Samstag, 16. Juli 2011

Predigt zu 1. Mose 50,15-21 am 17. Juli 2011

Liebe Gemeinde,

kaum ist der Patriarch unter der Erde, da liegen die Nerven bei den Brüdern Josefs schon blank. Verzeihen sie mir diese etwas derbe Ausdrucksweise, aber ich denke, sie passt ganz gut zu dem, was unser heutiger Predigttext erzählt. Und es ist eine Erfahrung, die mancher wohl schon gemacht hat, wenn uralte und nicht wirklich bereinigte Konflikte in einer Familie schwelen. Vielleicht wurden sie um der Eltern willen mühsam im Zaum gehalten, aber gelöst wurden die Konflikte dadurch nicht. Und wenn eines Tages die Eltern nicht mehr da sind, dann kann es passieren, dass die ungelösten Konflikte und Verletzungen mit aller Macht wieder aufbrechen.

Genau das ist die Situation unseres Predigttextes - oder besser gesagt, die Situation, die Josefs Brüder befürchten. Sie haben allen Grund dazu. Denn viel übler als sie es getan haben, kann man einem Bruder nicht mitspielen. Damals, vor vielen Jahren, als sie vor Neid und Missgunst zerfressen waren, weil Josef von ihrem Vater so spürbar bevorzugt wurde und ihnen so eingebildet erschien, da hatten sie ihn kurzerhand an eine Sklavenkarawane nach Ägypten verkauft. Dem Vater hatten sie erklärt, er sei tot, von einem wilden Tier gefressen.

Sie alle kennen die Geschichte - wie Josef sich den Nachstellungen der Frau Potifars entzieht und im Gefängnis landet, dort den Mitgefangenen ihre Träume deutet und so später den Zugang zum Pharao findet. Weil er auch dessen Träume deuten kann und dadurch Ägypten vor einer Hungersnot bewahrt, wird er zu einem der einflussreichsten und höchsten Beamten des Reiches. Sie wissen, wie seine Brüder vom Hunger nach Ägypten getrieben werden und ihn nicht erkennen, wie er sie auf die Probe stellt und schliesslich zu erkennen gibt und seine Familie nach Ägypten holt. Schon in dieser früheren Szene der Josefsgeschichte kommt es zur Versöhnung und schon dort klingt an, was wir hier noch einmal hören. Die böse Tat der Brüder hat sich im Nachhinein als Segen erwiesen. Gott hat es zum Guten gewendet und so die Familie Jakobs in der Hungersnot gerettet.

Aber wie tragfähig ist diese Versöhnung? Trägt sie auch jetzt noch, wo der Vater nicht mehr lebt? Gott hat es zum Guten gewendet, aber es bleibt eine böse Tat. Und ein Narr, wer hier glaubt, es sei alles längst vergeben und vergessen. Es gibt Demütigungen und Verletzungen, die kann man nicht einfach vergeben und vergessen. Die begleiten einen ein Leben lang. Und so wird Josef nie ganz vergessen können, was seine Brüder ihm angetan haben - die Stunden in dem feuchten Brunnenloch, der demütigende Weg nach Ägypten als ein Stück verkäufliche menschliche Ware, die Nachstellungen der Frau Potifars und die Zeit als Unschuldiger im Gefängnis. Manche dieser Erfahrungen sind Josef wohl noch so nahe, als wäre es gestern gewesen. Nicht immer heilt die Zeit alle Wunden.

Die Brüder Josefs wissen das. Sie geben sich keinen Illusionen hin. Für sie steht noch einmal alles auf dem Spiel und sie wissen, dass sie in Josefs Hand sind - und nicht weniger in der Hand ihrer Schuld, die sie nicht mehr ungeschehen machen können. Immerhin - sie weichen ihrer Angst nicht aus und stellen sich dem Gespräch mit ihrem Bruder. Aber noch einmal greifen sie zu ihrer alten Methode - sie versuchen es mit Lüge und List. Zwar ist die Geschichte hier nicht ganz eindeutig, aber der vermeintliche Auftrag Jakobs an Josef, dass er seinen Brüdern vergeben soll, ist nirgends überliefert. Und hätte Jakob so etwas Wichtiges nicht selbst seinem Sohn Josef gesagt? Wir wissen auch nicht, ob Josef weint, weil er spürt, dass seine Brüder ihn schon wieder betrügen oder aus Mitgefühl, weil er ihre Angst sieht. Oder ob er weint, weil all die erlittenen Demütigungen ihm noch einmal vor Augen stehen.

