Freitag, 24. Dezember 2010

Predigt zu Micha 5,1-4a am 1. Weihnachstag 25. Dezember 2010

Liebe Gemeinde,
ohne unseren heutigen Predigttext gäbe es die Weihnachtsgeschichte des Lukas nicht und wohl auch kein Weihnachtsfest. Wir wären ärmer – zweifellos. Denn es sind diese Worte des Micha, die Lukas zu seiner Geburtsgeschichte inspiriert haben. Der, der die Menschen um sich Gottes Nähe und Liebe erfahren liess, der, den die frühe Christenheit als Gottes Sohn und Heil der Welt bekannte – ihn liessen Mt und Lk in Bethlehem das Licht der Welt erblicken. War er nicht ihr Friede geworden? Hatte er nicht die Menschen in Kraft geweidet? Sie erinnerten sich an die uralten Worte des Micha. Sie vergewisserten sich – so würde man das heute wohl nennen – ihrer kulturellen Wurzeln.
Gott erwählt das Kleine und Verachtete. Diese Glaubenserkenntnis durchzieht wie ein roter Faden die heiligen Schriften der jüdischen und der christlichen Tradition. Sie ist ein Grundbestand unserer Kultur. Ohne diesen Glauben würden wir uns selbst verraten, unsere Identität aufgeben. Das ist nun nicht etwas, was wir uns stolz wie einen Orden an die Brust heften können, mit dem wir unsere kulturelle Überlegenheit demonstrieren könnten. Es ist viel mehr Auftrag und Berufung, aber auch unverbrüchliche Zusage Gottes an alle, die sich um Menschlichkeit und Güte bemühen, die das Kleine nicht verachten, die sensibel und mitfühlend sind und sich nicht gegen andere durchsetzen wollen.
Das gilt umso mehr, als die Geschichte Jesu von der Heiligen Nacht bis zu seiner Auferstehung und Himmelfahrt keine sichtbare Erfolgsgeschichte ist. War bei David die Kindheit als Hirtenjunge aus dem kleinen und unbedeutenden Bethlehem noch der Anfang späterer Grösse und Königsmacht, so ist aus dem Kind im Stall nicht mehr als ein umstrittener Wanderprediger geworden, den sie als Aufrührer ans Kreuz geschlagen haben. In dieser Geschichte bleibt das Kleine klein und doch geht von ihm eine Grösse aus, eine sanfte Macht, die Frieden schaffen kann, eine Botschaft der Menschlichkeit, die weiterwirkt. Gott erwählt das Kleine nicht zu äusserlich sichtbarer Grösse und Herrlichkeit, sondern zur Menschlichkeit, zur Versöhnung mit der eigenen Geschichte, zum Glauben, dass unsere Geschichte eine Geschichte mit Gott ist, dass Gott jedem einzelnen von uns nahe ist.
Weihnachten ist das Fest der grossen Gefühle und wir sollten uns dagegen wehren, diese grossen Gefühle lächerlich zu machen. Ohne die Sehnsucht nach himmlischem Frieden, nach Harmonie und Verständnis wären wir gewiss ärmer. Wir dürfen diese grossen Gefühle wahrnehmen, es geniessen, wenn etwas davon einströmt in unsere weihnachtliche Festlichkeit. Und was uns hilft, solche Harmonie zu empfinden, das sollten wir nicht verachten, weder die alten Lieder und Geschichten, noch die Geschenke, den festlich gedeckten Tisch, die Familienbesuche. Nur frei machen sollten wir uns von dem Druck, all das machen zu müssen, so empfinden zu müssen. Weihnachten unterbricht unseren Alltag, aber es hebt ihn nicht einfach auf. Auch an Weihnachten müssen Menschen leben mit Krankheit, mit der Ungewissheit einer lebensbedrohlichen Diagnose, oder einer bevorstehenden Operation. Auch an Weihnachten kriselt es in Ehen, machen Menschen einander das Leben schwer. Auch an Weihnachten gibt es Krieg und Gewalt, auch wenn manchmal – aber längst nicht immer - zumindest an diesen Tagen die Waffen ruhen. Auch an Weihnachten sind Menschen einsam, weil sie am Rand der Gesellschaft stehen. Und gerade an Weihnachten empfinden wir besonders schmerzlich, wenn der Tod uns einen lieben Menschen genommen hat.
„Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein grosses Licht und denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.“ So heisst es bei Jesaja. Und bei Micha: „Er wird weiden in der Kraft des Herrn und sie werden sicher wohnen.“ Dieses Licht, diese gute Nachricht lässt sich nicht erzwingen oder aufdrängen. Vielleicht aber leuchtet im Herzen eines Trauernden auf, was er an dem verstorbenen Menschen gehabt hat und es tröstet ihn über den Verlust und lässt ihn die Kraft finden, den Blick auch wieder nach vorne zu richten. Vielleicht kann dieses Licht im Herzen eines Kranken aufleuchten und ihm das Gefühl geben, dass es sich lohnt zu kämpfen, sich zu freuen über die Menschen, die für ihn da sind, zu vertrauen auf die Gegenwart Gottes auch im Leid. Vielleicht kann es sogar helfen, sich mit dem eignen Sterben zu versöhnen. Vielleicht kann dieses Licht der Weihnacht Menschen miteinander versöhnen oder doch den Schmerz über das, was zerbrochen ist, wahrzunehmen, ohne allein den anderen dafür verantwortlich zu machen. Vielleicht kann das Licht der Weihnachten Menschen die Gewissheit schenken, dass sie wichtig sind, dass sie dazugehören, dass es auch auf sie ankommt. An uns selber ist es, wahrzunehmen, wo wir das weihnachtliche Licht nötig haben. Erzwingen können wir es nicht, aber aufmerksam dafür sein und empfänglich, indem wir nicht das grosse vollkommene Glück erwarten, sondern die kleinen Zeichen, die unscheinbaren Dinge beachten. Gott schafft uns nicht eine vollkommene und heile Welt. Aber er will uns helfen, dass wir in den Bruchstücken unseres Lebens, dass wir in unserer Geschichte heimisch werden und sicher wohnen können. Es kommt nicht darauf an ein anderer zu werden, sondern der andere zu sein, der wir in Gottes Augen schon sind, sein geliebtes Kind. Denn er erwählt das Kleine, uns Kleine. Und niemand ist zu klein um Menschlichkeit zu erfahren und andere Menschlichkeit erfahren zu lassen.
Wenn wir Weihnachten feiern, dann spüren wir hoffentlich etwas von dieser Sehnsucht nach Frieden, die in uns steckt, von dem Bedürfnis, zuhause zu sein in unserem Leben, sich versöhnen zu können mit der eigenen Geschichte und hoffentlich können wir glauben, dass Gott das Kleine und Zerbrechliche erwählt und auch uns seine Nähe zuspricht. Und er ermutigt uns, die vielen Gelegenheiten zur Menschlichkeit zu erkennen und sie zu ergreifen. Amen.

