Samstag, 28. August 2010

Predigt über Apostelgeschichte 9,1-9 vom 29.August 2010

Liebe Mitchristen,

es ist eine hochdramatische Geschichte, die unser heutiger Predigttext erzählt. Das Leben des Saulus wird völlig auf den Kopf gestellt. In der Kunst wird Saulus/Paulus meist als gestürzter Reiter dargestellt, obwohl ein Pferd in der biblischen Szene gar nicht vorkommt. Zu naheliegend war wohl der Gedanke, dass da einer vom hohen Ross gestürzt wird und dass Gott ihn dann aufrichtet und ihm einen besseren Weg zeigt.
Nicht umsonst sind der Wandel vom Saulus zum Paulus und das Damaskuserlebnis zu sprichwörtlichen Redensarten geworden. Wir reden von einem Damaskuserlebnis, wenn sich das Leben eines Menschen durch eine plötzliche Begegnung oder eine Erkenntnis grundlegend verändert. Vom Saulus zum Paulus wird einer im Volksmund, wenn er ein ungutes, ja bösartiges Verhalten aufgibt und zur Überraschung seiner Mitmenschen Gutes tut. Paulus selbst erzählt in seinen Briefen auch von dieser Lebenswende. Aber er tut es viel zurückhaltender als die Apostelgeschichte. Höchstens zwischen den Zeilen kann man bei ihm ein dramatisches Ereignis lesen oder aber auch einen allmählichen Wandel. Ihm liegt nicht so sehr an den äusseren Umständen als daran, dass er Christus begegnet war und durch diese Begegnung sich als Apostel berufen und beauftragt wusste.
Unseren Predigttext haben wir dem Prozess der Legendenbildung zu verdanken. Paulus, der anfänglich die christliche Gemeinde misstrauisch beäugt und den christlichen Glauben bekämpft hatte, er hat später wie kein Zweiter zu dessen Wachstum und Verbreitung beigetragen. Er ist zum ersten christlichen Denker geworden und zum Gründer und Lehrmeister vieler Gemeinden. Und er hat uns mit seinen Briefen die ältesten Dokumente unseres christlichen Glaubens geschenkt. Wie war das möglich, dieser radikale Wandel? Das Bedürfnis nach starken Geschichten hat wohl dazu geführt, dass diese Lebenswende immer stärker ausgemalt und dramatisch geschildert wurde. Geschichten und Legenden machen etwas sichtbar, was eigentlich für die Augen unsichtbar ist. Das ist die Kraft und der Sinn von Geschichten und Legenden: nicht dass sie uns erzählen, wie es wirklich gewesen ist, sondern dass sie uns Anteil nehmen lassen an einem Geschehen, dass wir eigentlich weder miterleben noch nacherleben können.
Die Apostelgeschichte ist da noch sehr zurückhaltend. Es geschieht eigentlich wenig mehr als dass einer zu Boden stürzt und eine Stimme hört, die ihn ruft, die sein Tun beim Namen nennt und ihn fragt: Was tust du da? Dass er nicht mehr sehen kann, dürfen wir als Sinnbild dafür verstehen, dass er seine Lebensperspektive verloren hat, dass er mit ihr nichts mehr erkennen kann. Und eine neue Sicht des Lebens muss ihm erst noch zuteil werden. Symbolisch sind auch die drei Tage seiner Erblindung. Es ist die Zeitspanne, die Jona im Dunkel des Walfischbauches verbringt. Es ist aber vor allem die Zeit zwischen Jesu Tod und Auferstehung. Das Damaskuserlebnis ist eine Geschichte von Tod und Auferweckung, der Beginn eines neuen Lebens. Das Entscheidende beim Damaskuserlebnis des Paulus ist der Wandel der Lebensperspektive, die ihm durch die Begegnung mit dem Auferstandenen zuteil wird. Und das ist notwendig ein innerliches Geschehen, dass sich durch nichts beweisen oder zeigen lässt. Da ist etwas Altes vergangen. Etwas Neues beginnt. Etwas Grosses geschieht. Aber es geschieht hinter den geschlossenen Augen des Saulus/Paulus, heimlich, nicht vor den Augen der Welt, nicht sichtbar und beweisbar.
