Samstag, 26. Februar 2011

Predigt über Markus 4,26-29 am Sonntag, 27. Februar 2011

Liebe Gemeinde,
„ums Reich Gottes geht es also in diesem Gleichnis“, sagt der Pfarrer, „ums Reich Gottes, das ganz von alleine kommt, ohne unser Zutun. Es liegt nicht an uns, ob das Reich Gottes wächst und gedeiht, sondern Gott allein lässt es wachsen. Was uns bleibt, ist nur, es wahrzunehmen, es dankbar anzunehmen. So wie der Bauer in dem Gleichnis, der in aller Ruhe und Gelassenheit schläft und aufsteht, Nacht um Nacht und Tag um Tag und geduldig wartet bis die Frucht herangereift ist.“
„Ach, immer diese salbungsvollen Sprüche“, fällt ihm seine Kollegin ins Wort. „das mag ja theologisch alles richtig sein, aber irgendwie kann ich es nicht mehr hören. Ihr predigt euren Gemeinden Gelassenheit und dass das Reich Gottes von ganz alleine kommt – und bei der nächsten Pfarrkonferenz führt ihr euch wieder auf, wie die Säulen der Kirche und klagt, wie ihr alles machen müsst und nicht mehr wisst, wo ihr die Zeit für alles hernehmen sollt. Ihr werdet wieder neue Konzepte entwickeln, um die Kirche auf Vordermann zu bringen. Seht euch doch nur einmal das PfarrerInnenleitbild unserer Kirche an, was man da alles können und machen sollte. Und ich als Frau soll dann alles machen, was von meinen männlichen Kollegen schon immer gemacht wurde und die Frauenarbeit und die Kinderarbeit noch dazu. Und noch mehr Besuche, weil Frauen das ja besonders gut können. Wo bleibt denn da die Gelassenheit.“
„Da haben wir’s mal wieder“ mischt sich da ein junger Mann ins Gespräch, „Pfarrer und Bauern klagen immer – nur dass die Bauern die harten Zeiten tatsächlich in ihrem Portemonnaie spüren und die Pfarrer – bisher – eher an ihrem gekränkten Stolz, als ob ihr Applaus, ihre Anerkennung die Ernte wäre auf die es im Reich Gottes ankommt.“ Mit Mühe schlucken der Pfarrer und die Pfarrerin ihre Empörung hinunter. Es geht ihnen doch wirklich um die Gemeinde und es macht sie traurig, wenn die Botschaft so wenig Echo findet. Aber irgendwie stimmt es ja auch, dass sie sich manchmal zu wenig anerkannt fühlen für ihre Mühen.
„Und ausserdem“, fährt der junge Mann fort, „ausserdem geht das Gleichnis für mich gar nicht auf. Wenn Gott derjenige ist, der für das Wachsen und Reifen sorgt, wie der Herr Pfarrer so schön gesagt hat, wer sät dann den Samen aus? Manchmal habe ich richtig Lust, die Geschichte umzudrehen. Dann ist Gott für mich der Sämann, der den Samen ausstreut. aber dann überlässt er uns die Arbeit. Jetzt ist es an uns, dass der Same auch aufgeht, dass die Ernte heranreift. Mir wird in der Kirche sowieso zu viel von Gelassenheit und Geschehenlassen geredet. Mir hat immer die Geschichte von Brecht gefallen, wie die stumme Kathrin trommelt und Alarm schlägt, während die frommen Dorfbewohner beten und sich ihrem Schicksal ergeben. Ich wünsche mir eine Kirche, die kämpft für das Reich Gottes, die aufschreit, wenn die Wirtschaft Menschen opfert, wenn das soziale Netz zerschnitten, das Asylrecht kaputtgemacht wird. Von selbst wächst doch nur die Ungerechtigkeit, der Unfrieden, die Gewalt. Wir müssen nicht auf das Reich Gottes warten, sondern es selber in die Hand nehmen.“
„Junger Freund, ihr Tatendrang in Ehren“. Ein älterer Herr hat das Wort ergriffen. „Aber hören sie auf einen Mann mit langer Lebenserfahrung. Ich habe im vergangenen Jahrhundert erlebt, wie Menschen ungestüm versucht haben, ihre Ideale umzusetzen, die Menschen zu ihrem Glück zu zwingen. Das hat immer Unheil gebracht und Gewalt und ich denke nicht nur, weil es die falschen Ideale waren, sondern weil man die Menschen auch zu ihrem Besten nicht zwingen kann. Denken sie nur, wie auch die Kirchen in ihrer Geschichte – vermeintlich um Christi willen – Gewalt gesät haben. Sie haben schon Recht. Eine Kirche, die zum Unrecht schweigt, ist zu nichts nütze. Und die Hände in den