Predigt zu Luk 2,1-20 und Joh 3,16f. am 24. Dezember 2010 (Christnachtfeier)

Liebe Gemeinde,

wir Menschen sehnen uns danach, dass unser Leben Bedeutung hat und wir mehr sind als eine Nummer. Wir sehnen uns danach, angesehen zu werden, geliebt zu werden und möchten nicht einfach austauschbar sein. Deshalb kann es uns auch verletzen, wenn jemand unseren Namen nicht mehr kennt oder sich an Persönliches nicht mehr erinnert, das wir ihm bei unserer letzten Begegnung erzählt haben. Und vielleicht reagieren wir in dieser Beziehung so verletzlich, weil wir in vielen Bereichen eben gerade erleben, dass Menschen austauschbar und ersetzbar sind. Gerade im Berufsleben sind Abläufe meist funktional durchorganisiert. Wenn jemand ausfällt, darf das System ja nicht zusammenbrechen, müssen die Abläufe weiter funktionieren. Bis zu einem gewissen Grad ist das unumgänglich. Umso wichtiger ist es aber, dass wir darauf achten, einander nicht nur als Funktionsträger wahrzunehmen und uns selbst und andere nicht nur über unsere Funktionen zu definieren - weder im beruflichen Alltag noch in unseren privaten Beziehungen. Wer sind wir, wenn wir aller Funktionen ledig sind, nackt und bloss wie das Kind in der Krippe?
Die biblische Weihnachtsgeschichte erzählt uns von der Geburt zu Bethlehem, von dem Kind in der Krippe. Sie erzählt uns: in diesem Kind in der Krippe sieht Gott uns an - nicht von oben, vom Himmel herab, sondern von unten, so dass wir uns zu ihm herabbeugen können. In dieser Geschichte geht es um das Heil in unserem Leben, das wir bei einem anderen suchen sollen, um das Heil und den Frieden, die nach der Botschaft der Bibel bei dem Kind in der Krippe von Bethlehem, bei dem Mann aus Nazareth zu finden sind. Es geht um die Urszene der Heiligen Nacht – Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegend. Diese Szene ist ein Stück Weltliteratur – gemessen an ihrer Wirkung durch die Jahrhunderte vielleicht sogar das grösste. Aber es bleibt die Frage: Stellt diese Urszene Menschen dar oder Denkmäler? Ist es eine Widerstandskraft gegen die Austauschbarkeit des Menschen, die Verlorenheit in einem Leben, das uns so undurchschaubar scheint? Oder doch nur Stoff für ein paar romantische Stunden im Jahr, denen dann wieder ein heilloser Alltag folgt? Es kommt darauf an, wie wir die Szene heute aufnehmen. Lukas jedenfalls hat einiges getan, damit sie nicht zum Denkmal wird. Er weiss darum, wie Menschen zu austauschbaren Objekten gemacht werden. Er benennt das römische Machtsystem, die Herrschaftsstrukturen mit dem Kaiser Augustus an der Spitze und einem System von Vasallen und Statthaltern darunter, von denen Cyrenius nur einer war, und denen es auf funktionierende Untertanen und nicht auf den einzelnen Menschen ankommt. Und der Anlass ist eine grosse Volkszählung, die Untertanen als zählbare Masse, an denen primär die Fähigkeit interessiert, Steuern und Abgaben zu entrichten. Josef und die hochschwangere Maria sind ein Teil dieser Masse, zu unbedeutend, zu wenig vermögend, um in einer der Herbergen der Stadt Unterkunft zu finden. Aber Lukas gibt ihnen ein Gesicht und eine Herberge in einem Stall. Dort lässt er das himmlische Kind das Licht der Welt erblicken, dort