Liebe Gemeinde,
die Bibel ist ein vielstimmiger Chor. Die Geschichte Jesu wird uns vierfach erzählt. In den Briefen des Paulus und seiner Schüler, in den Johannes- und Petrusbriefen werden Glaubenserfahrungen und Glaubenserkenntnisse zumindest unterschiedlich akzentuiert. Noch stärker gilt dies für das Erste Testament. Gerade das Jesajabuch enthält viele unterschiedliche Stimmen. Und doch bilden diese verschiedenen Stimmen eine Gemeinschaft im Glauben, eine Gemeinschaft, zu der auch wir gehören, in die wir unsere eigenen Stimmen und Erfahrungen einbringen dürfen und von den Stimmen der anderen lernen können.
Die Kap. 40-55 des Jesajabuchs führen uns in die Zeit des babylonischen Exils. Die Zerstörung des Tempels im Jahr 587 v.Chr. und die Deportation der Bevölkerung nach Babylon, der Verlust der Heimat und des zentralen Heiligtums waren die grösste Katastrophe in der damaligen Geschichte Israels. Fast ein halbes Jahrhundert dauerte dieses Exil. Als wir vor 9 Tagen den Weltgebetstag hier gefeiert haben, da haben nach der Feier einige Jugendliche aus der Musikgruppe noch den bekannten Pophit „By the rivers of babylon“ gesungen. Viele wissen gar nicht mehr, dass dieses Lied die Worte des 137. Psalms aufnimmt: „An den Strömen Babels, da sassen wir und weinten, als wir an Zion dachten.“ Der Verlust der Heimat und ein halbes Jahrhundert im Exil - da tauchen Fragen auf, Fragen nach Gott, ob er sein Volk vergessen hat, ob vielleicht die Götter Babylons doch mächtiger sind, ob dieser Gott überhaupt vertrauenswürdig ist oder ob es nicht besser ist, diesen Glauben abzulegen, sich an die scheinbar so mächtigen Götter der Babylonier zu halten.
Den alten Glauben ablegen, sich mit den Verhältnissen arrangieren und das Beste daraus machen, sich mit den Mächtigen nicht anlegen - das ist zumindest eine Option. An den Ufern von Babylon zu sitzen und zu weinen um die verlorene Heimat, über das Schicksal zu klagen ist nicht unbedingt die bessere Option. Das ist vermutlich die Stimmung in die hinein der Prophet spricht. Er sagt den Leuten: sich abfinden und arrangieren oder ständig nur jammern und weinen, das ist nicht die Alternative. Es kommt darauf an, dass wir an unserem Glauben und an der Hoffnung festhalten. Dazu brauchen wir die Bilder eines guten und gelingenden Lebens. Wir müssen die blühenden und fruchtbaren Landschaften vor unserem inneren Auge schon sehen können. Und gerade darin hat das Buch des Exilspropheten eine ungeheure Kraft, einen faszinierenden Reichtum. Mit seinen Worten zeichnet er wunderbare Bilder von Wüsten, die sich in fruchtbares Land verwandeln, von gangbaren Wegen durch die Wüste und scheinbar unüberwindlichen Bergen, die eingeebnet werden. Es ist eine Sprache der Hoffnung, die das Neue schon sieht, auch wenn es noch nicht da ist, die sich eine gute Zukunft auszumalen vermag, trotz aller bitteren Erfahrungen und daraus Kraft und Vertrauen schöpft. Denn er vermag daran festzuhalten und zu glauben: „Das geknickte Rohr zerbricht er nicht, und den verglimmenden Docht löscht er nicht aus.“
Bilder des Neuen braucht es - und auch neue Lieder. „Singt dem Herrn ein neues Lied, heisst es zu Beginn unseres Predigttextes.“ Das ist die Sprache der Psalmen und ihr Ort ist der Gottesdienst. Die Klage über das Schicksal des Exils hat sehr wohl ihren Ort und ihre Berechtigung im Gottesdienst der Gemeinde. Aber es kommt darauf an, Gott auch neue Lieder zu singen, denn diese neuen Lieder halten die Hoffnung in uns wach, sie helfen uns, uns nicht in den Sorgen und Problemen zu vergraben, sondern an der Hoffnung festzuhalten, Gott zuzutrauen, dass er Neues schaffen kann und uns neue Wege und Lebensmöglichkeiten eröffnet.
