Samstag, 15. Mai 2010

Predigt an Auffahrt, 13. Mai 2010 über Apg 1,3-11

Liebe Gemeinde,

der heutige Predigttext erzählt den zweiten Abschied der Jüngerinnen und Jünger von Jesus. Am Karfreitag war es - so dachten sie - ein endgültiger Abschied, der nur Trostlosigkeit und Verzweiflung zurückliess. Wie anders ist das nun bei diesem zweiten Abschied. 40 Tage sind seit dem Ostermorgen vergangen - seit dem Morgen der Auferstehung Jesu Christi. Im NT sind diese 40 Tage eine Zeit der besonderen Gegenwart Jesu. In dieser Zeit wurden die Jüngerinnen und Jünger Jesu in der Gewissheit bestärkt, dass Jesus, der Gekreuzigte nicht im Tode geblieben ist. Er ist ihnen erschienen - heisst es in der Bibel - und zugleich sind diese Erscheinungen allesamt schwebend erzählt. Immer, wenn die Jüngerinnen und Jünger ihn fassen wollen, entzieht er sich. Sie - und mit ihnen wir - sollen begreifen, dass es um mehr und anderes geht als um ein Weiterleben nach dem Tod, um ein Leben, dass den Tod überwunden hat. Er lebt, aber nicht so, wie wir in dieser Welt leben.

Nach 40 Tagen geht diese Zeit zu Ende. 40 ist eine besondere Zahl. 40 Tage dauert die Fastenzeit vor Ostern, vierzig Tage und Nächte fastet Jesus in der Versuchungsgeschichte in der Wüste, 40 Jahre dauert die Wüstenzeit des Volkes Israel beim Auszug aus Ägypten. Es ist eine Zeit der Reifung und der Stärkung, die Zeit, die es braucht, damit die neue Hoffnung, das neue Vertrauen bei den Jüngerinnen und Jüngern Wurzel schlagen kann. So ermutigt und bestärkt in dem Vertrauen, dass Jesus nicht einfach tot ist, nicht alles zuende ist, können sie nun Abschied nehmen. Dieser Abschied ist geprägt von Zuversicht, ist auch eine Art Mündigerklärung der Jüngerinnen und Jünger.

Am Ende der Geschichte gibt es eine beeindruckende Szene: wie gebannt blicken die Jüngerinnen und Jünger in den Himmel hinauf, der Wolke hinterher, die den Auferstandenen ihren Blicken entzogen hat. Da tauchen zwei Männer in weissen Kleidern auf - wer würde hier nicht an die Geschichte vom leeren Grab denken! Und so wie sie am Ende des Lukasevangeliums fragen „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?“ so fragen sie nun „Was steht ihr da und schaut hinauf zum Himmel?“ Und sie verbinden damit die Verheissung, dass der Auferstandene wiederkommen wird. Für mich schwingt aber in dieser Frage noch viel mehr mit. Sie verweist die Jüngerinnen und Jünger auf die Erde. Das ist der Ort, wo sie ihr Leben gestalten sollen, wo sie Verantwortung tragen und die Liebe, die sie erfahren haben, weitertragen sollen. Wer den christlichen Glauben mit einer frommen Weltflucht verwechselt, der hat diese Frage überhört. Sie verbietet uns aber auch die Suche nach endgültigen unumstösslichen Wahrheiten, die Erstarrung unseres Glaubens in Lehrsätzen. In irdischen Gefässen tragen wir die Glaubensgewissheit und wer sie ein für alle Mal im Buchstaben festschreiben will - sei es in Bibelversen oder in Dogmen - verliert das Leben aus den Augen. Und die Frage der beiden Männer macht uns auch bewusst, dass wir nicht auf ein wunderbares Eingreifen Gottes von oben herab warten, sondern unser Leben in die Hand nehmen und auf die Zeichen Gottes hier auf der Erde achten sollen, in dem was uns begegnet, in den alltäglichen Erfahrungen, in den Menschen, die uns auf unserem Weg begegnen. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen - dieser Leitsatz der Aufklärung verträgt sich ganz gut mit der biblischen Botschaft, mit dieser Mündigerklärung der Jüngerinnen und Jünger. Aber er ist unbedingt zu ergänzen mit der Aufforderung, dass wir uns nicht nur unseres Verstandes bedienen, sondern auch auf die Stimme unseres Herzens achten und uns berühren lassen von dem, was höher ist als unsere Vernunft.
Indem der Auferstandene die Jüngerinnen und Jünger verlässt, gibt er ihnen auch Freiheit und eröffnet ihnen und uns einen Raum, den wir wahrnehmen und in dem wir Verantwortung tragen können, Verantwortung für unser Leben, Verantwortung für die Menschen, die Gott uns anvertraut hat und für seine ganze Schöpfung, Verantwortung auch für die Botschaft vom Reich Gottes, die Jesus verkündet hat. Der Auferstandene geht. Aber er lässt sie nicht allein zurück. „Ihr werdet aber Kraft empfangen, wenn der heilige Geist über euch kommt, und ihr werdet meine Zeugen sein, in Jerusalem, in ganz Judäa, in Samaria und bis an die Enden der Erde.“ Sie bekommen nicht die Antwort auf alle Fragen, auch nicht einen Glauben, der durch nichts mehr ins Wanken geraten kann und erst Recht werden sie nicht frei von allem Leid. Aber Kraft - die ist ihnen verheissen. Und Kraft von Gott dürfen auch wir uns in unserem Leben erhoffen. Wir leben nicht allein von unserer eigenen bescheidenen Kraft und wir sind nicht allein, wenn wir an die Grenzen unserer Kräfte kommen. Indem wir unseren Weg gehen und reden von dem, was uns mit Hoffnung und Glauben erfüllt, aber auch von unseren Zweifeln und Sorgen, werden wir Zeuginnen und Zeugen sein. Zeuginnen und Zeugen sollen nämlich etwas bezeugen und nicht andere überzeugen oder gar überreden. Der erste und einzige Anspruch an Zeugen ist der, dass sie wahrhaftig sind. Und das gilt umso mehr in Glaubensdingen, wo wir ja nicht einfach mehr oder weniger objektive Sachverhalte schildern können. Und die Vielfalt der Zeuginnen und Zeugen eröffnet jedem den Raum, den eigenen Glauben zu finden, wahrzunehmen, was ihn oder sie mit Hoffnung und Kraft erfüllt.

Wir müssen nicht wissen, was damals vor den Toren Jerusalems wirklich geschehen ist, sollen nicht wie gebannt zum Himmel starren. Hätte es damals schon Fotos oder Filme gegeben - es wäre wohl nichts darauf zu erkennen gewesen. Spannend ist es ja, dass viele Bilder der Himmelfahrt, den Auferstandenen auf einer Wolke emporschwebend darstellen. In der Apostelgeschichte heisst es aber, dass eine Wolke ihn aufnahm und ihren Blicken entzog. Das Entscheidende lässt sich nicht zeigen, fassen, beweisen. War es ein Traum oder ein reales Geschehen? Ich vermute, dass es darauf gar nicht ankommt und dass vielleicht schon diese Unterscheidung nicht angemessen ist. Für die Jüngerinnen und Jünger Jesu war es jedenfalls eine reale Kraft, die sie in Bewegung setzte und mit Hoffnung und Vertrauen erfüllte. Nur dadurch konnte die Botschaft Jesu bis heute ihren Weg finden bis an die Enden der Erde.

Und wo stehen wir heute im Echo dieser Botschaft vom Leben? Wofür stehen wir als Zeuginnen und Zeugen ein - nicht nur in Worten sondern auch in Taten? Wer oder was gibt uns Kraft, wenn unsere Kräfte nicht mehr reichen? Von wem lassen wir uns den Weg weisen? Welche Worte können wir sagen, welche Lieder können wir singen? Welchen Menschen können wir vertrauen? Wo erwarten und erhoffen wir uns Gottes Hilfe? Wo starren wir wie gebannt zum Himmel und verlieren das Leben aus den Augen? Oder starren wir eher auf die Erde und verlieren den Blick für die Kraft, die uns von Gott her zuteil wird?

Unseren Weg können wir nur selber gehen - hier auf dieser Erde unter den Menschen, die uns begegnen. Gott gibt uns die Kraft dazu, jeden Morgen neu. Von diesem Vertrauen leben wir. Das genügt. Amen.