scheint das Heil der Welt auf. Wo alle Welt geschätzt werden sollte, da war dieses eine neugeborene Kind nicht von Bedeutung. Lukas aber richtet unseren Blick auf diesen einen, dieses austauschbare, verletzliche Menschenkind. Seine Geburt bringt die Engel zum singen, setzt die Hirten in Bewegung, lässt die Sehnsucht nach Frieden auf Erden neu lebendig werden. Bei Matthäus sind es sogar Weise, die von ferne her dem Stern folgen, um das Kind zu sehen. Und im Johannesevangelium heisst es: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.“ Diese Worte sind Teil von Jesu Antwort auf die Frage des Nikodemus, wie ein Mensch denn neu geboren werden könne, wenn er schon alt ist. Sie bedeuten für mich, dass wir neu geboren werden können, wenn wir spüren, dass wir angesehen und geliebt sind. Denn wer angesehen und geliebt ist, der ist nicht mehr einfach austauschbar. Wir dürfen darauf vertrauen, dass wir von Gott angesehen sind und wir können einander ansehen und so einander ein Gesicht geben.
Diese Worte und die Geschichte aus dem Stall von Bethlehem sind für mich Urbilder der Menschlichkeit, der Liebe und Güte unseres Gottes. Sie lehren uns die Auflehnung gegen alles, was die Menschen zu austauschbarem Krempel macht. In diesem einen Kind sagt uns Gott: Du bist mir wichtig, du mit allem was zu dir gehört, mit deinen Macken, mit dem was dich bedrückt, mit allem was dich glücklich macht. Die Weihnachtsgeschichte leugnet das schreckliche Gefühl der Austauschbarkeit von Menschen nicht, aber sie setzt ihm etwas entgegen, die Liebe Gottes, die in diesem verletzlichen Kind in der Krippe lebt, mitten unter uns und von dem ein Licht ausgeht, das auch in unser Herz hineinleuchten kann. Lukas setzt nicht der idealen Kleinfamilie ein Denkmal, sondern er lässt das Heil Gottes hineintreten in das Leben ganz normaler, scheinbar austauschbarer Menschen, in einen schäbigen Stall, in einem schutzbedürftigen Kind. Gerade darum ist Weihnachten das Fest der Menschlichkeit, der gefährdeten, zerbrechlichen Menschlichkeit, der göttlichen Würde jedes einzelnen Menschen.
Dieses Licht, das uns in der Weihnachtsgeschichte aufleuchtet, soll hineinstrahlen in unseren Alltag. Möge es denen leuchten, die vor einer gesundheitlich ungewissen Zukunft stehen, damit sie spüren, dass Gott bei ihnen ist und Menschen da sind, für die sie wichtig und unersetzbar sind. Möge es denen leuchten, die sich abgeschoben und überflüssig vorkommen, damit sie erkennen, dass sie wertvoll sind. Möge es denen leuchten, die trauern um einen Freundschaft oder Partnerschaft, damit sie auch im Scheitern noch erkennen, dass der Schmerz und die Wut auch ein Zeichen dafür sind, dass Menschen nicht einfach ersetzbar sind. Möge es uns allen leuchten, da wo wir uns klein und austauschbar fühlen, damit wir wahrnehmen, wie wichtig wir füreinander, wie wichtig wir für Gott sind. Da wo wir menschlich handeln, wie unvollkommen auch immer, da wo wir einander menschlich begegnen, aneinander Anteil nehmen und einander spüren lassen, dass der andere zählt, da wird es Weihnachten, da stimmen die Engel ihren Lobgesang an: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen, an denen Gott Wohlgefallen hat“. Amen.