Entscheidend ist also nicht das wunderbare Geschehen und das äusserliche Drama, sondern die innerliche Wendung, die Veränderung der Lebensperspektive. Aber es bleibt eine radikale Wende. Das kann uns berühren. Es kann uns die Geschichte aber auch fremd werden lassen. Denn vermutlich geht es vielen von ihnen ähnlich wie mir. Von einer radikalen Lebenswende, von einer Bekehrung können wir nicht berichten. Wir sind viel eher in unseren Glauben hineingewachsen, sind als Säuglinge getauft worden, vielleicht in die Sonntagsschule und vermutlich in den kirchlichen Unterricht gegangen. Es waren Geschichten, die wir gehört haben, Menschen, die uns begleitet haben, Erfahrungen, die wir gemacht haben - undramtische und alltägliche, die unsere Glaubensgeschichte ausmachen. Ja, und es gehört auf jeden Fall auch ein rechtes Stück Gewohnheit dazu. Wir mögen in unserem Glauben Zweifel und Krisen erlebt haben, aber eine radikale Wende? Eher tragen wir vielleicht eine gesunde Skepsis gegenüber radikalen Bekehrungserfahrungen in uns, die ja nicht selten zu einem fragwürdigen Fanatismus führen können - und weniger zu einer Bekehrung von einem Fanatismus, wie das bei dem Verfolger Paulus war.
Wenn Sie sich in dieser Beschreibung wiedererkennen, dann möchte ich Sie zuerst einmal bestärken. Ist es nicht eine Gnade und ein Geschenk, wenn man seinen Glauben als Heimat und Ort der Geborgenheit erfahren darf und man dazu nicht einer radikalen Krise oder einer radikalen Entwertung der bisherigen Lebensperspektive bedarf? Nein, wir müssen kein Bekehrungserlebnis nachweisen, um wirklich in Gottes Händen zu sein oder echte Christinnen und Christen zu werden. Allerdings hat uns die Geschichte vom Damaskuserlebnis des Saulus/Paulus dennoch etwas zu sagen. Die Frage: Was tust du da? gilt auch uns. Was tue ich in meinen alltäglichen Gewohnheiten? Was nehme ich als selbstverständlich an? Wofür wende ich meine Kräfte auf? Und wo bin ich in Gefahr, mich zu verrennen? Achten wir auf die Warnsignale, die inneren und äusseren Stimmen? Nehmen wir uns die Zeit und die Ruhe, innezuhalten und nachzudenken? Manche Lebenskrisen entstehen ja nicht zuletzt dadurch, dass wir Warnsignale überhören und immer weiterrennen, weil wir meinen, es ginge gar nicht anders. Aber vielleicht will unser Gott uns schon längst einen neuen Weg zeigen.
Und wenn wir dann doch in eine radikale Lebenskrise geraten? Wenn unser Leben radikal durchkreuzt wird durch einen schweren Schicksalsschlag, durch eine bittere Enttäuschung, durch einen äusseren oder inneren Zusammenbruch? Unser Glaube bewahrt uns nicht einfach vor solchen Lebenskrisen, ja, er kann manchmal sogar daran zerbrechen. Aber vielleicht kann dann gerade aus dem, was da ins Wanken gerät und zerbricht, etwas Neues wachsen. Wir können daraus kein Gesetz und keine Methode machen. Die Redensart, dass jede Krise auch eine Chance ist, kann auf manchen auch zynisch wirken. Aber hoffen dürfen wir darauf und uns dafür öffnen, dass uns in den Krisen unseres Lebens eine Kraft zuteil wird, die wir nicht in uns selber tragen und vielleicht tatsächlich unter Schmerzen und Verlusten etwas Neues, Lebendiges und Kostbares das Licht der Welt erblicken darf. Wenn wir Gott nur noch unsere Fragen und unsere Ratlosigkeit bringen können, dann dürfen wir uns immer noch mit alledem ihm in die Arme werfen, uns ihm anvertrauen. Dietrich Bonhoeffer hat das einmal wunderbar formuliert: „Später erfuhr ich, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, etwas aus sich zu machen - sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann … - und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, - dann wirft man sich Gott ganz in die Arme.“ Gott kann auch aus dem, was für uns keinen Sinn mehr ergibt, neues Leben entstehen lassen. Das aber ist kein Rezept und keine Lebensweisheit, sondern eine Hoffnung und ein Vertrauen, das immer wieder neu entstehen muss. Amen.