Predigt zum Muttertag, 9. Mai über Jes 66,5-14a und Röm 8,26-30

Liebe Gemeinde,
heute ist Muttertag. Vielleicht sind die Mütter unter Ihnen am Morgen schon mit Blumen beschenkt worden oder haben für einmal den Tisch zum Zmorge gedeckt vorgefunden. Hoffentlich haben sie so das eine oder andere Zeichen der Dankbarkeit erfahren. Ich weiss nicht, wie es ihnen mit dem Muttertag geht. Für mich hat er etwas Zwiespältiges: Sicher, die Mütter haben es gewiss verdient, dass ihnen zu Ehren und als Dank ein besonderer Tag gefeiert wird. Gerade weil im Alltag Haus- und Familienarbeit oft allzu selbstverständlich ist und kaum Dank und Anerkennung einbringt, tut es gut, wenn Mütter zumindest an diesem Tag Dank und Anerkennung spüren dürfen.
Aber zwiespältig ist das, weil es eben mit einem Blumenstrauss, einer Einladung zum Mittagessen oder auch einer Sonntagspredigt an diesem besonderen Tag nicht getan ist. Denn wenn nicht etwas von alledem auch im Alltag zu spüren ist, dann bleibt es fade und kommt nicht wirklich von Herzen.
Ich habe deshalb für den heutigen Gottesdienst zwei Bibeltexte ausgesucht, die nicht eigentlich von Müttern handeln, die uns aber mit ihren mütterlichen Bildern ansprechen wollen. In der Schriftlesung aus dem Buch Jesaja heisst es von Gott: "Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet." Auch heute sind wir es noch eher gewohnt, Gott als Vater, Herrn, Allmächtigen anzureden. Gott aber ist auch und vor allem einer der tröstet, der trösten kann wie eine Mutter. Und ich denke besonders Mütter verstehen sehr gut, was dieses Bild bedeutet: das untröstliche Kind in die Arme nehmen, es ganz fest an sich drücken, den Kopf auf der Brust, mit zärtlichen Händen über Haare und Wange streichen, vielleicht ein Liedlein summen oder mit sanften Worten gut zureden, geduldig und behutsam abwarten bis die Tränenflut verebbt und das Kind spürt: es wird wieder gut. Wie oft haben sie, liebe Mütter, das schon getan. Und der Prophet Jesaja sagt uns: genau so ist Gott. Wie eine liebende und tröstende Mutter ist er für uns da und hält uns. Und die heilige Stadt Jerusalem schildert der Prophet im Bild einer Gebärenden und einer Mutter, die ihr Kind säugt. Und das Heil, die Erfüllung schildert er in mütterlichen Bildern: "Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an dem Reichtum ihrer Mutterbrust. Denn so spricht der HERR: Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach. Ihre Kinder sollen auf dem Arme getragen werden, und auf den Knien wird man sie liebkosen."
Ein wunderbares Bild für das Heil, das Gott uns schenkt. Und auch ein wichtiger Hinweis dafür, dass im Tun von Müttern Gott am Werk ist und Heil und Leben schafft. Auf der Weitergabe des Lebens, auf mütterlicher Liebe und Treue ruht Gottes Segen, darin liegt göttliche Kraft. Und ich denke auch wir Männer sollten darauf achten, die mütterlichen Seiten in uns zu entdecken und zu leben. Auch wir können trösten und herzen und liebkosen. Und mit etwas Übung sind wir auch für die ganz praktischen Dinge in Haus und Familie nicht zu ungeschickt.
Aber wenn wir so die mütterlichen Seiten Gottes betonen, uns das Heil in mütterlichen Bildern vor Augen führen und ins Herz legen lassen, dann kann das auch die Mutterrolle glorifizieren. Mütter kennen aber die Schattenseiten sehr gut, angefangen bei der Geburt. Deshalb noch ein zweiter Bibeltext, diesmal aus dem Röm 8,26-30:
26 Desgleichen hilft auch der Geist unsrer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen.
27 Der aber die Herzen erforscht, der weiß, worauf der Sinn des Geistes gerichtet ist; denn er vertritt die Heiligen, wie es Gott gefällt.
28 Wir wissen aber, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem [a ] Ratschluß berufen sind.
29 Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, daß sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes, damit dieser der [a ] Erstgeborene sei unter vielen Brüdern.
30 Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.
Einige Verse vor unserem Textabschnitt schreibt Paulus: Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und in Wehen liegt. Auch hier wieder das Bild der Gebärenden, aber dieses Mal geht es um das Seufzen und Stöhnen, um die Schmerzen der Geburt, um die Lasten und Schmerzen, die zu unserem Leben gehören.
Vom Seufzen und Stöhnen wissen Mütter wohl so manches zu erzählen, wie gesagt, angefangen bei den Schmerzen der Geburt. Am Anfang sind es vielleicht unruhige Nächte, die Unsicherheit, was das Kind braucht. Später dann die Hilflosigkeit, wenn die Kinder trotzen oder wenn sie auf den blanken Nerven herumtanzen. Krankheiten sind vielleicht mit zu durchleiden. Oder all die Schulsorgen, der Kummer und die Nöte des Erwachsenwerdens, die Gefahren, die man überall sieht und vor denen man die Kinder nicht wirklich bewahren kann, der erste Liebeskummer, die Schwierigkeiten, den eigenen Weg zu finden. Ja und - die Älteren wissen das sehr gut – auch wenn die Kinder erwachsen sind, hört das ja nicht auf. Kann man einen Kontakt halten, der beide Seiten bereichert. Und wenn die Ehe der Kinder kriselt und man nicht hineinreden kann und darf und trotzdem mitleidet. Oder sich Sorgen um die Enkel macht. Oder einfach mehr Dankbarkeit oder Zuwendung erhofft und erwartet. Oder selber alt geworden ist und sich einsam fühlt?
Es ist gut, dass die Bibel das Seufzen und Stöhnen nicht unterschlägt, dass die Sorgen und Nöte von uns Menschen und ganz besonders von Müttern darin Platz finden. Vor allem aber, dass der Predigttext aus dem Römerbrief uns eine Kraft verheisst, die unser Seufzen und Stöhnen aufnimmt und vor Gott bringt. Auch wenn wir nicht wissen, was wir beten sollen, wenn wir nicht mehr die richtigen Worte finden, zu müde, zu ratlos sind: der Geist vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen. Dass unser Seufzen an Gottes Ohr dringt, dass wir gar nicht die richtigen Worte finden müssen, sondern manchmal eben unser Seufzen und Stöhnen Gebet genug ist, das kannn trösten und entlasten. Es kommt nicht allein auf uns und unsere Kraft an. Wir dürfen loslassen, dürfen das was unsere Kräfte übersteigt, in die Hände eines anderen legen, der immer schon über uns wacht wie eine Mutter über ihre Kinder. Wir begreifen wohl manchmal nicht, was mit uns geschieht, warum die Dinge so sind, wie sie sind und was daran gut sein soll. Aber "wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten dienen." Mit diesem Vertrauen sollen und dürfen wir leben, die Mütter zuerst, aber auch alle anderen Menschen. Es hängt nicht alles von uns ab. Wir Menschen stossen an Grenzen, wissen nicht mehr weiter, werden aneinander schuldig. Gott aber ist treu und er vergibt, er gibt neue Kraft, schenkt neue Anfänge, bleibt bei uns bis ans Ende unserer Tage und darüber hinaus. Amen.

