Samstag, 4. Dezember 2010

Predigt zum Adventslied "O Heiland reiss die Himmel auf" am 5. Dezember 2010

„Mit brennender Geduld“ heisst ein Roman des chilenischen Schriftstellers Antonio Skarmeta, in dem er dem Dichter Pablo Neruda und dessen Postboten ein Denkmal setzt. Ich habe den Roman nicht gelesen, aber den Titel finde ich wunderbar - und wunderbar passend zu unserem Adventslied „O Heiland reiss die Himmel auf“, das uns der Chor gerade in der Vertonung von Johannes Brahms gesungen hat.

Dieses Adventslied ist anders als die meisten anderen. Es fehlt ihm der freudig-gewisse Klang eines „Macht hoch die Tür“, der bescheiden-demütige Ton von „Wie soll ich dich empfangen“ oder das beschreibende Lob von „Nun komm, der Heiden Heiland“, das wir am Ende unseres Gottesdienstes singen werden. Und es ist auch so ganz anders wie der Lutherchoral „Gelobet seist du Jesus Christ“, den wir nachher im Wechsel mit dem Chor noch singen werden und in dem ja auch vom Jammertal die Rede ist, aus dem der Sohn uns herausführt.

Was dieses Adventslied in meinen Augen von den meisten anderen unterscheidet, das sind die vielen O’s und Ach’s, dieser drängende, fast ungeduldige Ton. Da beschreibt nicht einer selbstsicher und in tiefer Gewissheit, was Gott für uns tut, sondern sehnt herbei, dass Gott endlich handelt. Nicht öffnen soll er den Himmel, sondern aufreissen; nicht herabkommen, sondern herablaufen. Der Tau soll nicht vom Himmel träufeln, sondern fliessen. Darf man den Heiland so bedrängen? So möchte man fast fragen.

Der Text dieses Adventsliedes ist im Jahr 1622 entstanden. Es waren die Anfangsjahre des 30-jährigen Krieges. Geschrieben hat es der Jesuitenpater Friedrich Spee. Er hat nicht nur die Schrecken dieses Krieges erlebt, er hat auch als Beichtvater den Hexenwahn miterlebt und schon früh begriffen, wie ausweglos die Situation für Frauen war, die der Hexerei beschuldigt wurden und denen Leugnen als Halsstarrigkeit und ein Geständnis als Anerkennung ihrer Schuld ausgelegt wurde. Spee hat gegen den Hexenwahn gekämpft. Und er wurde dafür selbst zu einem Opfer der Verfolgung. Er wurde ins Kriegsgebiet nach Trier geschickt, wo er bei der Pflege der Kranken und Verletzten an einer Seuche starb. Das war 1635. Spee war 44 Jahre alt.

Ja, so drängend bitten und sehnsuchtsvoll erwarten kann vermutlich nur jemand, der sich vom Leid und von der Ungerechtigkeit anrühren lässt, dem es keine Ruhe lässt, dass die Dinge sind, wie sie nun einmal sind und der von seinem Gott noch etwas erwartet. In diesem drängenden Bitten verbindet sich eine tiefe Menschlichkeit mit einem ebenso tiefen Glauben. Und genau das ist für mich das Beeindruckende und Ermutigende an diesem Adventslied und an Friedrich Spee.

In diesem drängenden Bitten höre ich aber auch eine wichtige Anfrage an uns. Sind wir nicht oft viel zu nüchtern und abgeklärt? Wir kennen die Sachzwänge und beherrschen die Kunst des Möglichen. Wir finden uns ab und suchen gute Gründe. Wir sind bescheiden und erwarten nicht zuviel. Wir haben gelernt, dass sich manche Dinge eben nicht ändern lassen, warum wir nicht viel machen können, wenn Menschen verhungern oder von unserem Wohlstand ausgeschlossen sind. Wir rechnen nicht mehr mit Gott in unserem durchorganisierten Leben - oder wenn, dann benutzen wir ihn zum Auffüllen unserer Defizite und der Lücken unseres Weltgebäudes oder zur Abgrenzung von den Andersgläubigen oder den Ungläubigen. Was erwarten wir eigentlich vom Leben, von Gott? Welche Sehnsüchte erfüllen uns? Was ist uns so wichtig, dass es uns in unserem Innersten berührt und mit brennender Geduld erfüllt? Gibt es in unserem Leben etwas, das uns dazu drängt zu rufen: O Heiland reiss die Himmel auf? Wenn wir immer nur mit dem Möglichen rechnen, haben wir vermutlich vom Advent noch wenig begriffen.

