tod. Das dürfen wir hoffen, das dürfen wir glauben. Ob es uns die Trauer leichter macht? Ob es uns geschenkt ist, die Welt und unser Leben gerade auch in dunklen Stunden in diesem Licht einer neuen Welt zu sehen, das weiss Gott allein. Erzwingen können wir es nicht, nicht bei uns selbst und nicht bei anderen. Aber wenn Gott uns dieses Licht, diese Sicht schenkt, dann verändert sich etwas, dann kann der Dank für das Gewesene stärker werden als die Trauer über das Verlorene, dann können wir loslassen, den schmerzlichen Verlust, die unüberwindbare Grenze akzeptieren, weil jenseits dieser Grenze nicht das Nichts ist, sondern die grenzenlose Liebe Gottes. In diesem Licht können auch unausgeräumte Missverständnisse, Schuld, Groll oder Hader ihre lähmende Macht verlieren, weil wir uns dem anvertrauen können, der unser Leben heil und ganz macht – nicht in dieser Welt, nicht in diesem Leben, aber dann, wenn unser Leben heimkehrt zu Gott. Wo der neue Himmel und die neue Erde in unser Hoffen und Denken einziehen, da empfangen wir die Kraft zum Loslassen, da kann neue Hoffnung und neuer Lebensmut in unseren Herzen aufkeimen und wachsen.
Den Tod können wir nicht überwinden, wir können nicht einmal diesseits der Todesgrenze eine friedliche Welt schaffen, ja oft nicht einmal in unseren engsten Beziehungen. Aber im Licht des neuen Himmels und der neuen Erde, die Gott uns verheisst, können wir mit unseren Möglichkeiten Tränen abwischen, denen die Kummer haben, verständnisvoll zuhören, einander in den Arm nehmen und trösten. Wir können das Leid nicht überwinden, aber wir können einander helfen, Schweres zu tragen, auszuhalten und behutsam wieder neue Hoffnung zu wagen. Und das ist schon ungeheuer viel. Und wir können einander vergeben und verzeihen, können Vergangenes ruhen lassen, weil wir es in Gottes Hand legen dürfen.
Siehe, ich mache alles neu, sagt der auf dem Thron. Gott macht alles neu, nicht wir. Aber er tut es. Er schenkt uns hier und jetzt neue Kraft. Und er heilt und vollendet das Ganze unseres Lebens. Darauf hoffen wir. Daran glauben wir. Davon leben wir. Amen.

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