Samstag, 24. April 2010

Predigt vom 25. April 2010 über 1. Joh 5,1-4

Liebe Gemeinde,

jeder Mensch sehnt sich nach Liebe, nach einer Liebe, die nicht an Bedingungen geknüpft ist, nach einer Liebe, die nicht immer aufs Neue gefährdet ist und nur auf Widerruf gilt. Diese Sehnsucht nach Liebe gehört zu unserem Menschsein. Sie ist eines der grossen Themen der Literatur. Sie ist das Thema unzähliger Lieder - von der Klassik bis zu Schlager und Volkslied. Und zugleich wird diese Sehnsucht in unseren menschlichen Beziehungen immer wieder enttäuscht. Die Liebe, die wir einander geben können, ist verletztlich und zerbrechlich. Bei manchem führen erlebte Enttäuschungen dazu, dass er oder sie den Glauben an die Liebe verliert. Wie aber sollte jemand Liebe geben und Liebe erfahren können, der den Glauben an die Liebe verloren hat? Denn die Sehnsucht nach Liebe verschwindet damit nicht, wir können sie nur unterdrücken oder ignorieren - um den Preis, dass unser Leben ärmer und kälter wird.
Wir spüren also die Sehnsucht nach Liebe, die zu uns gehört und uns menschlich macht und zugleich erfahren wir, dass wir solche Liebe einander nicht geben können. Ja, mehr noch, wir müssen erkennen, dass je mehr wir von einander die Erfüllung unserer Sehnsucht nach Liebe erwarten, wir einander überfordern und die Liebe, die wir suchen, oft gerade gefährden. Denn dann machen wir den anderen für unsere Enttäuschungen verantwortlich, sehen sie als Zeichen, dass der andere uns zuwenig liebt oder aber, dass wir eben nicht liebenswert sind. Doch kaum etwas kann die Liebe stärker gefährden als Vorwürfe und Forderungen nach Liebesbeweisen. Liebe lässt sich nicht einfordern oder erzwingen.
Muss sich dann aber unsere Sehnsucht nach Liebe nicht auf etwas richten, das unsere menschlichen Beziehungen übersteigt? Gibt es einen solchen Ort, ein solches Wesen, eine solche Kraft, wo diese Sehnsucht nach Liebe gestillt wird, wo ich mich wirklich bedingungslos geliebt wissen darf? Die Botschaft der Bibel erwartet diese bedingugnslose Liebe von Gott. Sie sieht sie im Neuen Testament erfüllt in der Liebe und Hingabe Jesu. „Gott ist Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ heisst es im 1. Joh kurz vor unserem Predigttext.
Das ist die Basis für die für manche vielleicht etwas triumphalistisch klingende Behauptung, dass unser Glaube uns die Welt besiegen lässt. Denn dieser Glaube ist nichts anderes als das Vertrauen auf eine bedingungslose Liebe, die uns von allem Anfang an und bis in alle Ewigkeit gilt, auf ein Ja, das all unserem Tun vorausgeht. Die Welt besiegen hat dann weder etwas mit frommer Weltflucht noch mit christlichen Machtansprüchen zu tun, sondern allein damit, dass wir unser Lebensschiff festmachen dürfen in einer Liebe, die uns bedingungslos gilt und die wir mit unseren menschlichen Grenzen weitergeben dürfen. Wenn unser Leben so verankert ist, wird die Liebe derer, die uns wichtig sind nicht weniger kostbar, aber sie ist entlastet davon, meine Existenz, mein Selbstwertgefühl, meinen Lebenssinn allererst begründen zu müssen. Liebe kann dann freier werden von Erwartungen und Ansprüchen. Enttäuschungen stellen dann nicht mehr alles in Frage. Und wer vom anderen nicht alles erwartet, wird freier, dem anderen offen zu begegnen. Glauben heisst: Vertrauen auf Gottes bedingungslose Liebe und loslassen: Erwartungen, Forderungen, Ansprüche. Wer loslassen kann, hat die Welt besiegt und kann sich als freier Mensch auf diese Welt einlassen, auf eine Liebe die menschenmöglich ist, auf Scheitern und Neubeginn, auf dankbar erlebtes Glück und auf den Schmerz unausweichlicher Verletzungen. Wer dieser bedingungslosen Liebe vertraut, kann Liebe geben und Liebe empfangen. Und darin tun wir Gottes Willen.
Wie solche Liebe sich auf unser Leben auswirkt, das können wir nur ausprobieren und das kann jeder und jede für sein eigenes Leben nur selber entdecken. Ich möchte sie deshalb nur mit einigen Fragen einladen, sich auf diesen Entdeckungsweg zu begeben und ihnen jeweils auch die Zeit lassen, ihre eigenen Antworten im Stillen zu geben. Lassen sie sich dabei Zeit und vertrauen sie sich ihren Gedanken und Eingebungen an.

1. Angenommen, sie würden tatsächlich bedingungslos geliebt - was würde sich dadurch in ihrem Leben verändern?
Wen oder was könnten sie dann vielleicht ineinem neuen Licht sehen? Sich selbst oder einen anderen Menschen oder bestimmte Erfahrungen, gegenwärtige oder längst vergangene?

2. Wenn Gottes bedingungslose Liebe sie tatsächlich frei machen würde, Erwartungen und Ansprüche loszulassen - welche Erwartungen und Ansprüche würden sie dann zuerst loslassen? Und wer würde das als erstes merken und woran? Woran würden sie selber erkennen, dass sie loslassen können? Wo und wann ist ihnen das vielleicht schon gelungen?

3. Worin könnte sich in ihrem gegenwärtigen Leben die Liebe zu Gott zeigen? Welchem Menschen möchten sie sich neu zuwenden? Welche Schritte tun sie dabei konkret?


Unser Glaube ist das Vertrauen auf die bedingungslose Liebe Gottes. Er besiegt die Welt, wenn er uns frei macht loszulassen und einander offen und mit Liebe zu begegnen. Solchen Glauben schenke uns Gott, der die Liebe ist. Amen.