Samstag, 11. Dezember 2010

Predigt zu Luk 1,26-33.38 am 12. Dezember 2010

Liebe Gemeinde,
wie oft ist diese biblische Szene aus dem Lukasevangelium in der Kunst dargestellt worden: der Engel Gabriel kündigt Maria die Geburt Jesu an. Viele Künstler hat die Verkündigungsszene zu Bildern von bezaubernder Schönheit und anrührender Zärtlichkeit inspiriert. Es ist eine berührende Szene, eine Szene, die sich nicht in der Öffentlichkeit, sondern in der Kammer eines jungen Mädchens abspielt. Nur sie und der Engel sind beteiligt – aber für Lukas kündigt sich in dieser intimen Szene, in dieser Stille und Abgeschiedenheit etwas an, was die Welt verändern und prägen wird. Hier wird intoniert, was der Engel dann den Hirten auf den Feldern von Bethlehem verkündet: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch grosse Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist heute der Heiland geboren.“ Hier beginnt, was die Engelchöre jubilieren lässt: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“

In der Verkündigungsszene geht es nicht nur um die Botschaft, die damals Maria sich zu Herzen genommen hat. Sie ist überliefert und in der Kunst tradiert worden, weil sie auch für uns eine existentielle Botschaft trägt. Mit Blick auf die Weihnachtsgeschichte hat das der Mystiker Angelus Silesius einmal wunderbar formuliert: "Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren // und nicht in dir; du bleibst noch ewiglich verlorn." Es geht nicht allein darum, was damals zwischen Nazareth und Bethlehem geschah. Maria ist unsere Schwester im Glauben und der Engel redet auch zu uns. Welche Botschaft hat er uns zu sagen? Was sagt er uns, wenn wir spüren, dass die Routinen unseres Alltags uns manchmal abstumpfen lassen und uns alle Lebendigkeit und Kraft nehmen? Womit richtet er uns auf, wenn wir traurig oder gar verzweifelt sind? Was vernehmen wir, wenn wir den Weg nicht mehr sehen und in Sackgassen gefangen sind? Welche Worte ermutigen uns, wenn wir uns nur wenig zutrauen oder wenn wir gebeugt sind durch schwere Lasten oder auch durch Fehler und Schuld? Können wir dann wie Maria den Besuch des Engels wahrnehmen, und uns aufmerksam machen lassen auf das, was in uns geboren werden will, auf das Heilsame und Tröstende, das in unseren Herzen heranwächst? Haben wir Augen und Ohren für die Menschen, die Gott uns dann als seine Engel sendet, um uns zu trösten, aufzurichten, vielleicht auch zur besinnung zu bringen?