Samstag, 14. August 2010

Predigt vom 15. August 2010 zu 1. Mose 28,10-19

Liebe Mitchristen!
Jakob schläft. Jakob schläft nicht den Schlaf des Gerechten, der nach getaner Arbeit, nach vollbrachtem Tagewerk in sein Bett sinkt, um sich von den Mühen des Tages zu erholen. Denn er hat keine Schlafstätte mehr, kein zuhause, wo er sein Haupt niederlegen könnte. Er ist ein Mensch auf der Flucht, einer, dem sein Bruder nach dem Leben trachtet.
Jakob schläft, weil er völlig erschöpft ist und einfach nicht mehr kann. Beim Morgengrauen ist er in aller Eile aufgebrochen. Den ganzen Tag ist er buchstäblich um sein Leben gelaufen und mit jeder Stunde, mit jeder Minute entfernte er sich weiter von dem Ort, der ihm gerade noch Heimat war, von der Geborgenheit an der Seite der Mutter. Sein Vater Isaak ist tot, Esau, sein Bruder, sein erbittertster Feind, weil er ihn betrogen hat, betrogen um sein Erbe, betrogen um den väterlichen Segen. Ein Gehetzter, ein Flüchtling ist er nun, der noch dazu weiss, dass er mitschuldig ist an seinem unglücklichen Schicksal.
Jakob schläft unter freiem Himmel. Verstört durch den mörderischen Konflikt mit seinem Bruder hat er nicht einmal bemerkt, wie die Nacht hereingebrochen ist. Er hat völlig vergessen sich eine Bleibe zu suchen und muss sich nun im Schutze eines Steines draussen niederlegen. Und er denkt wohl an zuhause, an den Ort den er verlassen hat, die Heimat, die er verloren hat. Er denkt an seinen Vater, den er wohl mehr respektiert als geliebt hat. Denn stets hatte sein Vater ihm den älteren Bruder vorgezogen, den Jäger und Ackerbauern. Er denkt an seinen Vater und seinen Bruder, die er betrogen und hintergangen hat. Und er denkt an Rebekka seine Mutter, die ihn stets behütet und beschützt hat wie ihren Augapfel, der er in der Küche zur Hand gegangen war und bei der er so vieles gelernt hat. Seine Mutter Rebekka war es aber auch, die ihn stets darauf getrimmt hat, hoch hinauf zu kommen, immer der Erste und Beste zu sein. Und sie hat ihn auch zu dem Betrug angestiftet, der ihn nun zum Flüchtling gemacht hat und hat ihm geholfen, den Betrug auszuführen. Nun liegt er, der so hoch hinaus wollte, erschöpft und niedergeschlagen am Boden.
Jakob schläft und im Schlaf überfällt ihn ein Traum. Und es ist kein Alptraum, der ihm den Schlaf raubt. Nein, im Traum öffnet sich ihm der Himmel und dieser Niemandsort im Lande Nirgendwo wird ihm zum heiligen Boden, zum Ort der Gegenwart Gottes. Im Traum steht ihm der Himmel offen und eine Leiter verbindet diesen Niemandsort mit dem offenen Himmel. Kein Weg nach oben ist diese Leiter. Jakob muss ihre Stufen nicht mühsam erklimmen. Er, der immer hoch hinaus wollte, erfährt in diesem Traum, dass sein Ort unten am Boden ist. Die Leiter ist von oben her auf die Erde gerichtet und Engel steigen daran auf und nieder. Nicht er muss den Weg in den Himmel gehen, sondern bekommt gewissermassen Besuch von oben.
Und im Traum steht Gott vor ihm und redet mit ihm: "Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und Isaaks Gott. Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe."
Später hat man sich in Israel diese Geschichte von Generation zu Generation weitererzählt. Land und Nachkommenschaft, so erzählte man sich, habe Gott, dem Jakob verheissen. Aber entscheidend ist nicht der Inhalt der Verheissung, sondern dass hier die Geschichte einer grossen Überraschung erzählt wird. Entscheidend ist, dass Jakob, der am Boden liegt, ein gehetzter Flüchtling, im Traum die Gewissheit erhält, dass Gott bei ihm ist und in auf seinem Weg in eine ungewisse Zukunft mit seinem Segen begleitet.