Donnerstag, 1. April 2010

Predigt zu 2. Kor 5,18-21 vom Karfreitag, 2. April 2010

Liebe Mitchristen!
Wenn ich an die Karfreitage meiner Kindheit und Jugend zurückdenke, dann beschleichen mich durchaus zwiespältige Gefühle. Der Karfreitag - ein Tag der verordneten Trauer und der Busse und Reue. Im ganzen Dorf wurde dunkle Kleidung getragen. Alles Leben war wie erstorben. Für viele Menschen im Dorf war der Karfreitag offenbar der wichtigste Feiertag im Kirchenjahr. Viele gingen nur am Karfreitag und vielleicht noch am Buss- und Bettag zum Abendmahl. Und dieses Begehen des Karfreitags war beladen mit dem ganzen Gewicht menschlicher Sünde und Schlechtigkeit. Dieses "Sich-schuldig-fühlen-müssen" wurde unterstützt durch die Passionslieder, die sie ja auch alle kennen und die wir zum Teil auch heute in diesem Gottesdienst singen. Sieh an, Mensch, was du angerichtet hast. Wegen deiner Sünde und Bosheit musste Jesus so schrecklich leiden. "Nun, was du Herr erduldet, ist alles meine Last; ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast. Schau her, hier steh ich Armer, der Zorn verdienet hat. Gib mir, o mein Erbarmer, den Anblick deiner Gnad." Wie sollten wir als Kinder diese Logik verstehen? Wofür sollten wir uns so schuldig fühlen? Förderte sie nicht nur ein undefinierbares, unkonkretes schlechtes, verängstigtes Gewissen? Und dann schlich sich manchmal noch dieses fatale Missverständnis ein, Gott selbst habe aus Zorn über die menschliche Sünde das blutige Opfer seines Sohnes gefordert, damit die Missetat gesühnt und sein Zorn besänftigt würde. Wäre das wahr, wie sollten wir dann einem solchen Gott vertrauen? Was hatte dieser schreckliche Gott noch mit dem liebenden Vater Jesu zu tun?
Und doch war da immer auch die andere Seite. Ein tiefverwurzeltes Vertrauen, dass das was da am Kreuz von Golgatha geschehen ist, irgendwie auch für mich, mir zugut geschehen ist. Nicht damit ich mich nun schuldig und zerknirscht fühle, sondern damit ich leben kann.
Etwas von dieser Zwiespältigkeit des Karfreitags ist mir bis heute geblieben. Und sie beschäftigt mich auch beim Nachdenken über den heutigen Predigttext.
Ich lese 2.Kor 5,18-21
Versöhnung - das ist das zentrale Stichwort unseres Predigttextes. Nicht weniger als fünf Mal kommt es in den wenigen Versen dieses Textes vor. Wer wird hier versöhnt? Es ist die Welt, es sind die Menschen. Nicht der Zorn Gottes muss durch ein blutiges Opfer besänftigt werden, sondern unser tödlicher Kreislauf von Hass und Gewalt, von Ausgrenzung und Verdrängung muss durchbrochen werden. Jesus hat seine Botschaft von Gottes Liebe und Menschenfreundlichkeit durchgehalten, er hat an ihr festgehalten und ist damit unter die Räder gekommen. Sie hat ihn das Leben gekostet. Und gerade in diesem Tod des einen, der ohne Schuld war, zeigt sich die ganze Absurdität und Sinnlosigkeit des ewigen Zirkels von Hass, Gewalt und Ausgrenzung, eines Lebens, dass immer wieder Opfer fordert. Der Hauptmann der unter dem Kreuz stand, hat das erkannt und darum festgestellt. Jesus war Gottes Sohn.
Und nun ist er tot. Folgte auf den Karfreitag nicht der Ostermorgen, so wäre dies das tragische Ende eines vorbildlichen Lebens. Die Sinnlosigkeit des Kreislaufs von Hass und Gewalt wäre zwar offenbar geworden, aber doch auch in ihrer Macht bestätigt. In Jesu Worten am Kreuz: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen" leuchtet diese schreckliche Möglichkeit auf. Aber Gott hat Jesus nicht dem Tod überlassen. Der tödliche Kreislauf ist nicht nur offenbar geworden, er ist auch durchbrochen. Das Leben ist stärker als der Tod.
Hass und Gewalt, Leid und Tod sind nicht beendet, aber sie sind durchbrochen. Paulus schreibt: "Gott versöhnte in Christus die Welt mit sich selbst, indem er ihnen ihre Übertretungen nicht anrechnete und in uns das Wort der Versöhnung legte." Und: "Er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit Gottes würden." Wenn Gott unsere Übertretungen nicht anrechnet, dann entsteht Raum zur Versöhnung - zur Versöhnung zwischen mir und Gott, zwischen mir und mir und zwischen mir und den Mitmenschen.
Schuld und Versagen trennen uns nicht mehr von Gott. Es geht nicht um ein allgemeines schlechtes Gewissen, darum dass wir uns alle als arme kleine Sünder fühlen müssten. Nein, es geht um konkrete Schuld, um je meine Schuld. Es gibt Situationen im Leben, da tun sich vor einem Menschen vielleicht Abgründe auf. Das Wort der Versöhnung, dass Gott uns unsere Übertretungen nicht anrechnet, kann einem Menschen die Kraft geben, in diese Abgründe zu blicken, sie nicht länger zu verdrängen, aber sich auch nicht so von ihnen gefangennehmen zu lassen, dass jede Hoffnung und Zukunftsperspektive verloren geht. Wer darauf vertrauen kann, dass Gott sich mit ihm oder ihr versöhnt hat, der braucht die Augen vor seinen eigenen Schattenseiten nicht mehr zu verschliessen und das setzt neue Energien und Kräfte frei und befreit uns von dem Zwang, unsere eigenen Schattenseiten auf andere zu projezieren. Diese Erfahrung hat Paulus am eigenen Leibe gemacht. Er, der die Christengemeinde verfolgte, musste plötzlich erkennen, dass dieser Weg ein schrecklicher Irrweg gewesen war. Mit einem Mal stand er vor den Trümmern seines Lebens. Das Wort der Versöhnung gab ihm die Kraft, in diesen Abgrund seines Lebens zu blicken und nicht zu verzweifeln, sondern auf Zukunft hin zu leben und sich in den Dienst der Versöhnung zu stellen. Er hat erkannt, dass er das Recht hat, ein anderer zu werden, trotz seiner bisherigen Lebensgeschichte. Wer Versöhnung als Befreiung von Schuld erlebt, der kann mit sich selber ins Reine kommen und auch anderen offener und versöhnlicher begegnen.
Aber auf Versöhnung mit Gott und mit uns selbst sind wir auch angewiesen, wenn unser Leben von Leid und Schmerz verdunkelt wird. Nicht nur Schuld kann uns von Gott und vom Leben abschneiden. Auch schwere Schicksalsschläge, Depressionen, Niedergeschlagenheit können uns unsere Lebenskraft rauben. Wie ist Versöhnung mit dem eigenen Lebensschicksal möglich, wenn jemand in seinem Schicksal einfach keinen Sinn mehr sehen kann? Und wenn auch der Trost, dass doch alles irgendwie einen Sinn haben muss, nichts mehr nützt, weil man diesen Sinn nicht einsehen kann? Gibt es nicht auch einfach sinnloses Leiden? Im Dunkel des eigenen Lebens kann es eine Hilfe sein, das Leiden und Sterben Jesu zu bedenken, an seinen Klageschrei am Kreuz zu denken: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen." Und daran zu denken, dass Gott diesen Jesus am Ostermorgen aus dieser Gottverlassenheit, aus dem Tode herausgerissen hat. Vielleicht wird es einem Leidgeplagten so möglich, sein eigenes hartes Lebensschicksal anzunehmen und nicht zu verzweifeln.
Wenn wir aus der Kraft der Versöhnung leben, uns mit unseren eigenen Schattenseiten akzeptieren und unser eigenes Lebensschicksal annehmen können, dann können wir auch unseren Mitmenschen versöhnlicher begegnen. Wir brauchen sie nicht mehr auf ihre Fehler und Schattenseiten festlegen und können ihnen Raum gewähren, sich zu verändern. Versöhnung kann beginnen, wo ich nicht mehr zuerst von dem anderen fordere, dass er sich ändern sollte, sondern ihn oder sie spüren lasse: ich möchte den Weg gemeinsam mit dir gehen und ich möchte meinen Teil dazu beitragen, dass wir den Weg gemeinsam gehen können.
Wenn Christen aus der Kraft der Versöhnung leben, dann können sie auch dazu beitragen, dass gesellschaftliche und politische Konflikte friedlich und ohne Gewalt ausgetragen werden. Gott will keine Opfer. Gott will Versöhnung und Gerechtigkeit. Und Paulus bittet uns an Christi Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott, tretet ein in den Dienst der Versöhnung und werdet selbst zu einer Kraft der Versöhnung an den Orten und in den Beziehungen, in denen ihr lebt.
Trauer und Schmerz gehören zum Karfreitag, Trauer und Schmerz über das Leiden Jesu, Trauer und Schmerz über all den Hass und die Gewalt, über all die Unversöhntheit und Unversöhnlichkeit in unserer Welt. Aber zum Karfreitag gehört auch der Ausblick auf Ostern, die Zuversicht, dass das Leben stärker ist als der Tod. Das Wort der Versöhnung ist unter uns aufgerichtet. Es kann Raum gewinnen, wenn wir den Dienst der Versöhnung übernehmen als Menschen, die darum wissen, dass Gott zu ihnen steht mit allen ihren Fehlern und Schwächen und sich mit ihnen versöhnt hat.
Wenn wir am Karfreitag das Leiden und Sterben Jesu bedenken, dann brauchen wir nicht geknickt und zerbrochen dazustehen. Wir dürfen erkennen, dass das was da geschehen ist, uns zugute geschehen ist. Und wir dürfen bitten mit den Worten des Passionsliedes "O Haupt voll Blut und Wunden": "Erkenne mich mein Hüter; mein Hirte nimm mich an. Von dir Quell aller Güter ist mir viel Guts getan: dein Mund hat mich gelabet, dein Wort hat mich gespeist, und reich hat mich begabet mit Himmelslust dein Geist." Amen.

Samstag, 13. März 2010

Predigt zu Jes 42,10-17 vom 14. März 2010

Liebe Gemeinde,

die Bibel ist ein vielstimmiger Chor. Die Geschichte Jesu wird uns vierfach erzählt. In den Briefen des Paulus und seiner Schüler, in den Johannes- und Petrusbriefen werden Glaubenserfahrungen und Glaubenserkenntnisse zumindest unterschiedlich akzentuiert. Noch stärker gilt dies für das Erste Testament. Gerade das Jesajabuch enthält viele unterschiedliche Stimmen. Und doch bilden diese verschiedenen Stimmen eine Gemeinschaft im Glauben, eine Gemeinschaft, zu der auch wir gehören, in die wir unsere eigenen Stimmen und Erfahrungen einbringen dürfen und von den Stimmen der anderen lernen können.

Die Kap. 40-55 des Jesajabuchs führen uns in die Zeit des babylonischen Exils. Die Zerstörung des Tempels im Jahr 587 v.Chr. und die Deportation der Bevölkerung nach Babylon, der Verlust der Heimat und des zentralen Heiligtums waren die grösste Katastrophe in der damaligen Geschichte Israels. Fast ein halbes Jahrhundert dauerte dieses Exil. Als wir vor 9 Tagen den Weltgebetstag hier gefeiert haben, da haben nach der Feier einige Jugendliche aus der Musikgruppe noch den bekannten Pophit „By the rivers of babylon“ gesungen. Viele wissen gar nicht mehr, dass dieses Lied die Worte des 137. Psalms aufnimmt: „An den Strömen Babels, da sassen wir und weinten, als wir an Zion dachten.“ Der Verlust der Heimat und ein halbes Jahrhundert im Exil - da tauchen Fragen auf, Fragen nach Gott, ob er sein Volk vergessen hat, ob vielleicht die Götter Babylons doch mächtiger sind, ob dieser Gott überhaupt vertrauenswürdig ist oder ob es nicht besser ist, diesen Glauben abzulegen, sich an die scheinbar so mächtigen Götter der Babylonier zu halten.