Schoss legen und alles dem lieben Gott anzuvertrauen ist nicht fromm, sondern faul und bequem. Aber wir haben nicht alles in der Hand und Aktivismus und Eifer sind längst nicht immer die besten Ratgeber. Mir hat immer der alte benediktinische Leitspruch geholfen: Ora et Labora – Bete und Arbeite. Ich denke, nur wenn wir beides können, finden wir ein gesundes Mass in unserem Leben. Und christliche Weisheit wäre dann wohl, zu erkennen, was unsere Aufgabe ist, wo es anzupacken gilt und zu merken, wo wir innehalten, die Dinge Gott überlassen müssen und wir mit unserem Machen-Wollen eher Schaden anrichten. Sie kennen ja vielleicht die Geschichte von dem Bauern, dem die Pflanzen nicht schnell genug wachsen und der jeden Tag ein wenig daran zieht, um das Wachstum zu beschleunigen. Auf jeden Fall können sie sich sicher denken, was dabei herauskommt.“
Eine Frau, die bisher stumm zugehört hat, erhebt zögerlich ihre Stimme: „Ich bin ja nur ein altes Mueti. Aber wissen sie: mir hat dieses Gleichnis schon viel geholfen. Damals, als ich mit 20 meinen Mann Kurt geheiratet habe, da freute ich mich, mit ihm gemeinsam eine Existenz aufzubauen, eine Familie zu haben mit 3 oder 4 Kindern, später einmal den elterlichen Hof zu übernehmen. Zwei Fehlgeburten haben mich dann ziemlich mitgenommen und bei der nächsten Schwangerschaft habe ich vom ersten bis zum letzten Tag Angst gehabt. Wird es dieses Mal gut gehen? Wird unser Kind behindert sein? Und hätte ich dazu die Kraft? Vor den Fehlgeburten war ich eine zuversichtliche, gelassene Frau. Aber jetzt. Die, die mir ständig gesagt haben, ich müsse nur mehr Gottvertrauen haben, die hätte ich auf den Mond schiessen können. Wie gross war unsere Erleichterung, als das erste Kind, unser Fritz, gesund war. Und Theres und Anni nachher auch. Ich habe noch manchmal mit Gott gehadert, dass er uns die beiden ersten Kinder genommen hat, bevor wir sie überhaupt hatten. Aber dann habe ich auch immer wieder gespürt: es ist wie es ist. Es gibt Dinge, die hast du nicht in der Hand. Und vielleicht ist es ja auch besser so. In dem Gleichnis hat es der Bauer ja letztlich auch nicht in der Hand, ob die Ernte reif wird. Aber wenn es soweit ist, kann er die Ernte einfahren und dankbar dafür sein. Auf dem Weg dahin aber braucht er Geduld. Und die habe ich auch gebraucht und gelassen war ich auch nicht immer. Oder später, wie habe ich mir da Sorgen gemacht um meine Kinder. Alles habe ich versucht, ihnen eine gute Mutter zu sein. Nein, die Hände habe ich da gewiss nicht in den Schoss gelegt. Und als der Fritz dann noch in der Schule solche Probleme hatte, schlechte Noten, Schwänzen, Prügeleien mit anderen, da habe ich mir Vorwürfe gemacht. Was habe ich falsch gemacht? Bis ich eingesehen habe: meine Besorgtheit, meine Angst, sie hilft mir und sie hilft Fritz nicht. Ich kann nur dasein, versuchen in mir selbst die nötige Ruhe zu finden, Verständnis zeigen, Grenzen setzen und geduldig warten, wie sich die Dinge entwickeln. Alles sorgen, alles Grämen macht mich letztlich nur kaputt und hilft niemandem. Und ich glaube, da habe ich auch gespürt, wie das damals gemeint war bei der Taufe: Siehe, ich bin bei dir alle Tage bis an der Welt Ende. Ich war nicht allein. Da war einer, der auch noch auf meine Kinder aufpasste und der auch auf mich aufpasste und mir ab und zu ins Ohr flüsterte: Hab keine Angst, lass ihnen Zeit, ich bin da. Auch in meiner Ehe hat es natürlich schwierige Zeiten gegeben, nicht zuletzt wegen den Kindern. Ein paar Mal war ich nahe davor, alles hinzuschmeissen. Wie oft habe ich meinen Mann ändern wollen. Wie oft habe ich mir vorgenommen, mich selber zu ändern. Bis ich gemerkt habe: wir können nur so miteinander leben wie wir sind oder gar nicht. Der ständige Druck, einander zu dem zu machen, den wir gerne hätten, der bringt uns nur weiter auseinander. Eben wachsen lassen