Samstag, 25. Juni 2011

Predigt über Lukas 15,1-10 (bzw. 32) am 26. Juni 2011

Liebe Gemeinde,
wieder einmal hat Jesus sich mit Leuten umgeben, die nicht gerade den besten Ruf genossen. Bzw. sie haben seine Nähe gesucht und er hat sie nicht weggeschickt. Sünder und Zöllner waren es und Jesus war sich nicht zu schade, sich mit ihnen abzugeben, mit ihnen zu essen. Für die rechtschaffenen Bürger, die Pharisäer und Schriftgelehrten, war das skandalös. Zu solchen Subjekten hält man besser Abstand. Aber Jesus kümmert sich wenig darum, was sich angeblich gehört. Was für ihn zählt, das sind die Menschen, die am Rande stehen, die ihn brauchen, die auf Anerkennung und Gemeinschaft angewiesen sind. Deshalb erzählt Jesus, als er von den Pharisäern und Schriftgelehrten angegriffen wird, die Gleichnisse vom Verlorenen. Drei Gleichnisse sind es – und immer geht es darum, wie wichtig in Gottes Augen der einzelne Mensch ist, geht es um die menschliche Würde, die unabhängig ist von allem Nutzen, aller Leistung, allem Rentabilitätserwägungen. Gott sucht den einen, die eine – gerade die, denen von vielen ein Recht auf Beachtung abgesprochen wird. Und am Ende steht immer ein Fest. Diese überschwängliche Freude und Dankbarkeit, die so unverhältnismässig erscheint, sie ist ein ganz wichtiger Zug dieser Gleichnisse.
Das erste Gleichnis ist vielleicht das Bekannteste. In mancher Stube hängt das Bild des guten Hirten, der sein verlorenes Schaf, nachdem er es wieder gefunden hat, auf den Schultern nach Hause trägt. Ein berührendes Bild, das uns zeigen will: so kümmert Gott sich um jedes Einzelne, so wichtig sind wir für ihn. Und zwar, darauf kommt es ganz besonders an – nicht nur die Frommen, die Braven, die Unkomplizierten, sondern gerade die, die sich verirrt haben, auf Abwegen sind.
„Welcher Mensch ist unter euch…“ Dieser Anfang des Gleichnisses unterstellt, dass es gar keine andere Möglichkeit gibt, dass es einfach logisch und offensichtlich ist, dem einen verlorenen Schaf nachzugehen und die 99 allein in der Wüste zurückzulassen. Aber ist es das wirklich? Stellen wir uns einmal ein ganz anderes Gleichnis vor: Wer von euch würde nicht, wenn er 100 Schafe hat und eines davon verliert, Sorge tragen zu den 99 und das eine opfern, denn wer weiss ob er es findet und nicht inzwischen der Wolf kommt und die 99 überfällt. Ist diese Logik nicht auch überzeugend, vielleicht auf den ersten Blick sogar überzeugender als die Logik Jesu? Auch heute bekommen wir oft solche Sätze zu hören: Wer von euch würde nicht …?
Wer von euch würde nicht 100 Mitarbeiterinnen entlassen, wenn dadurch 900 ihre Stelle behalten? Wer von euch würde nicht Ja dazu sagen, dass an embryonalen Stammzellen geforscht wird, wenn er bedenkt, dass er selbst dadurch einmal von einer schweren Krankheit geheilt werden könnte? Wer von euch würde bezweifeln, dass es sinnvoller ist, einem 65-jährigen eine teure Hüftoperation zukommen zu lassen als einem 85-jährigen. Wer von euch würde nicht die Zuwanderung begrenzen und Flüchtlinge wegweisen, wenn so viele Schweizer arbeitslos sind?
Erst wenn wir genauer hinsehen, merken wir, wie fragwürdig diese Logik häufig ist. Erst wenn wir den einzelnen Menschen mit seinen Schmerzen, mit seiner Notlage, mit seinem Schicksal sehen, erkennen wir, wie unmenschlich diese Logik sein kann. Und dann merken wir, dass Jesu Logik eine andere ist. Auf den einzelnen Menschen kommt es an, er ist wichtig. Der Hochbetagte ist es wert, dass er die teure Operation bekommt, die ihn von seinen Schmerzen befreit. Die Behinderte ist es wert, dass sie alle mögliche Unterstützung bekommt. Der Flüchtling ist es wert, dass er Zuflucht bekommt. Der, der auf die schiefe Bahn geraten ist, ist es wert, dass wir ihm die Möglichkeit geben, wieder neu anzufangen. Der mich verletzt hat, ist es wert, dass ich auf ihn zugehe und ihm die Hand reiche.