Den alten Glauben ablegen, sich mit den Verhältnissen arrangieren und das Beste daraus machen, sich mit den Mächtigen nicht anlegen - das ist zumindest eine Option. An den Ufern von Babylon zu sitzen und zu weinen um die verlorene Heimat, über das Schicksal zu klagen ist nicht unbedingt die bessere Option. Das ist vermutlich die Stimmung in die hinein der Prophet spricht. Er sagt den Leuten: sich abfinden und arrangieren oder ständig nur jammern und weinen, das ist nicht die Alternative. Es kommt darauf an, dass wir an unserem Glauben und an der Hoffnung festhalten. Dazu brauchen wir die Bilder eines guten und gelingenden Lebens. Wir müssen die blühenden und fruchtbaren Landschaften vor unserem inneren Auge schon sehen können. Und gerade darin hat das Buch des Exilspropheten eine ungeheure Kraft, einen faszinierenden Reichtum. Mit seinen Worten zeichnet er wunderbare Bilder von Wüsten, die sich in fruchtbares Land verwandeln, von gangbaren Wegen durch die Wüste und scheinbar unüberwindlichen Bergen, die eingeebnet werden. Es ist eine Sprache der Hoffnung, die das Neue schon sieht, auch wenn es noch nicht da ist, die sich eine gute Zukunft auszumalen vermag, trotz aller bitteren Erfahrungen und daraus Kraft und Vertrauen schöpft. Denn er vermag daran festzuhalten und zu glauben: „Das geknickte Rohr zerbricht er nicht, und den verglimmenden Docht löscht er nicht aus.“

Bilder des Neuen braucht es - und auch neue Lieder. „Singt dem Herrn ein neues Lied, heisst es zu Beginn unseres Predigttextes.“ Das ist die Sprache der Psalmen und ihr Ort ist der Gottesdienst. Die Klage über das Schicksal des Exils hat sehr wohl ihren Ort und ihre Berechtigung im Gottesdienst der Gemeinde. Aber es kommt darauf an, Gott auch neue Lieder zu singen, denn diese neuen Lieder halten die Hoffnung in uns wach, sie helfen uns, uns nicht in den Sorgen und Problemen zu vergraben, sondern an der Hoffnung festzuhalten, Gott zuzutrauen, dass er Neues schaffen kann und uns neue Wege und Lebensmöglichkeiten eröffnet.

In dieses neue Lied soll nicht nur die Gottesdienstgemeinde einstimmen. Es soll ein einladendes Lied sein, das sich ausbreitet bis an die Enden der Erde und die ganze Schöpfung umfasst. Nichts und niemand soll von diesem neuen Lied der Hoffnung ausgeschlossen bleiben. Wir können uns fragen, ob es hilfreich ist, dass in diesem neuen Lied Gott als Kriegsherr erscheint, der Kampfeslust weckt, den Schlachtruf anstimmt und Feldgeschrei ausstösst. Es ist gut, wenn wir mit solchen Bildern heute zurückhaltender sind, gerade wenn wir bedenken, wieviel Kriegsgeschrei und Leid in unserer Welt schon religiös verbrämt und legitimiert worden ist. Aber welche anderen Bilder hatte der Prophet zur Verfügung, um seinem Volk, das gedemütigt war von der Erfahrung überlegener militärischer Macht, die Hoffnung zurückzugeben, dass sein Gott dieser so beeindruckenden und einschüchternden Macht letztlich überlegen ist? Auf jeden Fall zeigt dieses Bild, mit welcher Leidenschaft Gott für sein Volk eintritt.

Wie haben die Leute wohl reagiert? Ein schönes neues Lied, das du uns da anstimmst, wunderbare Bilder sind das - aber warum sollten wir ihnen Glauben schenken? Vielleicht sind das ja nur schöne Worte, aber wir halten uns besser an die Tatsachen. Man darf sich keine Illusionen machen. Schön reden kann jeder, aber wer seine Augen offenhält, der sieht etwas anderes. Gründe zur Hoffnung sehen wir da nicht sehr viele. Und wenn Gott so stark und mächtig ist, warum lässt er uns dann so lange im Exil schmoren? Warum hat er uns dann nicht schon längst geholfen?

Darauf antwortet der Prophet im 2. Teil unseres Predigttextes. Ja, wir können uns den Predigttext als Gespräch vorstellen, bei dem er zuerst die Leute auffordert, ein neues Lied zu singen, ein Lied der Hoffnung statt zu jammern und zu klagen oder sich mit den Verhältnissen zu arrangieren. Und dann kommen die Einwände und er antwortet darauf, indem er Gott selbst zu den Leuten reden lässt: „Lange bin ich still gewesen, habe ich geschwiegen, habe ich mich zurückgehalten, wie die Gebärende werde ich nun schreien, werde so sehr schnauben, dass ich um Luft ringen muss.“ Ja, Gott hat lange geschwiegen und hat sich verborgen. Eine Erklärung dafür gibt er nicht. So wie auch Hiob letztlich keine Antwort auf die Frage nach dem Warum seines Leidens bekommen hat, so wie auch wir in dunklen Zeiten ohne Antwort bleiben auf die Frage nach dem Warum. Das Bild der Gebärenden verstehe ich so, dass auch bei Gott alles seine Zeit hat, alles seine Zeit des Reifens und des Wachsens braucht. Und dass die Geburt von neuem Leben mit Schmerzen verbunden ist und mit Zeiten, in denen wir nur den Schmerz spüren und das Neue noch nicht da ist und wir nicht einmal wissen, wie es aussehen wird und ob es leben wird und ob wir damit glücklich oder überfordert sein werden.

Gott vergleicht sich hier mit einer Gebärenden. Solche Bilder sind auch dazu geeignet, unser oft männlich geprägtes Gottesbild zu relativieren. Vor allem aber zeigt uns der Prophet auch hier einen empfindsamen, lebendigen und leidenschaftlichen Gott. Unser Gott ist kein blindes Schicksal, kein unbewegter Beweger, der im Himmel thront. Es ist ein leidenschaftlicher Gott, der unter Schmerzen Neues schafft, mitleidet, Anteil nimmt. Auf den ersten Blick irritierend ist es vielleicht, dass Gottes Gebären nun zuerst so beschrieben wird, dass sich fruchtbares Land in Wüste verwandelt. Auf den zweiten Blick aber sehen wir, dass diese Worte beinahe spiegelbildlich formuliert sind zu der Verheissung an das Volk in Kap. 41,18-20: „Auf kahlen Höhen lasse ich Flüsse entspringen und in Tälern Quellen, die Wüste mache ich zum Schilfteich und das trockene Land zu Wasserquellen. In die Wüste bringe ich Zedern, Akazien, Myrten und Ölbäume, in der Steppe setze ich Wacholder, Ulmen und Zypressen dazu, damit sie sehen und erkennen, es aufnehmen und auch einsehen, dass die Hand des HERRN dies getan und dass der Heilige Israels es geschaffen hat.“ Wenn Gott Neues schafft, dann können Wüsten sich in fruchtbares Land verwandeln, an dem alle ihren gerechten Anteil haben. Für die Mächtigen und die, die vom Unrecht profitieren aber kann dies bedeuten, dass ihre Quellen versiegen und ihre blühenden Landschaften als die Wüsten erkennbar werden, die sie eigentlich sind. Für die aber, die vorher im Dunkel waren, wird es hell. Für sie eröffnen sich neue Wege und ebene Pfade, neue Lebensmöglichkeiten.