Was wir aber wissen ist, dass Josef sich nicht zur Rache hinreissen lässt, sondern noch einmal verzeiht: „Fürchtet euch nicht! Bin ich denn an Gottes Statt? Ihr zwar habt Böses gegen mich geplant, Gott aber hat es zum Guten gewendet, um zu tun, was jetzt zutage liegt: ein so zahlreiches Volk am Leben zu erhalten. So fürchtet euch nicht! Ich will für euch und eure Kinder sorgen. Und er tröstete sie und redete ihnen zu Herzen.“ Er befreit seine Brüder vom Fluch der bösen Tat. Aber - und das scheint mir ebenso wichtig! - er befreit auch sich selbst vom Fluch der bösen Tat seiner Brüder. Würde er jetzt noch Rache üben, so bliebe er selbst im Bann der Vergangenheit. Er würde sich an Gottes Stelle setzen und das Gute, das Gott aus der bösen Tat hat entstehen lassen, in Frage stellen. Und zugleich wären das Gefühl der Macht und die Genugtuung, es seinen Brüdern heimzuzahlen, eine Illusion, weil er dann fremdbestimmt bliebe durch das, was ihm angetan wurde.

Das zieht sich in meinen Augen wie ein roter Faden durch die ganze Josefsgeschichte: dieser Josef ist einer, der sich niemals durch das bestimmen lässt, was ihm angetan wurde. Er lässt sich nicht auf die Opferrolle reduzieren. Er nimmt trotz allem, was man ihm angetan hat und wie übel ihm auch mitgespielt wurde, immer wieder sein Leben in die Hand und nutzt seine Möglichkeiten. Damit Gott aus dem Bösen in seinem Leben etwas Gutes machen kann, dazu braucht es auf Josefs Seite die Bereitschaft, nicht nur mit seinem Schicksal zu hadern, sondern die Möglichkeiten, die sich ihm trotz allem eröffnen, auch zu ergreifen.

Es ist nicht so sehr die moralische Botschaft, dass wir das Böse, das uns angetan wird, verzeihen sollen, um die es hier geht - auch wenn das zweifellos richtig und wichtig ist. Und es ist auch nicht allein die Hoffnungsbotschaft, dass wir darauf vertrauen dürfen, dass Gott auch aus dem Schwierigen und sogar dem Bösen in unserem Leben etwas Gutes entstehen lassen kann - die ebenso zutreffend ist. Das Entscheidende sehe ich aber in der Botschaft, dass wir uns nicht bestimmen lassen müssen von dem, was andere aus uns machen oder uns antun, weil letztlich Gott über unser Leben bestimmt. Verzeihen ist in der Josefsgeschichte nicht so sehr eine moralische Verpflichtung, sondern die grossartige Erfahrung einer befreienden Kraft. Die Frage ist nicht, ob wir verzeihen müssen, sondern ob wir verzeihen können. Das macht einen riesigen Unterschied.

Es ist so verführerisch einfach, für viele Dinge in unserem Leben erlittenes Unrecht und von anderen zugefügtes Leid verantwortlich zu machen. Und es mag dafür auch gute und durchaus berechtigte Gründe geben. Aber es bringt uns keinen Schritt weiter und kann uns blind machen für das, was an Gutem in unserem Leben heranwachsen und gedeihen will. Es verstärkt den Groll auf die, die uns etwas angetan haben und hält uns zugleich im Bann ihrer Macht. Josef steht immer wieder auf seine Füsse statt nur mit seinem Schicksal zu hadern. Das gibt ihm eine Stärke, die auf Gottvertrauen und Souveränität gründet und sich nicht gegen andere oder auf Kosten der anderen durchsetzen und beweisen muss. Weil er sein Leben nicht vom erlittenen Unrecht bestimmen lässt, kann er dieses Unrecht dann auch verzeihen. Er muss es nicht rächen, aber er muss es auch nicht verdrängen oder den Schmerz leugnen, der immer noch damit verbunden ist.

Ich denke, diese Botschaft hat ihre Bedeutung auch für Familienkonflikte in unserer Zeit. Je mehr wir sie zum Erklärungsmuster für unser Leben machen, umso mächtiger werden sie und es bleibt kein Spielraum, um wirklich zu verzeihen. Wenn wir sie verdrängen, brechen sie irgendwann wieder auf. Der einzig gangbare Weg ist, dass wir Konflikte und Verletzungen wahrnehmen und annehmen als einen Teil unseres Lebens, unserer Geschichte, der zu uns gehört und uns dennoch nicht davon bestimmen lassen. Wir können Dinge nicht wirklich verzeihen, solange sie uns noch vollständig im Griff haben. Aber es ist auch eine Frage unserer Lebenshaltung, ob wir zumindest versuchen, uns nicht von Vergangenem vollständig beherrschen zu lassen. Und wenn wir dann verzeihen können, dann ist das zuallererst für uns selber eine befreiende Erfahrung, wie ein Joch, das wir abgeworfen haben. Ein Verzeihen, dass die Verletzungen nicht verdrängt, unterbricht das zermürbende Hin und Her von Vorwürfen und Rechtfertigungen und kann die Angst vertreiben, die Menschen zugleich aneinander kettet und voneinander trennt. Von Gott dürfen wir die Kraft zum Verzeihen erbitten und das Vertrauen, dass weder unsere Schuld noch erlittenes Unrecht unser Leben bestimmt, sondern Gott, der auch aus dem Bösen Gutes hervorbringen kann.

Amen.