und Geduld haben. Ich glaube, von dem Moment an ist es mir viel besser gegangen. Ich habe wieder bei ihm und bei mir die guten Seiten sehen können und wir haben einander das auch gesagt. Es hat Zeit gebraucht, aber wir haben dank unserer Geduld auch ernten können, was da gereift ist. Und das Gleichnis ist mir dann noch einmal wichtig geworden, als ich vor einigen Jahren an Krebs erkrankt bin. Da habe ich gedacht: Nun hast du drei Kinder grossgezogen, auf dem Bauernhof mitgearbeitet und wie oft bist du todmüde gewesen. Und jetzt, wo du die Dinge etwas ruhiger angehen könntest, mit Kurt etwas unternehmen, da kommt diese Krankheit. Womit habe ich das verdient? Aber es wurde mir auch bewusst, dass ich mit all meinem Hadern den Verlauf der Krankheit nicht aufhalten konnte? Gegen die Krankheit ankämpfen, ja – ohne Hoffnung und Lebenswillen gibt es wohl keine Heilung, aber ich habe es trotzdem nicht in der Hand. Ich muss es nehmen, wie es kommt. Und hoffen und vertrauen, dass Gott bei mir ist und mir genügend Kraft gibt, wie immer sich die Dinge entwickeln. Zur Zeit geht es mir recht gut und ich bin dankbar dafür. Aber ich glaube, ich bin inzwischen auch so weit, dass ich es akzeptieren könnte, wenn es zu Ende geht. Ich glaube nämlich, dass Gott weiss, was für mich das Beste ist und mich erwartet.
Das Reich Gottes liegt wirklich nicht in unserer Hand. Das bedeutet noch lange nicht, die Hände in den Schoss zu legen. Aber ich denke, wir sollten uns auch nicht zu wichtig nehmen. Und vor allem Geduld lernen und unterscheiden können, was unsere Sache ist und wo wir die Dinge besser dem lieben Gott anvertrauen, weil all unser Sorgen und Planen letztlich nutzlos ist. Und wissen sie, man kann sogar den Moment verpassen wo die Ernte reif ist, wenn man das, was gut und gelungen ist gar nicht mehr sieht vor lauter Sorgen und Klagen. Wissen sie, für mich war das Reich Gottes da, als Fritz seinen Lehrabschluss gefeiert hat. Oder als Theres mir bei ihrer Heirat gesagt hat, wie sehr sie mir dankbar ist für ihre schöne Kindheit. Oder als Anni nach der Trennung von ihrem Mann zu mir gekommen ist und gesagt hat. Bei euch kann ich wieder Ruhe finden und neu anfangen, weil ich weiss, dass ihr mich versteht und mir keine Vorwürfe macht. Oder als wir unsere Goldene Hochzeit gefeiert haben und Kurt mir gesagt hat, dass er stolz auf mich ist und froh ist, dass wir auch die schweren Zeiten miteinander durchgestanden haben.“
Eine Weile ist es stille im Raum. Dann meint eine junge Frau: „Danke für das, was sie uns da erzählt haben. Vielleicht wird es in meinem Leben ganz anders laufen. Man kann ja nicht aus seiner Haut. Aber ich hoffe, dass ich dann ab und zu an sie denke und geduldig und gelassen mein Leben in die Hand nehmen kann, wo das nötig ist, dass ich mich aber auch dem Leben und meinem Gott überlassen kann im Vertrauen, dass er schon weiss, was gut für mich ist.
Und er sprach: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft und schläft und aufsteht, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst - er weiß nicht, wie. Denn von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre. Wenn sie aber die Frucht gebracht hat, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da.
Amen.

Samstag, 12. Februar 2011

Predigt zu 2. Mose 3,1-10 am 13. Februar 2011

Liebe Gemeinde,
in dem wunderbaren Film Jentl von und mit Barbara Streisand sagt ein Rabbi: „Wir suchen unsere Studenten nicht nur nach den Antworten aus, die sie geben, sondern vor allem nach den FRAGEN, die sie stellen.“ Ein Satz, der wunderbar passt zu unserem heutigen Predigttext, zur Geschichte von Mose am brennenden Dornbusch. Fast möchte ich sagen: Gott sucht sich seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch nicht nach ihren klugen Antworten oder ihren vorweisbaren Leistungen aus, sondern nach den Fragen, die sie stellen.