Hat der Prophet die Menschen überzeugen können? Bestimmt nicht alle, aber in einigen hat er neuen Lebensmut und neue Hoffnung geweckt und manche haben sich wohl an seine Worte erinnert als die Zeit des Exils zu Ende ging. Und wir? Bleibt uns nicht doch der Verdacht, all diese schönen Worte und Bilder könnten letztlich eine Illusion sein? Wie unterscheidet man Illusionen von kraftvollen und vertrauenswürdigen Hoffnungen, Gott von den falschen Göttern? Eine klare und einfache Antwort gibt es nicht. Es bleibt uns nichts anderes, als Vertrauen zu wagen, ohne schon konkret zu wissen, was dabei genau herauskommt. Aber wir wissen auch, dass wir ohne Hoffnung ärmer sind. Was brauchen wir, damit unsere Hoffnung trägt? Ich denke, als erstes Geduld. Es gibt Zeiten, in denen sich Gott verbirgt, wo wir seine Gegenwart nicht spürbar erfahren und wir wissen nicht wie lange sie dauern und wie es danach sein wird. Beharrlichkeit brauchen wir, um an der Hoffnung festzuhalten, aber auch die Offenheit, dass das gute Neue vielleicht ganz anders aussieht, als wir es uns ausgemalt haben. Und die Fähigkeit brauchen wir, schon im Dunkel neue Lieder zu singen und neue Bilder zu sehen, nicht in dem Belastenden und Bedrückenden unterzugehen, sondern bereit sein zum Aufbruch, wenn es an der Zeit ist.

Wie unterscheiden wir Hoffnungen von Illusionen? Vielleicht hilft es, auf die Stimme des Herzens zu hören und das Loben nicht zu vergessen, auch wenn wir im Moment keinen Grund dazu sehen. Vor allem aber glaube ich, dass es einen wichtigen Unterschied gibt: Illusionen gaukeln uns das Glück vor, das keinen Preis hat. So versprach bei der Wende der deutsche Kanzler Kohl den Menschen in Ostdeutschland „blühende Landschaften“, eine Formulierung, die durchaus an den Propheten erinnert. Aber er unterschlug, dass dazu grosse Anstrengungen und solidarisches Teilen nötig sind. Hoffnungen unterscheiden sich von Illusionen dadurch, dass sie uns in Bewegung bringen und wir uns dafür einsetzen mit Geduld und Beharrlichkeit und sie nicht mit dem Schlaraffenland verwechseln, das unverhofft über uns hereinbricht. Hoffnungen verbinden Menschen und sind nicht einfach egoistisch. Hoffnungen machen uns offen, uns beschenken zu lassen und nicht fordernd.

Glaube und Hoffnung sind Geschwister - so wie wir in der Schriftlesung aus dem Hebr gehört haben: „Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.“ Wir glauben in dieser Welt, aber über diese Welt hinaus. Wir glauben, dass es mehr gibt als das, was vor Augen ist. Wir vertrauen der Kraft Gottes, die in den Schwachen mächtig ist und uns mit einer Hoffnung erfüllt, die uns jetzt schon ein neues Lied anstimmen lässt. Amen.

Samstag, 27. Februar 2010

Predigt zu Röm 5,1-5 vom 28. Februar 2010

Liebe Gemeinde,

unser heutiger Predigttext ist zuerst einmal eine Friedenserklärung – eine Friedenserklärung Gottes an uns Menschen. „Sind wir nun aus Glauben gerecht gesprochen, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus.“ Aber - so fragen sie sich vielleicht – brauchen wir das überhaupt? Haben wir denn mit Gott Krieg oder Streit? Oder darf man so eine Frage schon gar nicht erst stellen, wenn es um den lieben Gott geht?

Für Martin Luther und die anderen Reformatoren waren dieser Text und der gesamte Römerbrief entscheidend für ihre Glaubensgewissheit. Als Menschen des ausgehenden Mittelalters war eine ihrer zentralen Lebens- und Glaubensfragen, wie denn ein Mensch überhaupt vor Gott bestehen könne. Werden wir denn nicht alle in unserem Leben immer wieder schuldig, machen Fehler, tun einander Unrecht, erfüllen Gottes Willen nicht? Die Angst vor dem jenseitigen Gericht prägte die Menschen jener Zeit. Und sie wurde umso bedrängender, wenn man wie Luther zu zweifeln begann, ob Ablasszahlungen, Bussleistungen, kirchliche Rituale oder die Fürsprache der Heiligen wirklich der geeignete Weg sind, Gott gnädig zu stimmen. Wer wie Luther an der kirchlichen Gnadenwirtschaft zweifelte, für den wurde die Frage umso bedrängender: Wie bekomme ich denn einen gnädigen Gott? Und gerade deshalb hatte diese Friedenserklärung Gottes an uns Menschen, die wir hier im Römerbrief lesen, für Luther eine so grosse Bedeutung, eine ungeheuer befreiende Wirkung: wir müssen Gott gar nicht gnädig stimmen, er hat uns längst schon den Frieden erklärt. Das einzige, was wir tun müssen, ist, dieses Friedensangebot annehmen. Es ist für uns heute nur noch schwer vorzustellen, welche Ängste im ausgehenden Mittelalter von einem Menschen abfallen konnten, wenn er diesem Friedensangebot Gottes traute und sich die reformatorische Entdeckung zu eigen machte, dass es gar nicht auf unsere Leistungen ankommt, wir Gott gar nicht besänftigen und gnädig stimmen müssen. Welch ein Aufatmen! Wer nicht ständig in Angst leben muss, der kann sich auf das Leben einlassen, etwas schaffen und gestalten, der darf Fehler machen und ist trotzdem nicht abgeschrieben, der kann Entscheidungen treffen ohne Angst, der kann auch neue Wege gehen. Diese Entdeckung befreite von einer lähmenden Lebensangst und von klerikaler Bevormundung. Und mehr noch: wer nicht ständig um sein Seelenheil fürchten musste, der konnte sich getroster und freier dem Leben hier und jetzt zuwenden. Damit hängt auch die Aufwertung des weltlichen Berufs und der häuslichen Arbeit durch die Reformatoren zusammen.

Aber nun soll die Predigt ja nicht zu einem Vortrag über reformatorische Theologie werden, so wichtig und hilfreich es ist, sich diese Entdeckungen der Reformatoren in Erinnerung zu rufen. Wir leben heute in einer anderen Welt. Die meisten von uns fürchten sich nicht mehr oder zumindest nicht zuerst vor einem jenseitigen Gericht. Und klerikale Bevormundung ist auch nicht unser wichtigstes Problem. Was bedeutet das Friedensangebot Gottes also für uns heute? Unsere Lebensangst ist nicht mehr die gleiche wie zu Zeiten des Paulus oder zu Zeiten Luthers. Aber eine grundlegende, vielleicht diffuse Lebensangst kennen auch wir, die Angst davor, nicht zu genügen, etwas zu verpassen. Wir sorgen uns, welches Bild wir abgeben, was die anderen von uns denken. Wir fürchten uns, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein, an Aufgaben oder in Beziehungen zu scheitern. Wir fürchten uns vor Krankheiten oder Schicksalsschlägen. Haben diese Ängste etwas mit unserem Predigttext, haben sie etwas mit dem lieben Gott zu tun?

Nehmen wir doch einmal an, das wichtigste in unserem Leben wäre nicht unser Wohlstand, nicht unsere gesellschaftliche Stellung oder unser Ruf, auch nicht unser Beruf oder unsere Klugheit, ja nicht einmal unsere Familie oder die Gesundheit. Nehmen wir einmal an, das Wichtigste und alles Entscheidende in unserem Leben wäre unser Verhältnis zu Gott. Und Gott nun würde uns den Frieden erklären. Er würde uns sagen: egal wie du bist, egal was dir geschieht, egal was noch kommen mag – ich sage ja zu dir. Daran kann nichts und niemand etwas ändern. Ich stehe zu dir – immer und ewig. Ich verspreche dir nicht, dass dir alles gelingt, dass du nie Angst haben musst, dass dir Sorgen und Rückschläge erspart bleiben. Aber ich verspreche dir, dass ich immer und unter allen Umständen zu dir stehen werde. Nehmen wir einmal an, das wäre so. Wie würde sich das auf unser Leben auswirken? Was würde sich für uns verändern?