In dieses neue Lied soll nicht nur die Gottesdienstgemeinde einstimmen. Es soll ein einladendes Lied sein, das sich ausbreitet bis an die Enden der Erde und die ganze Schöpfung umfasst. Nichts und niemand soll von diesem neuen Lied der Hoffnung ausgeschlossen bleiben. Wir können uns fragen, ob es hilfreich ist, dass in diesem neuen Lied Gott als Kriegsherr erscheint, der Kampfeslust weckt, den Schlachtruf anstimmt und Feldgeschrei ausstösst. Es ist gut, wenn wir mit solchen Bildern heute zurückhaltender sind, gerade wenn wir bedenken, wieviel Kriegsgeschrei und Leid in unserer Welt schon religiös verbrämt und legitimiert worden ist. Aber welche anderen Bilder hatte der Prophet zur Verfügung, um seinem Volk, das gedemütigt war von der Erfahrung überlegener militärischer Macht, die Hoffnung zurückzugeben, dass sein Gott dieser so beeindruckenden und einschüchternden Macht letztlich überlegen ist? Auf jeden Fall zeigt dieses Bild, mit welcher Leidenschaft Gott für sein Volk eintritt.
Wie haben die Leute wohl reagiert? Ein schönes neues Lied, das du uns da anstimmst, wunderbare Bilder sind das - aber warum sollten wir ihnen Glauben schenken? Vielleicht sind das ja nur schöne Worte, aber wir halten uns besser an die Tatsachen. Man darf sich keine Illusionen machen. Schön reden kann jeder, aber wer seine Augen offenhält, der sieht etwas anderes. Gründe zur Hoffnung sehen wir da nicht sehr viele. Und wenn Gott so stark und mächtig ist, warum lässt er uns dann so lange im Exil schmoren? Warum hat er uns dann nicht schon längst geholfen?
Darauf antwortet der Prophet im 2. Teil unseres Predigttextes. Ja, wir können uns den Predigttext als Gespräch vorstellen, bei dem er zuerst die Leute auffordert, ein neues Lied zu singen, ein Lied der Hoffnung statt zu jammern und zu klagen oder sich mit den Verhältnissen zu arrangieren. Und dann kommen die Einwände und er antwortet darauf, indem er Gott selbst zu den Leuten reden lässt: „Lange bin ich still gewesen, habe ich geschwiegen, habe ich mich zurückgehalten, wie die Gebärende werde ich nun schreien, werde so sehr schnauben, dass ich um Luft ringen muss.“ Ja, Gott hat lange geschwiegen und hat sich verborgen. Eine Erklärung dafür gibt er nicht. So wie auch Hiob letztlich keine Antwort auf die Frage nach dem Warum seines Leidens bekommen hat, so wie auch wir in dunklen Zeiten ohne Antwort bleiben auf die Frage nach dem Warum. Das Bild der Gebärenden verstehe ich so, dass auch bei Gott alles seine Zeit hat, alles seine Zeit des Reifens und des Wachsens braucht. Und dass die Geburt von neuem Leben mit Schmerzen verbunden ist und mit Zeiten, in denen wir nur den Schmerz spüren und das Neue noch nicht da ist und wir nicht einmal wissen, wie es aussehen wird und ob es leben wird und ob wir damit glücklich oder überfordert sein werden.