Jakob erwacht. Und im Erwachen lässt er den Traum nicht einfach hinter sich. Er nimmt die Botschaft dieses Traumes mit auf den Weg, die Botschaft, dass Gott auf seinem Weg mitgeht und ihn nicht allein lässt. Bevor er weitergeht, errichtet er einen Gedenkstein. Nicht er hat einen heiligen Ort aufgesucht, sondern der Ort, an dem er erschöpft zusammengebrochen ist, dieser ganz profane Niemandsort ist ihm zu einem heiligen Ort geworden, weil er hier die Nähe, die Gegenwart Gottes erfahren hat. Der Segen, den Jakob glaubte, sich erlisten zu müssen - hier überkommt er ihn. Er, der so hoch hinaus wollte, der sich seinen Turm bauen wollte, er erfährt, dass die Himmelsleiter den Turmbau überflüssig macht und Gottes Segen ihn da erreicht, wo er es nicht erwartet - umsonst und ohne sein Zutun. Er, der nur sich selbst sah und gar wollte, dass auch Gott ihn mehr im Blick hat als irgend jemand sonst, erlebt nun, wie sein Gott sein Angesicht auf ihn richtet und "via Himmelsleiter" mit ihm redet und ihm seinen Segen und Beistand zusagt.
Mit dieser Zusage, mit dem Segen seines Gottes geht Jakob seinen Weg weiter, seinen Weg in eine unsichere und ungewisse Zukunft. Viele Jahre später wird er zurückkehren als betrogener Betrüger, dem sein Onkel Laban zuerst die falsche Frau unterjubelte und ihn dann noch um seinen Besitz bringen wollte. Er kehrt zurück mit seinen Frauen und seinen Herden, voll Sorge wegen der bevorstehenden Begegnung mit dem Bruder, den er einst betrogen hatte. Doch die Begegnung wird zur Versöhnung und so kann Jakob in seine Heimat zurückkehren. Und auf dem Heimweg sucht er wieder den Ort auf, an dem ihm einst auf der Flucht vor seinem Bruder Esau Gott erschienen war, dieser Ort, an dem er Segen erfahren hatte und der ihm zeitlebens eine Quelle der Kraft und der Gewissheit wurde.
Wo gehen wir Jakobswege? Wo machen wir Jakobserfahrungen? Errichten auch wir Denkmäler unserer Glaubens- und Segenserfahrungen? Viele sind gehetzt und gestresst von dem Zwang etwas aus sich zu machen, etwas zu erreichen, sich ein Image aufzubauen oder zu erhalten. Wie hilfreich wären da Denkmäler für jeden Ort, an dem wir zur Ruhe kommen, uns selber sein können und geliebt werden, so wie wir sind. Zu wissen, dass es solche Orte gibt, mitten in unserem Alltag, ist ungeheuer hilfreich und wichtig. Sie nicht zu übersehen und nicht zu vergessen, kann den Druck von uns nehmen, selber einen Turm in den Himmel bauen zu wollen. Manche leiden unter Schuld, die sie belastet. Ein Denkmal für erfahrene Vergebung, die Zusage, dass Gott Schuld vergibt, heilt und entlastet. Ein Denkmal für jede hilfreiche und zärtliche Hand, die sich Bedrückten und Verfolgten liebevoll entgegenstreckt. All diese Denkmäler in unserem Leben sind Quellen der Kraft und der Nähe Gottes, die uns helfen können auf den ungewissen Wegen, die wir gehen.
Der Traum von der Himmelsleiter führt uns die überraschende und heilsame Gegenwart Gottes vor Augen. Jeder Ort, auch der profanste und alltäglichste, kann uns zu einem Ort werden, an dem der Himmel über uns offen steht. Die Himmelsleiter ist ein Bild göttlichen Segens und ein Gegenbild zu den heillosen Türmen, die wir allzuoft in den Himmel bauen wollen.
Jakob schläft. Jakob träumt. Jakob erwacht. Jakob geht seinen Weg - mit Gottes Segen. Amen.