Wir müssten weniger Angst davor haben, nicht zu genügen. Denn es ist genug, wenn wir das unsere tun, das, was wir können. Mehr kann niemand von uns verlangen. Das reicht. Wir müssen uns nicht mehr messen an irgendwelchen Massstäben, die uns überfordern. Und gerade wenn wir frei werden von dieser Angst, können wir immer wieder auch über uns hinauswachsen. Auch die Angst etwas zu verpassen können wir dann verlieren. Denn das Leben wird ja nicht erst dann gut und kostbar, wenn ich ja keine Gelegenheit ungenutzt verstreichen lasse, ja nichts verpasse, sondern achtsam bin für das, was mir begegnet, für die Menschen und die alltäglichen Dinge in meinem Leben. All dies wird kostbar dadurch, dass ich es beachte und ihm Wert und Wertschätzung gebe. Nicht was man für wertvoll und kostbar hält, gibt meinem Leben Sinn und Erfüllung, sondern nur das, von dem ich mich erfüllen lasse. Und um achtsam zu werden und sich an den alltäglichen Dingen des Lebens freuen zu können, braucht es eine innere Ruhe und Gelassenheit, die uns zuteil werden kann, wenn wir glauben können, dass wir Frieden mit Gott haben und uns den nicht erst verdienen müssen.

Wenn dieses Ja Gottes, diese Friedenserklärung das Entscheidende in unserem Leben wäre, dann wäre es auch nicht mehr so ungeheuer wichtig, was andere über uns denken, müssten wir nicht so sehr um unser Image besorgt sein. Wie viel mehr Zivilcourage, wie viel mehr an Kreativität und Vielfalt könnten wir uns erlauben, wenn wir uns nicht ganz so stark vom Urteil anderer abhängig machen würden – und oft nur vom vermuteten Urteil anderer.

Ja selbst mit dem Scheitern an beruflichen Herausforderungen oder in Beziehungen können wir dann leben lernen ohne daran zu verzweifeln, wenn wir darauf vertrauen, dass nichts und niemand das letzte Wort über uns hat ausser Gott – und der sagt bedingungslos Ja zu uns. Und noch in Krankheit und Tod dürfen wir dann glauben, dass eine hilfreiche Hand uns hält und uns hindurchführt. Wir müssten dann nicht alles von diesem Leben erwarten, weil wir glauben dürfen, dass auch am Ende der Friede Gottes uns erwartet.

Nehmen Sie das einmal an – habe ich sie vorhin gebeten. Wie sieht das Leben aus, wenn wir es unter dieser Voraussetzung betrachten, dass das Entscheidende in unserem Leben unser Verhältnis zu Gott ist und dass der bedingungslos Ja zu uns sagt. Ist es nicht eine einladende, eine befreiende Perspektive? Ob wir sie uns zu Eigen machen können? Ob wir sie uns zu Eigen machen wollen? Solches Vertrauen könnte jedenfalls zum ruhenden Pol in unserem Leben werden, uns innere Ruhe und inneren Frieden geben. Und diese innere Ruhe, diesen inneren Frieden wünsche ich uns allen. Dass solche Gelassenheit nicht einfach ein für allemal da ist, das weiss auch Paulus. Er weiss um die Bedrängnis, um die Gefährdung unserer Glaubensgewissheit. Wir sind nicht einfach frei von unseren Lebensängsten. Wir stehen nicht einfach über den Dingen. Aber er ist überzeugt, dass Bedrängnis uns die nötige Ausdauer lehrt. Und wenn wir geduldig und ausdauernd an unserem Vertrauen auf Gottes Ja, auf sein Frieden festhalten, dann erwächst uns daraus eine starke Hoffnung. Und diese Hoffnung wird uns nicht enttäuschen. Amen.

Sonntag, 7. Februar 2010

7. Februar 2010

Predigt zu 5. Mose 6,4-9

Liebe Gemeinde,
es war einmal ein Mensch, dem der Glaube am Herzen lag, der sich um einen ehrlichen Glauben bemühte und viel über Glaubensfragen nachdachte. Als er die Worte aus dem 5. Buch Mose las, beschäftigten sie ihn sehr. Denn genau das wollte er ja: Hören auf das, was Gott ihm zu sagen hatte, Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit seiner ganzen Kraft und seinen Glauben weitergeben an seine Kinder. Aber er hatte auch viele Fragen: Was war gemeint mit diesem „Höre Israel“ und wie konnte er richtig hören? Kann man wirklich so absolut sagen: „Der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr“? Und auf welche Weise sollte er nun den Glauben an seine Kinder weitergeben, zumal er doch selbst so viele offene Fragen hatte?

So suchte er einen Lehrer des Glaubens auf. Dieser hatte den Ruf eines frommen Mannes von tiefer Glaubensgewissheit. Diesen fragte er: Was bedeutet das „Höre Israel“ für meinen christlichen Glauben? Der Lehrer antwortete ihm: Höre Israel heisst es, weil der Glaube vom Hören kommt. Nur wer bereit ist zu hören, nur wer seine Ohren und sein Herz öffnet, ist bereit für das Geschenk des Glaubens. Nur in ihm kann Glaubensgewissheit Wurzel schlagen. Wer immer schon über alles Bescheid weiss und andere belehren will, der ist nicht auf dem Weg des Glaubens. Hören sollen wir auf den einen Gott, der uns im Wort der Schrift begegnet. Der erste und wichtigste Schritt zum Hören ist, dass wir im Wort der Bibel lesen und versuchen seinen Geist zu erfassen. Ich meine damit keine blinde Wortgläubigkeit. Einzelne Stellen können uns durchaus unklar sein und sich erst durch andere und den Zusammenhang des Ganzen erschliessen. Aber je länger und tiefer wir uns mit der Bibel beschäftigen, desto mehr wird sich uns die Klarheit der Schrift erschliessen, wird Gott selbst uns die Klarheit der Schrift erschliessen. Aus dem Hören folgt der Gehorsam gegenüber Gottes Wort, das aufrichtige Bemühen, seinem Willen entsprechend zu leben. Denn Gott ist einzig und so unendlich viel grösser als wir, dass wir nicht das Recht haben, uns mit unserer Vernunft über ihn zu stellen. Wir sollen uns durch die Bibel in Frage stellen lassen und nicht in erster Linie die Bibel in Frage stellen. Gott ist ein Geheimnis, das wir letztlich nicht ergründen können. Darum sind wir in unserem Glauben immer wieder voller Fragen und selbst der tiefste Glaube erfasst das Geheimnis Gottes nicht ganz. Darum müssen wir immer wieder neu auf das Wort der Schrift hören und auf das, was uns andere Christinnen und Christen zu sagen haben.
„Aber“, so fragte der Ratsuchende zurück, „wie können wir denn behaupten, dass unser Gott der einzige Gott ist, wo es doch so viele Religionen und Gottesvorstellungen auf unserer Welt gibt? Und müssen wir dann die anderen von unserem Gott und unseren Gottesvorstellungen überzeugen?“ „Nicht von unseren Gottesvorstellungen sollen wir die anderen überzeugen, ja nicht einmal von unserem Gott sollen wir andere überzeugen – zumindest nicht in dem Sinne, dass wir sie zu etwas überreden. Aber wir sollen unseren Glauben glaubwürdig und ohne Scheu leben - in der Hoffnung, dass Gott durch seinen Geist den Glauben in anderen Menschen wirkt. Dass es nur einen Gott gibt, steht in der Bibel. Nach dem Zeugnis des Neuen Testaments begegnet er uns in Jesus Christus. Er allein ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Aber Vorsicht, unser Gott ist ein Gott des Friedens und der Liebe. Es war ein furchtbarer Irrweg in der Geschichte unseres christlichen Glaubens, den Glauben mit den Mitteln der Macht oder gar des Schwertes ausbreiten zu wollen. Denn dadurch ist nur Gewalt und Unterwerfung entstanden, aber nicht Glaube, der von Herzen kommt. Wo Menschen sich nicht zum Glauben einladen lassen, sollen wir dies respektieren und sie nicht bedrängen, aber die Einladung sind wir ihnen schuldig. Warum es die anderen Religionen und den Unglauben gibt, bleibt für uns Menschen letztlich ein unergründliches Geheimnis Gottes. Wir können nur freimütig unseren Glauben bekennen.
„Aber wie kann ich meinen Glauben meinen Kindern weitergeben?“, fragte der Ratsuchende weiter. „Indem wir ihnen unseren Glauben vorleben und davon reden. Wir können mit ihnen beten, wenn wir uns an den Tisch setzen oder wenn wir sie zu Bett bringen. Auch die biblischen Geschichten können wir ihnen erzählen, denn sie sind ein kostbarer Glaubensschatz. Wenn die Kinder älter werden und Fragen stellen, können wir ehrliche Antworten geben und uns der Diskussion von Glaubensfragen stellen. Dabei dürfen wir ruhig auch eingestehen, dass wir auf viele Fragen keine Antworten wissen. Aber wir sollten sie mitnehmen zum Gottesdienst, sie ermutigen zum Lesen der Bibel und das Gespräch nicht abbrechen lassen. Auf Zwang sollten wir dabei verzichten, aber Beharrlichkeit ist kein Fehler. Vom Ziel, sie zum Glauben zu führen, sollten wir uns nicht abbringen lassen, aber wir sollten auch akzeptieren, dass ihr Glaube vielleicht andere Ausdrucksformen findet als die, die wir gewohnt sind und ihnen dafür Raum lassen.