So ist das erste, was ich aus dieser Geschichte mitnehme, eine Einladung zur Achtsamkeit. Achte auf die Botinnen und Boten Gottes in deinem Leben. Gott sendet seine Boten. Sie reden zu uns, in unseren Träumen, durch die innere Klarheit, die in uns wächst und vor allem auch durch die Menschen, die uns begegnen, durch alltägliche Ereignisse, die uns berühren und verändern. Achtsam sein auf die guten, die klärenden Worte, die uns gesagt sind – darauf kommt es an, und es müssen beileibe keine Männer mit Flügeln sein, die Engel. Aber die Engel Gottes begleiten auch uns – jede und jeden und sie haben uns viel zu sagen. Sie können uns die Furcht nehmen. Ja, es fällt mir immer wieder auf, dass der häufigste Satz aus Engelmund in der Bibel lautet: „Fürchte dich nicht!“ Und wer von uns hätte das nicht immer wieder nötig, dass da einer sagt: Hab keine Angst, Gott ist bei dir und er meint es gut mit dir. Die Engel können uns helfen, das Gute in unserem Leben zu entdecken, sie können uns zeigen, was in uns und durch uns neu geboren wird. Das erste ist die Achtsamkeit, damit wir die Engel, die Gott uns sendet, nicht übersehen.

Das Zweite aber ist die demütige und zugleich selbstbewusste Haltung der Maria. Was hat man alles auf dem Rücken dieser Frau abgeladen. Wie hat man sie zum Streitthema der Konfessionen gemacht. Aber wir brauchen Maria nicht als ewige Jungfrau und Himmelskönigin, als Madonna, der nach und nach alle menschlichen und fehlerhaften Züge genommen wurden. Wichtiger für uns, denke ich, ist, was uns mit ihr verbinden kann. Maria, unsere Schwester im Glauben, nimmt den Engel, der in ihr Leben tritt, wahr. Sie übersieht ihn nicht. Sie nimmt seine Botschaft ernst, auch wenn sie noch so unglaublich scheinen mag. Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Das lässt sie sich gesagt sein. Mir geschehe nach deinem Wort. Sie nimmt den Weg an, den Gott sie führt. Sie macht ihn zu ihrem eigenen Weg, den sie selbstbewusst geht.

Lassen wir uns nicht in die Irre führen von den Worten „siehe, ich bin des Herrn Magd“. Maria ist nicht unterwürfig. Ich sehe sie eher als starke Frau. Sie stellt sich unter den Willen Gottes, gewiss. Aber sie tut das nicht gebeugt, sondern in aufrechter Haltung. Ja, sie will diesem Kind das Leben schenken, das Gottes Sohn genannt werden soll. Sie nimmt diese schier unglaubliche Berufung an. Das ist für mich die zweite wichtige Botschaft dieser Szene. Wer sich unter den Willen Gottes stellt, der kann sein Schicksal annehmen. Der muss nicht beständig gegen sein Schicksal rebellieren und irgendwelchen Träumen hinterher rennen, aber der muss auch nicht gebeugt unter der Last des Schicksals gehen. Wenn ich meinen Weg als Weg Gottes verstehen kann, dann darf ich auch glauben, dass Gott auf diesem Weg etwas mit mir vorhat, dass er mir etwas zutraut und dass dieser Weg mit all seinen Umwegen und Irrwegen ein lebenswerter, ein sinnvoller Weg ist. Und darum darf ich ihn auch aufrecht gehen. Denn Demut gegenüber Gottes Weisheit verträgt sich sehr wohl mit einem aufrechten Gang. Maria, die starke, aufrechte und zugleich demütige Frau kann uns ein Vorbild sein, besonders für Frauen, aber nicht nur für sie, weil sie uns lehrt, einen Weg zu gehen, der vielleicht oft nicht einfach ist, der aber doch heilvoll und segensreich ist, wenn wir den Segen, den Gott uns auf diesem Weg schenkt, auch wahrnehmen.

Das dritte, was mir an dieser Szene wichtig ist, das ist das Kind. Dieses Kind ist mehr als ein besonderer Mensch. Darum betont Lukas die Vaterschaft Gottes, die natürlich nicht biologisch gemeint ist, ebenso wie die Jungfrauengeburt keine biologische, sondern eine theologische Aussage ist. In diesem Kind kommt Gott selbst zu uns. In diesem Kind wird Gott ganz menschlich. In diesem Kind erweist Gott seine Liebe zu allen Menschen. Gott will unser Heil und unser Leben, darum kommt er selbst zu uns. Dieses Geheimnis feiern wir in der Heiligen Nacht. Das ist der Kern von Weihnachten, die Friedensbotschaft auf den Feldern in Bethlehem, das verletzliche Kind in der Krippe, von dem ein helles Licht ausgeht. Dieses Licht, diese Friedensbotschaft will in uns und unter uns zur Welt kommen, will heute neu geboren werden, in Menschen, die ihr Glauben schenken, die das Licht weiter tragen, den Frieden suchen mit sich selbst und untereinander. Ich wünsche ihnen allen ein lichtes und friedvolles Weihnachtsfest, Engel, die ihnen unterwegs begegnen und die Kraft, auf ihrem persönlichen Weg die göttliche Berufung, den göttlichen Segen zu erkennen. Amen.