Mose stellt Fragen. Gleich drei. Warum verbrennt der Dornbusch nicht? Wer bin ich? Was ist dein Name? Er fragt nach der Welt, die er wahrnimmt, nach sich selbst und nach Gott. Und es wäre gewiss nicht wenig, wenn der heutige Predigttext auch uns zum Fragen verführen, das Fragen lehren würde. Mit drei Geschichten antwortet der Text auf die Fragen des Mose: mit der Dornbusch-Sage, mit der Berufung des Mose und mit der Offenbarung des Namens Gottes.
Aber der Reihe nach. Wer ist überhaupt dieser Mose? Wie kommt er dazu, so zu fragen?
Mose geht seiner alltäglichen Arbeit nach? Er hütet die Schafe Jitros seines Schwiegervaters. Er ist ein einfacher Hirte, der geduldig und demütig seine Pflicht tut. Und einer, der an seiner Vergangenheit zu tragen hat, denn einst in Ägypten hat er im Zorn einen Aufseher erschlagen. Er ist aber auch einer, den das Unrecht berührt, der nicht einfach zusehen kann, wenn Menschen leiden und geplagt werden.
Er treibt die Schafe über die Steppe hinaus. Vermutlich, will er im vertrauten Gebiet kein Futter für die Schafe finden kann. Aber diese kleine Bemerkung ist, denke ich, sehr wichtig. Denn Mose verlässt hier das ihm vertraute Gebiet. Er geht zu weit, überschreitet eine Grenze.
Das Gewohnte verlassen – vielleicht ist das die erste Voraussetzung, um das Fragen zu lernen. Damit meine ich nicht die äusserlich weiten Wege oder die spektakulären Erlebnisse. Mose geht ja nur ein paar Schritte über das Gewohnte hinaus. Und heute können wir tausende von Kilometern reisen ohne auch im Geringsten das Gewohnte zu verlassen. Oder wir können aus einer Arbeit, aus einer Beziehung, aus einem Umfeld ausbrechen, ohne dass wir uns selber, unsere Denkgewohnheiten, unsere Sichtweisen ernsthaft in Frage stellen, weil es ja immer nur die bösen Anderen sind, die uns das Leben schwer machen.
Das Gewohnte verlassen – oft ist das etwas, was uns in unserem Leben widerfährt, womit wir plötzlich konfrontiert werden. Es kann eine Krankheit sein, die uns aus der Bahn wirft, die uns plötzlich zwingt, unser Leben neu zu ordnen. Gerade eine Krankheit, die ja zuerst einmal als Katastrophe über die Betroffenen hereinbricht, kann für viele ein Anstoss sein, anzuhalten, sich neu zu fragen, was ihnen wichtig ist, worauf es ankommt. Sie kann dazu führen, bewusster auf die Menschen zu achten, die mich umgeben, die mir wichtig sind. Oder bewusster wahrzunehmen, an was ich mich freue, was mir kostbar ist, was ich bisher immer aufgeschoben habe. Oder einem Menschen zu sagen, wofür ich ihm dankbar bin. Oder auch neu nach Gott zu fragen, nach dem unbegreiflichen, nach dem liebenden, nach dem segnenden Gott. Nach dem, dessen Name heisst: Ich bin da.
Das Gewohnte verlassen – das bedeutet vor allem eine Veränderung unseres Blicks. Es heisst, dass wir zulassen und wahrnehmen, dass da noch mehr ist als wir gewohnt sind zu sehen. Mose geht über die Steppe hinaus und sieht einen Dornbusch, der brennt und doch nicht verbrennt.
Hinsehen, anhalten, staunen – und dann hingehen, langsam und behutsam. Das sind die nächsten Schritte des Mose. Er nimmt sich die Zeit, hinzusehen. Er geht nicht achtlos vorüber. Er tut das Ganze nicht als Einbildung oder lächerliches Schauspiel ab. Aber er stürzt sich auch nicht darauf, wie auf eine billige Sensation. Er sieht hin, hält an und staunt. Und er geht hin und fragt: Was ist das? Und vielleicht schon da: Was hat das für mich zu bedeuten?
Und er ist achtsam! Er achtet auf die Stimme, die ihn anruft und antwortet: „Hier bin ich!“ Er achtet auf die Stimme, die ihn zurückhält, die ihn auffordert, den nötigen Abstand zu behalten. Er kann sich dieser wunderbaren Erscheinung nicht einfach bemächtigen. „Zieh deine Schuhe von deinen Füssen, denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land!“ Ein grossartiger Satz. Aufforderung zur Ehrfurcht vor dem Leben, zur Achtsamkeit gegenüber allem, was uns begegnet. Denn jeder Augenblick und jeder Ort in unserem Leben kann für uns zu einem heiligen Boden werden, jeder Mensch ein Engel, ein Bote Gottes sein. Auch Mose stösst ja mitten im Alltag seines Hirtendaseins auf diesen heiligen Boden, auf dieses Feuer, das ihn zu einem Fragenden werden lässt, den Gott brauchen kann.