Ruhe und Abgeklärtheit sind im Leben gewiss wertvolle Qualitäten und es gibt wohl für jedes von uns Momente, wo wir uns mehr davon wünschen. Aber - und daran erinnert uns das Adventslied „O Heiland reiss die Himmel auf“ - die vorwärtsdrängende Sehnsucht, das erwartungsvolle Hoffen und das hoffnungsvolle Erwarten sind ebenso wichtig. Und das Lied drückt diese Sehnsucht in wunderbaren, kräftigen poetischen Bildern aus, in Bildern, die alles andere sind als ein Weltverbesserungsprogramm, weil sie alles von Gott erwarten. In Bildern aber auch, die uns in Bewegung bringen, weil sie darauf hoffen und darum bitten, dass Gott uns in Bewegung bringt. Wenn Schloss und Riegel weg sind und der Himmel offen, dann sind wir frei, einzutreten und hinauszutreten in den weiten Raum des Lebens, das Gott uns schenkt. Gott öffnet uns diesen Raum und er stärkt uns den Rücken. Den Weg gehen aber müssen und dürfen wir selber. Wenn Tau und Regen vom Himmel fliessen, dann wird der Boden fruchtbar. Der Boden aber sind wir und es braucht unsere Bereitschaft, Neues wachsen zu lassen.

Wenn wir am liebsten hätten, dass alles so bleibt wie es ist, dann wird uns diese adventliche Sehnsucht fremd bleiben. Wenn wir nicht mehr erwarten als die Geschenke zum Fest (und ich will damit überhaupt nichts gegen Geschenke sagen), dann wird uns die Weihnachtsbotschaft ein Märchen aus uralten Zeiten bleiben. Wenn wir aber uns anstecken lassen von dieser adventlichen Sehnsucht, dann dürfen wir unseren Gott auch bedrängen, ihn herausfordern. Dann müssen wir nichts mehr verdrängen von unseren Sorgen und Ängsten. Dann müssen wir uns nicht abfinden mit dem, was anders werden muss. Sehnen wir uns nach dieser göttlichen Lebensenergie? Sind wir bereit, uns bewegen und überraschen zu lassen? Wollen wir uns berühren lassen und uns öffnen? Wollen wir leben mit brennender Geduld? Dann können die Worte dieses Adventslieds wirklich zu unseren eigenen werden, aus tiefstem Herzen gesungen:

O Heiland, reiss die Himmel auf,
herab, herab vom Himmel lauf,
reiss ab vom Himmel Tor und Tür,
reiss ab, wo Schloss und Riegel für.

O Gott, ein’ Tau vom Himmel giess,
im Tau herab, o Heiland, fliess.
Ihr Wolken, brecht und regnet aus
den König über Jakobs Haus.

O Erd, schlag aus, schlag aus, o Erd,
dass Berg und Tal grün alles werd.
O Erd, herfür dies Blümlein bring,
o Heiland, aus der Erden spring.

Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt,
Darauf sie all’ ihr’ Hoffnung stellt?
O komm, ach komm vom höchsten Saal,
Komm tröst uns hier im Jammertal.

O klare Sonn, du schöner Stern,
dich wollten wir anschauen gern;
o Sonn, geh auf, ohn deinen Schein
in Finsternis wir alle sein.

Wir dürfen Gott mehr zutrauen als unsere kleinen Wünsche und Pläne. Die überfliessende Fülle dieser Bilder erinnert uns an die göttliche Lebenskraft, die wir uns niemals selber geben können und die mehr und anders ist als unsere Träume. Advent ist die Zeit der Erwartung. Erwarten dürfen wir nicht weniger als das Kommen Gottes, den herabfliessenden Tau göttlichen Segens in unserem Leben. Erwarten dürfen wir mit brennender Geduld. Amen.

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