Sie könnten sicher noch viele Beispiele hinzufügen. Der Hirte im Gleichnis geht dem einzelnen verirrten Schaf nach. Und so geht Gott jedem Einzelnen von uns nach, sagt uns das Gleichnis. Und ebenso sollt auch ihr den Menschen nachgehen, euch hüten davor, andere abzuschreiben. Denn wer jemanden abschreibt, der nimmt ihm die Würde. Wer den anderen zum hoffnungslosen Fall erklärt, der nimmt ihm die Würde. Wer Menschen als Mittel zum Zweck benutzt, der nimmt ihnen die Würde. Die Würde des Menschen aber ist unantastbar.
Wirtschaft soll den Menschen dienen – dieses Plakat, das vor einigen Jahren während dem Weltwirtschaftsforum in Davos an zahlreichen Kirchtürmen hing, macht uns die Botschaft dieses Gleichnisses im Ökonomischen bewusst. Es ist klar, dass es Situationen gibt, wo Betriebe um Entlassungen nicht herumkommen. Aber wo diese nicht für die Existenz des Unternehmens, sondern zur Maximierung des Profits vorgenommen werden, da wird die Würde des Einzelnen, dessen Existenz und Selbstwertgefühl an der Arbeit hängen, krass missachtet.
Jeder einzelne Mensch ist wichtig, jeder ist wertvoll. Egal, was er getan oder versäumt hat, egal, wohin ihn sein Schicksal oder seine Entscheidungen geführt haben. Niemanden sollen wir endgültig auf seine Geschichte, seine Fehler, sein Versagen festlegen. Und wenn einer wiedergefunden wird, wenn einer sein Glück, seinen Weg findet, dann ist das ein Grund zum Feiern. Können wir uns am Glück der anderen freuen und mit ihnen feiern, auch bei denen, wo wir manchmal das Gefühl haben, dass sie nicht besonders viel taugen? Können wir jemand zutrauen, dass er einen anderen Weg gehen kann als bisher und uns dann mit ihm freuen? Oder fragen wir dann eher: Womit hat der das verdient? Das wird sicher nicht von Dauer sein!
Statt Neid, Missgunst und Ausgrenzung laden die Gleichnisse vom Verlorenen ein zum Fest aus Freude über das Wiedergefundene. Und im dritten Gleichnis, dem vom verlorenen Sohn, das ich nicht vorgelesen habe, das sie aber sicher kennen, da kann der ältere Sohn sich nicht mitfreuen. Er findet das Verhalten des Vaters ungerecht, der seinem nichtsnutzigen Bruder ein Fest ausrichtet. Verständlich ist seine Reaktion und dennoch: mit seinem Verhalten, seiner Weigerung mitzufeiern, zeigt er, dass er die Liebe seines Vaters nicht begriffen hat, dass das Gift des Neides und des Urteilens ihn unfähig macht, sich zu freuen. Denn was geht ihm verloren, wenn er mitfeiert? Nichts – nur mag er seinem Bruder das Glück und das Fest nicht gönnen. Verurteilt nicht, sagt Jesus den Pharisäern und Schriftgelehrten, sondern freut euch mit, wenn diese Sünder und Zöllner bei mir Gemeinschaft finden und einen neuen Weg entdecken. Schreibt sie nicht ab, sondern freut euch mit an ihrem Glück. Euch wird ja dadurch überhaupt nichts weggenommen.
Verurteilt nicht, sondern achtet auf die Würde jedes Einzelnen, auch und gerade derer, die an den Rändern unserer Gesellschaft stehen. Verurteilt nicht, sondern freut euch über jeden, der wieder eine Chance bekommt. Wenn wir den Menschen nachgehen – im Auftrag unseres Gottes – dann bekommen Menschen Chancen, spüren, dass sie wichtig sind, kann sich etwas verändern in ihrem Leben.
Freude über das Wieder gefundene soll bei uns sein und wir dürfen auch darauf vertrauen, dass Gott auch uns sucht, wenn wir einmal in die Irre gehen, durch dunkle Täler hindurch müssen, nicht mehr weiter wissen. Auch für uns gilt: Jedes Einzelne ist in Gottes Augen ungeheuer wertvoll. Jeder Mensch hat seine unantastbare Würde und ist kostbar. Amen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen