Samstag, 25. Juni 2011

Predigt über Lukas 15,1-10 (bzw. 32) am 26. Juni 2011

Liebe Gemeinde,
wieder einmal hat Jesus sich mit Leuten umgeben, die nicht gerade den besten Ruf genossen. Bzw. sie haben seine Nähe gesucht und er hat sie nicht weggeschickt. Sünder und Zöllner waren es und Jesus war sich nicht zu schade, sich mit ihnen abzugeben, mit ihnen zu essen. Für die rechtschaffenen Bürger, die Pharisäer und Schriftgelehrten, war das skandalös. Zu solchen Subjekten hält man besser Abstand. Aber Jesus kümmert sich wenig darum, was sich angeblich gehört. Was für ihn zählt, das sind die Menschen, die am Rande stehen, die ihn brauchen, die auf Anerkennung und Gemeinschaft angewiesen sind. Deshalb erzählt Jesus, als er von den Pharisäern und Schriftgelehrten angegriffen wird, die Gleichnisse vom Verlorenen. Drei Gleichnisse sind es – und immer geht es darum, wie wichtig in Gottes Augen der einzelne Mensch ist, geht es um die menschliche Würde, die unabhängig ist von allem Nutzen, aller Leistung, allem Rentabilitätserwägungen. Gott sucht den einen, die eine – gerade die, denen von vielen ein Recht auf Beachtung abgesprochen wird. Und am Ende steht immer ein Fest. Diese überschwängliche Freude und Dankbarkeit, die so unverhältnismässig erscheint, sie ist ein ganz wichtiger Zug dieser Gleichnisse.
Das erste Gleichnis ist vielleicht das Bekannteste. In mancher Stube hängt das Bild des guten Hirten, der sein verlorenes Schaf, nachdem er es wieder gefunden hat, auf den Schultern nach Hause trägt. Ein berührendes Bild, das uns zeigen will: so kümmert Gott sich um jedes Einzelne, so wichtig sind wir für ihn. Und zwar, darauf kommt es ganz besonders an – nicht nur die Frommen, die Braven, die Unkomplizierten, sondern gerade die, die sich verirrt haben, auf Abwegen sind.
„Welcher Mensch ist unter euch…“ Dieser Anfang des Gleichnisses unterstellt, dass es gar keine andere Möglichkeit gibt, dass es einfach logisch und offensichtlich ist, dem einen verlorenen Schaf nachzugehen und die 99 allein in der Wüste zurückzulassen. Aber ist es das wirklich? Stellen wir uns einmal ein ganz anderes Gleichnis vor: Wer von euch würde nicht, wenn er 100 Schafe hat und eines davon verliert, Sorge tragen zu den 99 und das eine opfern, denn wer weiss ob er es findet und nicht inzwischen der Wolf kommt und die 99 überfällt. Ist diese Logik nicht auch überzeugend, vielleicht auf den ersten Blick sogar überzeugender als die Logik Jesu? Auch heute bekommen wir oft solche Sätze zu hören: Wer von euch würde nicht …?
Wer von euch würde nicht 100 Mitarbeiterinnen entlassen, wenn dadurch 900 ihre Stelle behalten? Wer von euch würde nicht Ja dazu sagen, dass an embryonalen Stammzellen geforscht wird, wenn er bedenkt, dass er selbst dadurch einmal von einer schweren Krankheit geheilt werden könnte? Wer von euch würde bezweifeln, dass es sinnvoller ist, einem 65-jährigen eine teure Hüftoperation zukommen zu lassen als einem 85-jährigen. Wer von euch würde nicht die Zuwanderung begrenzen und Flüchtlinge wegweisen, wenn so viele Schweizer arbeitslos sind?
Erst wenn wir genauer hinsehen, merken wir, wie fragwürdig diese Logik häufig ist. Erst wenn wir den einzelnen Menschen mit seinen Schmerzen, mit seiner Notlage, mit seinem Schicksal sehen, erkennen wir, wie unmenschlich diese Logik sein kann. Und dann merken wir, dass Jesu Logik eine andere ist. Auf den einzelnen Menschen kommt es an, er ist wichtig. Der Hochbetagte ist es wert, dass er die teure Operation bekommt, die ihn von seinen Schmerzen befreit. Die Behinderte ist es wert, dass sie alle mögliche Unterstützung bekommt. Der Flüchtling ist es wert, dass er Zuflucht bekommt. Der, der auf die schiefe Bahn geraten ist, ist es wert, dass wir ihm die Möglichkeit geben, wieder neu anzufangen. Der mich verletzt hat, ist es wert, dass ich auf ihn zugehe und ihm die Hand reiche.
Sie könnten sicher noch viele Beispiele hinzufügen. Der Hirte im Gleichnis geht dem einzelnen verirrten Schaf nach. Und so geht Gott jedem Einzelnen von uns nach, sagt uns das Gleichnis. Und ebenso sollt auch ihr den Menschen nachgehen, euch hüten davor, andere abzuschreiben. Denn wer jemanden abschreibt, der nimmt ihm die Würde. Wer den anderen zum hoffnungslosen Fall erklärt, der nimmt ihm die Würde. Wer Menschen als Mittel zum Zweck benutzt, der nimmt ihnen die Würde. Die Würde des Menschen aber ist unantastbar.
Wirtschaft soll den Menschen dienen – dieses Plakat, das vor einigen Jahren während dem Weltwirtschaftsforum in Davos an zahlreichen Kirchtürmen hing, macht uns die Botschaft dieses Gleichnisses im Ökonomischen bewusst. Es ist klar, dass es Situationen gibt, wo Betriebe um Entlassungen nicht herumkommen. Aber wo diese nicht für die Existenz des Unternehmens, sondern zur Maximierung des Profits vorgenommen werden, da wird die Würde des Einzelnen, dessen Existenz und Selbstwertgefühl an der Arbeit hängen, krass missachtet.
Jeder einzelne Mensch ist wichtig, jeder ist wertvoll. Egal, was er getan oder versäumt hat, egal, wohin ihn sein Schicksal oder seine Entscheidungen geführt haben. Niemanden sollen wir endgültig auf seine Geschichte, seine Fehler, sein Versagen festlegen. Und wenn einer wiedergefunden wird, wenn einer sein Glück, seinen Weg findet, dann ist das ein Grund zum Feiern. Können wir uns am Glück der anderen freuen und mit ihnen feiern, auch bei denen, wo wir manchmal das Gefühl haben, dass sie nicht besonders viel taugen? Können wir jemand zutrauen, dass er einen anderen Weg gehen kann als bisher und uns dann mit ihm freuen? Oder fragen wir dann eher: Womit hat der das verdient? Das wird sicher nicht von Dauer sein!
Statt Neid, Missgunst und Ausgrenzung laden die Gleichnisse vom Verlorenen ein zum Fest aus Freude über das Wiedergefundene. Und im dritten Gleichnis, dem vom verlorenen Sohn, das ich nicht vorgelesen habe, das sie aber sicher kennen, da kann der ältere Sohn sich nicht mitfreuen. Er findet das Verhalten des Vaters ungerecht, der seinem nichtsnutzigen Bruder ein Fest ausrichtet. Verständlich ist seine Reaktion und dennoch: mit seinem Verhalten, seiner Weigerung mitzufeiern, zeigt er, dass er die Liebe seines Vaters nicht begriffen hat, dass das Gift des Neides und des Urteilens ihn unfähig macht, sich zu freuen. Denn was geht ihm verloren, wenn er mitfeiert? Nichts – nur mag er seinem Bruder das Glück und das Fest nicht gönnen. Verurteilt nicht, sagt Jesus den Pharisäern und Schriftgelehrten, sondern freut euch mit, wenn diese Sünder und Zöllner bei mir Gemeinschaft finden und einen neuen Weg entdecken. Schreibt sie nicht ab, sondern freut euch mit an ihrem Glück. Euch wird ja dadurch überhaupt nichts weggenommen.
Verurteilt nicht, sondern achtet auf die Würde jedes Einzelnen, auch und gerade derer, die an den Rändern unserer Gesellschaft stehen. Verurteilt nicht, sondern freut euch über jeden, der wieder eine Chance bekommt. Wenn wir den Menschen nachgehen – im Auftrag unseres Gottes – dann bekommen Menschen Chancen, spüren, dass sie wichtig sind, kann sich etwas verändern in ihrem Leben.
Freude über das Wieder gefundene soll bei uns sein und wir dürfen auch darauf vertrauen, dass Gott auch uns sucht, wenn wir einmal in die Irre gehen, durch dunkle Täler hindurch müssen, nicht mehr weiter wissen. Auch für uns gilt: Jedes Einzelne ist in Gottes Augen ungeheuer wertvoll. Jeder Mensch hat seine unantastbare Würde und ist kostbar. Amen.