Samstag, 4. Dezember 2010

Predigt zum Adventslied "O Heiland reiss die Himmel auf" am 5. Dezember 2010

„Mit brennender Geduld“ heisst ein Roman des chilenischen Schriftstellers Antonio Skarmeta, in dem er dem Dichter Pablo Neruda und dessen Postboten ein Denkmal setzt. Ich habe den Roman nicht gelesen, aber den Titel finde ich wunderbar - und wunderbar passend zu unserem Adventslied „O Heiland reiss die Himmel auf“, das uns der Chor gerade in der Vertonung von Johannes Brahms gesungen hat.

Dieses Adventslied ist anders als die meisten anderen. Es fehlt ihm der freudig-gewisse Klang eines „Macht hoch die Tür“, der bescheiden-demütige Ton von „Wie soll ich dich empfangen“ oder das beschreibende Lob von „Nun komm, der Heiden Heiland“, das wir am Ende unseres Gottesdienstes singen werden. Und es ist auch so ganz anders wie der Lutherchoral „Gelobet seist du Jesus Christ“, den wir nachher im Wechsel mit dem Chor noch singen werden und in dem ja auch vom Jammertal die Rede ist, aus dem der Sohn uns herausführt.

Was dieses Adventslied in meinen Augen von den meisten anderen unterscheidet, das sind die vielen O’s und Ach’s, dieser drängende, fast ungeduldige Ton. Da beschreibt nicht einer selbstsicher und in tiefer Gewissheit, was Gott für uns tut, sondern sehnt herbei, dass Gott endlich handelt. Nicht öffnen soll er den Himmel, sondern aufreissen; nicht herabkommen, sondern herablaufen. Der Tau soll nicht vom Himmel träufeln, sondern fliessen. Darf man den Heiland so bedrängen? So möchte man fast fragen.

Der Text dieses Adventsliedes ist im Jahr 1622 entstanden. Es waren die Anfangsjahre des 30-jährigen Krieges. Geschrieben hat es der Jesuitenpater Friedrich Spee. Er hat nicht nur die Schrecken dieses Krieges erlebt, er hat auch als Beichtvater den Hexenwahn miterlebt und schon früh begriffen, wie ausweglos die Situation für Frauen war, die der Hexerei beschuldigt wurden und denen Leugnen als Halsstarrigkeit und ein Geständnis als Anerkennung ihrer Schuld ausgelegt wurde. Spee hat gegen den Hexenwahn gekämpft. Und er wurde dafür selbst zu einem Opfer der Verfolgung. Er wurde ins Kriegsgebiet nach Trier geschickt, wo er bei der Pflege der Kranken und Verletzten an einer Seuche starb. Das war 1635. Spee war 44 Jahre alt.

Ja, so drängend bitten und sehnsuchtsvoll erwarten kann vermutlich nur jemand, der sich vom Leid und von der Ungerechtigkeit anrühren lässt, dem es keine Ruhe lässt, dass die Dinge sind, wie sie nun einmal sind und der von seinem Gott noch etwas erwartet. In diesem drängenden Bitten verbindet sich eine tiefe Menschlichkeit mit einem ebenso tiefen Glauben. Und genau das ist für mich das Beeindruckende und Ermutigende an diesem Adventslied und an Friedrich Spee.

In diesem drängenden Bitten höre ich aber auch eine wichtige Anfrage an uns. Sind wir nicht oft viel zu nüchtern und abgeklärt? Wir kennen die Sachzwänge und beherrschen die Kunst des Möglichen. Wir finden uns ab und suchen gute Gründe. Wir sind bescheiden und erwarten nicht zuviel. Wir haben gelernt, dass sich manche Dinge eben nicht ändern lassen, warum wir nicht viel machen können, wenn Menschen verhungern oder von unserem Wohlstand ausgeschlossen sind. Wir rechnen nicht mehr mit Gott in unserem durchorganisierten Leben - oder wenn, dann benutzen wir ihn zum Auffüllen unserer Defizite und der Lücken unseres Weltgebäudes oder zur Abgrenzung von den Andersgläubigen oder den Ungläubigen. Was erwarten wir eigentlich vom Leben, von Gott? Welche Sehnsüchte erfüllen uns? Was ist uns so wichtig, dass es uns in unserem Innersten berührt und mit brennender Geduld erfüllt? Gibt es in unserem Leben etwas, das uns dazu drängt zu rufen: O Heiland reiss die Himmel auf? Wenn wir immer nur mit dem Möglichen rechnen, haben wir vermutlich vom Advent noch wenig begriffen.