So wird die Begegnung mit dem Feuer für Mose der Ort seiner Berufung. Er, der Flüchtling und Hirtenjunge, soll Gottes Volk aus der ägyptischen Sklaverei befreien. Mose winkt angesichts der grossen Aufgabe nicht einfach ab, aber er stürzt sich auch nicht aus Übermut darauf. Er fragt jetzt: Wer bin ich? Aus dem Innehalten und Staunen, aus der Achtsamkeit auf das, was uns begegnet, kann die Klarheit erwachsen, was für uns wichtig, was unsere Aufgabe, unser Weg ist – wahrscheinlich nicht für das ganze Leben, aber hier und jetzt, für die nächste Zeit, die Situation, in der wir stehen. Unsere Aufgaben mögen wohl kaum so gross und gewaltig sein wie die des Mose. Aber jede Aufgabe hat ihre eigene Würde und es kommt darauf an, dass wir sie erkennen und Klarheit gewinnen über das, was unser Weg ist. Gott will nicht von uns, dass wir Mose oder Jesus nacheifern, sondern, dass wir uns selber sind, denn gerade so kann er uns brauchen.
Gottes Antwort auf die Frage des Mose ist ein Versprechen: Ich will mit dir sein. Und weil ich mit dir bin, kannst du diesen Weg gehen. Vertrau mir, dann wirst du erfahren, dass du diesen Weg auch gehen kannst.
Aber Mose ist noch nicht zufrieden. Er hat wohl vernommen, dass der, der da mit ihm redet, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist, der Gott seiner Väter. Aber das genügt ihm nicht. Damit jedoch hört sein Fragen nicht auf. Was ist dein Name? fragt er. Die Antworten der Tradition, der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs, sie sind nicht wertlos, sie lassen ihn überhaupt erst weiterfragen. Aber sie genügen ihm nicht. Er will es genauer wissen. Wer bist du für mich und für meine Generation? So können wir vielleicht die Frage nach dem Namen verstehen. Bist du nur der Gott der Väter oder auch mein und unser Gott?
Und die Antwort, die Mose erhält, sie ist Rätsel und Lösung zugleich. „Ich bin, der ich sein werde. Ich-bin-da ist mein Name.“ Aber mit dieser Antwort kann Mose weitergehen. Dieser Name ist eine Verheissung, ein Versprechen. Und er zeigt auch: jede Generation, jeder Mensch muss seine eigenen Erfahrungen mit Gott machen. Die Erfahrungen der Väter und Mütter im Glauben, das Wort der Schrift, all das kann uns auf die Spur bringen, die Fragen wecken, uns in Frage stellen, aber glauben können wir nur selber, nur das Vertrauen, das Gott uns ins Herz gelegt hat, hilft uns wirklich. Die Klarheit über das, was unsere Aufgabe ist, die Begegnung mit unserem Gott, das Vertrauen, dass er mit uns geht, wohin wir auch gehen – all das kann nur bei uns selber wachsen. Da gibt es keine allgemeingültigen Antworten. Das kann uns niemand abnehmen. Aber ich bin überzeugt: helfen und ermutigen können wir uns dabei. Ohne Gemeinschaft können wir nicht leben. Aber nur wenn wir aus der Gemeinschaft heraustreten, werden wir unseren eigenen Weg finden – um dann wieder zurückzukehren und unseren Beitrag zu leisten für das Leben, das wir miteinander teilen.
Mose ist ein Fragender und ich wünsche mir, dass er auch uns zum Fragen verführt. Kein Ort, kein Ereignis in unserem Leben ist zu belanglos um nicht ein ernsthaftes Suchen und Fragen auslösen zu können. Es kommt darauf an, dass wir uns berühren lassen, offen bleiben und nicht immer alles schon vorher wissen. Der Gott aber, der uns fragen lässt, der hat einen Namen: „Ich bin da. Ich gehe mit dir. Auch auf Umwegen und Irrwegen. Auch wenn du nicht weiter weißt. Auch wenn du glücklich bist und alles wie am Schnürchen läuft, auch wenn scheinbar gar nichts mehr geht. Ich bin da. Ich lasse dich nicht im Stich.“ Amen.