Der Ratsuchende fand all dies höchst bedenkenswert, aber er fragte sich, ob er sich die Glaubensgewissheit dieses Lehrers zu eigen machen könne oder wolle. Und es blieb auch eine Unruhe in ihm, weil ihm der Absolutheitsanspruch dieses Glaubens Mühe machte und er sich fragte, ob die Quellen des Glaubens nicht vielfältiger und weiter seien als das Wort der Bibel. Also suchte er eine Lehrerin des Glaubens auf, die den Ruf einer offenen, liberalen Ratgeberin hatte. Auch von ihr wollte er wissen, wie er das „Höre Israel“ zu verstehen habe. „Wir Menschen“, erhielt er zur Antwort, „neigen dazu, uns Meinungen und Konzepte zurechtzulegen, mit denen wir uns die Welt erklären. Und wenn wir uns unser Weltbild einmal zurechtgelegt haben, dann nehmen wir das, was nicht in unser Weltbild passt, gar nicht mehr wahr oder verdrängen es. Wir meinen, die Welt müsste so sein, wie wir sie uns vorstellen und sie müsste für alle anderen ebenso sein, sonst sind sie im Irrtum. Das gilt auch für unsere frommen und religiösen Weltbilder. „Höre Israel“ ist eine Aufforderung an das biblische Gottesvolk und an uns, die wir durch Jesus zum Gottesvolk hinzugekommen sind, uns ständig neu einzuüben ins Hören. Hören heisst, die Dinge nicht einfach unserem Weltbild anzupassen, sondern aufmerksam und offen wahrzunehmen, was uns begegnet, empfindlich und empfindsam zu bleiben, berührbar und bereit, uns verändern zu lassen. Wenn der Glaube aus dem Hören kommt, dann ist damit gewiss auch und besonders das Hören auf die Bibel gemeint. Sie ist für uns Christinnen und Christen eine kostbare Glaubensquelle. Aber heisst es nicht in der Bibel, dass der Buchstabe tötet, der Geist aber lebendig macht. Zum Hören gehört immer auch die Frage, ob das Gehörte dem Leben dient und Frieden schafft. Nicht um Gehorsam geht es, sondern um ein Hören, das im Herzen Liebe weckt. Und es sind genauso die Erfahrungen, die wir in der Natur, die ja Gottes Schöpfung ist, machen, die uns zum Hören führen können oder menschliche Begegnungen, die Schätze der Kunst und der Literatur und auch der Reichtum der Religionen. Es gibt ja kein objektives Hören. Jedes Hören verknüpft das Gehörte mit unseren mitgebrachten Erfahrungen, Gefühlen und anderen Sinneseindrücken und so hören wir dasselbe oft sehr unterschiedlich. Glauben habe ich immer nur als je meinen Glauben. Ich kann ihn niemals zum Massstab des Glaubens der anderen machen.
„Heisst das denn“, fragte der Ratsuchende zurück, „dass die Bibel nicht die alleinige Quelle des Glaubens ist und der christliche Gott nicht der einzige Gott?“ „Ich bin zutiefst überzeugt, dass es keine Quellen des Glaubens gibt, die dem Geist der Bibel widersprechen, aber ich denke, dass die Bibel nicht unsere einzige Quelle ist. Auch die anderen Religionen bemühen sich um einen Weg zu Gott, wollen sich dem Geheimnis Gottes auf menschliche Weise annähern. Könnte es nicht sein, dass wir an einen Gott glauben, dessen Geheimnis sich die Religionen auf höchst unvollkommene Weise annähern? Aber wir können und sollen nicht mehrere Wege gleichzeitig gehen. Als Christinnen und Christen sind uns das Leben und Sterben und die Auferstehung Jesu Christi und die Befreiungsgeschichte des Volkes Israel als Weg zu Gott geschenkt. Auf diesen Weg sollen wir uns ganz und in tiefster Gewissheit verlassen. Es ist nicht zufällig unser Weg, sondern der Weg, den Gott uns gewiesen hat. Aber wir dürfen damit rechnen, dass sich das Geheimnis Gottes Menschen auch auf anderen Wegen erschliessen kann. Darum ist unserem Glauben entsprechend die Haltung der Toleranz, die den eigenen Glauben einladend und glaubwürdig lebt ohne andere bekehren zu wollen. Gott ist einzig, nicht unsere religiösen Überzeugungen, unsere Kirchen und Konfessionen.“
„Was bedeutet all dies für die religiöse Erziehung unserer Kinder?“, wollte der Ratsuchende wissen. „Können wir dann den Glauben überhaupt weitergeben.“ „Wir können den Glauben nicht weitergeben wie die Wissensbestände unserer Kultur oder eine mathematische Gleichung. Zuerst und vor allem kommt es darauf an, dass wir glaubwürdig, offen und ehrlich von unserem Glauben reden. Wir können nicht weitergeben, was wir selber nicht glauben. Auch unsere Fragen und Zweifel dürfen wir dabei nicht verbergen. Nie sollten wir uns einbilden, wir allein könnten unsere Kinder zum Glauben führen. Sie sollen auch auf andere hören. Stets müssen wir sie als eigenständige Persönlichkeiten achten und respektieren, dass sie frei sind, ihren eigenen Glaubensweg zu finden oder sogar den Weg des Glaubens zu verlassen. Die Freiheit unserer Kinder steht höher als unser Wunsch, ihnen den Glauben weiterzugeben. Schuldig sind wir ihnen aber, dass wir ihnen die Möglichkeit geben, ihren Weg zu finden, indem wir mit ihnen über Glaubensfragen reden, ihnen biblische Geschichten erzählen und mit ihnen beten – oder zumindest ihnen den Zugang zu Menschen eröffnen, bei denen sie all dies kennen lernen können. Wir sollen aber auch akzeptieren, wenn unsere Kinder im Jugendalter sich vom Glauben entfremden oder eine andere Frömmigkeit suchen als die unsere. Worauf es ankommt ist, dass wir mit ihnen im Gespräch bleiben und darauf achten, dass sie ihr Weg nicht in Abhängigkeit und Unfreiheit führt oder ihnen Schaden zufügt. Und manchmal bleibt uns nur noch, Gott zu bitten, dass er sie auf ihrem Weg begleite und bewahre. Glauben weitergeben kann nur, wer auch loslassen kann.

Einleuchtend erschien dem Ratsuchenden vieles, was diese Lehrerin zu ihm gesagt hatte. Aber wem sollte er nun folgen? Welcher Weg war der richtige? So wandte er sich an eine weithin bekannte Weisheitslehrerin. Viele lobten ihre klugen Ratschläge, aber einige nörgelten, man sei nach dem Gespräch mit ihr meist nicht klüger als zuvor. Er erzählte ihr alles, was ihm die beiden anderen gesagt hatten. „Wer hat denn nun recht“, fragte er. „Das weisst du schon“, bekam er zur Antwort. „Bedenke, was du gehört hast. Bedenke, was nur dein Ohr erreicht, was du mit deinem Verstand begriffen hast und was dein Herz berührt. Achte darauf, was in deinem Herzen Liebe weckt und Freude entstehen lässt. Erinnere dich, was dir auf deinem Weg des Glaubens Mut gemacht hat und welche Veränderungen du erlebt hast. Bedenke, was dem Frieden dient und Leben zur Entfaltung bringt. Und vergiss nicht, dass die anderen dasselbe tun, auch wenn sie am Ende vielleicht dennoch einen anderen Weg gehen. Und dann geh deinen Weg, geh ihn mit Zuversicht und Gottvertrauen, denn es ist dein Weg, den nur du so gehen kannst und auf dem Gott mit dir geht.“ Amen.