Gott vergleicht sich hier mit einer Gebärenden. Solche Bilder sind auch dazu geeignet, unser oft männlich geprägtes Gottesbild zu relativieren. Vor allem aber zeigt uns der Prophet auch hier einen empfindsamen, lebendigen und leidenschaftlichen Gott. Unser Gott ist kein blindes Schicksal, kein unbewegter Beweger, der im Himmel thront. Es ist ein leidenschaftlicher Gott, der unter Schmerzen Neues schafft, mitleidet, Anteil nimmt. Auf den ersten Blick irritierend ist es vielleicht, dass Gottes Gebären nun zuerst so beschrieben wird, dass sich fruchtbares Land in Wüste verwandelt. Auf den zweiten Blick aber sehen wir, dass diese Worte beinahe spiegelbildlich formuliert sind zu der Verheissung an das Volk in Kap. 41,18-20: „Auf kahlen Höhen lasse ich Flüsse entspringen und in Tälern Quellen, die Wüste mache ich zum Schilfteich und das trockene Land zu Wasserquellen. In die Wüste bringe ich Zedern, Akazien, Myrten und Ölbäume, in der Steppe setze ich Wacholder, Ulmen und Zypressen dazu, damit sie sehen und erkennen, es aufnehmen und auch einsehen, dass die Hand des HERRN dies getan und dass der Heilige Israels es geschaffen hat.“ Wenn Gott Neues schafft, dann können Wüsten sich in fruchtbares Land verwandeln, an dem alle ihren gerechten Anteil haben. Für die Mächtigen und die, die vom Unrecht profitieren aber kann dies bedeuten, dass ihre Quellen versiegen und ihre blühenden Landschaften als die Wüsten erkennbar werden, die sie eigentlich sind. Für die aber, die vorher im Dunkel waren, wird es hell. Für sie eröffnen sich neue Wege und ebene Pfade, neue Lebensmöglichkeiten.
Hat der Prophet die Menschen überzeugen können? Bestimmt nicht alle, aber in einigen hat er neuen Lebensmut und neue Hoffnung geweckt und manche haben sich wohl an seine Worte erinnert als die Zeit des Exils zu Ende ging. Und wir? Bleibt uns nicht doch der Verdacht, all diese schönen Worte und Bilder könnten letztlich eine Illusion sein? Wie unterscheidet man Illusionen von kraftvollen und vertrauenswürdigen Hoffnungen, Gott von den falschen Göttern? Eine klare und einfache Antwort gibt es nicht. Es bleibt uns nichts anderes, als Vertrauen zu wagen, ohne schon konkret zu wissen, was dabei genau herauskommt. Aber wir wissen auch, dass wir ohne Hoffnung ärmer sind. Was brauchen wir, damit unsere Hoffnung trägt? Ich denke, als erstes Geduld. Es gibt Zeiten, in denen sich Gott verbirgt, wo wir seine Gegenwart nicht spürbar erfahren und wir wissen nicht wie lange sie dauern und wie es danach sein wird. Beharrlichkeit brauchen wir, um an der Hoffnung festzuhalten, aber auch die Offenheit, dass das gute Neue vielleicht ganz anders aussieht, als wir es uns ausgemalt haben. Und die Fähigkeit brauchen wir, schon im Dunkel neue Lieder zu singen und neue Bilder zu sehen, nicht in dem Belastenden und Bedrückenden unterzugehen, sondern bereit sein zum Aufbruch, wenn es an der Zeit ist.
Wie unterscheiden wir Hoffnungen von Illusionen? Vielleicht hilft es, auf die Stimme des Herzens zu hören und das Loben nicht zu vergessen, auch wenn wir im Moment keinen Grund dazu sehen. Vor allem aber glaube ich, dass es einen wichtigen Unterschied gibt: Illusionen gaukeln uns das Glück vor, das keinen Preis hat. So versprach bei der Wende der deutsche Kanzler Kohl den Menschen in Ostdeutschland „blühende Landschaften“, eine Formulierung, die durchaus an den Propheten erinnert. Aber er unterschlug, dass dazu grosse Anstrengungen und solidarisches Teilen nötig sind. Hoffnungen unterscheiden sich von Illusionen dadurch, dass sie uns in Bewegung bringen und wir uns dafür einsetzen mit Geduld und Beharrlichkeit und sie nicht mit dem Schlaraffenland verwechseln, das unverhofft über uns hereinbricht. Hoffnungen verbinden Menschen und sind nicht einfach egoistisch. Hoffnungen machen uns offen, uns beschenken zu lassen und nicht fordernd.
Glaube und Hoffnung sind Geschwister - so wie wir in der Schriftlesung aus dem Hebr gehört haben: „Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.“ Wir glauben in dieser Welt, aber über diese Welt hinaus. Wir glauben, dass es mehr gibt als das, was vor Augen ist. Wir vertrauen der Kraft Gottes, die in den Schwachen mächtig ist und uns mit einer Hoffnung erfüllt, die uns jetzt schon ein neues Lied anstimmen lässt. Amen.