Ruhe und Abgeklärtheit sind im Leben gewiss wertvolle Qualitäten und es gibt wohl für jedes von uns Momente, wo wir uns mehr davon wünschen. Aber - und daran erinnert uns das Adventslied „O Heiland reiss die Himmel auf“ - die vorwärtsdrängende Sehnsucht, das erwartungsvolle Hoffen und das hoffnungsvolle Erwarten sind ebenso wichtig. Und das Lied drückt diese Sehnsucht in wunderbaren, kräftigen poetischen Bildern aus, in Bildern, die alles andere sind als ein Weltverbesserungsprogramm, weil sie alles von Gott erwarten. In Bildern aber auch, die uns in Bewegung bringen, weil sie darauf hoffen und darum bitten, dass Gott uns in Bewegung bringt. Wenn Schloss und Riegel weg sind und der Himmel offen, dann sind wir frei, einzutreten und hinauszutreten in den weiten Raum des Lebens, das Gott uns schenkt. Gott öffnet uns diesen Raum und er stärkt uns den Rücken. Den Weg gehen aber müssen und dürfen wir selber. Wenn Tau und Regen vom Himmel fliessen, dann wird der Boden fruchtbar. Der Boden aber sind wir und es braucht unsere Bereitschaft, Neues wachsen zu lassen.

Wenn wir am liebsten hätten, dass alles so bleibt wie es ist, dann wird uns diese adventliche Sehnsucht fremd bleiben. Wenn wir nicht mehr erwarten als die Geschenke zum Fest (und ich will damit überhaupt nichts gegen Geschenke sagen), dann wird uns die Weihnachtsbotschaft ein Märchen aus uralten Zeiten bleiben. Wenn wir aber uns anstecken lassen von dieser adventlichen Sehnsucht, dann dürfen wir unseren Gott auch bedrängen, ihn herausfordern. Dann müssen wir nichts mehr verdrängen von unseren Sorgen und Ängsten. Dann müssen wir uns nicht abfinden mit dem, was anders werden muss. Sehnen wir uns nach dieser göttlichen Lebensenergie? Sind wir bereit, uns bewegen und überraschen zu lassen? Wollen wir uns berühren lassen und uns öffnen? Wollen wir leben mit brennender Geduld? Dann können die Worte dieses Adventslieds wirklich zu unseren eigenen werden, aus tiefstem Herzen gesungen:

O Heiland, reiss die Himmel auf,
herab, herab vom Himmel lauf,
reiss ab vom Himmel Tor und Tür,
reiss ab, wo Schloss und Riegel für.

O Gott, ein’ Tau vom Himmel giess,
im Tau herab, o Heiland, fliess.
Ihr Wolken, brecht und regnet aus
den König über Jakobs Haus.

O Erd, schlag aus, schlag aus, o Erd,
dass Berg und Tal grün alles werd.
O Erd, herfür dies Blümlein bring,
o Heiland, aus der Erden spring.

Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt,
Darauf sie all’ ihr’ Hoffnung stellt?
O komm, ach komm vom höchsten Saal,
Komm tröst uns hier im Jammertal.

O klare Sonn, du schöner Stern,
dich wollten wir anschauen gern;
o Sonn, geh auf, ohn deinen Schein
in Finsternis wir alle sein.

Wir dürfen Gott mehr zutrauen als unsere kleinen Wünsche und Pläne. Die überfliessende Fülle dieser Bilder erinnert uns an die göttliche Lebenskraft, die wir uns niemals selber geben können und die mehr und anders ist als unsere Träume. Advent ist die Zeit der Erwartung. Erwarten dürfen wir nicht weniger als das Kommen Gottes, den herabfliessenden Tau göttlichen Segens in unserem Leben. Erwarten dürfen wir mit brennender Geduld. Amen.