Sonntag, 12. Juni 2011

Predigt am Pfingstsonntag 12. Juni 2011 über Apostelgeschichte 2,1-18

Liebe Pfingstgemeinde,

es ist ein Wunder. Da zieht ein Wanderprediger durch Galiläa und erzählt den Menschen vom lieben Gott. Die meisten nehmen wohl kaum Notiz von ihm. Einige schreiben ihm zwar Wundertaten zu. Auf jeden Fall spürt mancher, dass dieser Jesus von Nazareth etwas Besonderes ist, dass eine besondere Kraft und Ausstrahlung von ihm ausgeht.

Die wachsende Zahl seiner Anhängerinnen und Anhänger macht die Behörden unruhig - nicht im fernen Rom, dort hat man von den Ereignissen nichts vernommen - nur draussen in der Provinz Palästina am Rande der römischen Welt. Bevor er noch mehr Unruhe stiften kann, schlägt man Jesus ans Kreuz - wie so viele vor und nach ihm.

Und die Rechnung geht zunächst einmal auf. Ob sich die Freunde Jesu - wie es in der Apostelgeschichte heisst - in ein Obergemach in Jerusalem zurückgezogen haben oder zu ihren Familien und Berufen zurückkehrten, wissen wir nicht. Aber ihre Trauer und Mutlosigkeit können wir erahnen. Trotzdem liess sie die Erfahrung des gemeinsamen Weges mit Jesus von Nazareth nicht los. Sie glaubten, dass er nicht im Tod geblieben ist. sie hielten fest an seiner Botschaft und an der Gemeinschaft untereinander. Und sie fingen an, anderen davon zu erzählen, andere davon zu begeistern.

Etwa 40 Jahre später ist aus dem mutlosen und traurigen Freundeskreis eines Wanderpredigers, den sie gekreuzigt haben, eine Gemeinschaft geworden, die sich bis nach Rom und Kleinasien ausgebreitet hat. Es sind noch immer klein Gemeinden, die sich in Privathäusern treffen. Aber sie sind erfüllt von einer besonderen Kraft und sie sind spürbar anders als ihre Umwelt.

Es ist ein Wunder, dass aus der verstreuten und entmutigten Jüngerschar eine Gemeinschaft werden konnte, die sich vor allem in den Städten der damaligen Welt ausbreiten konnte und soziale Grenzen sprengte. Und in Klammern: es ist ein Wunder, dass diese Gemeinschaft - trotz allen Fehlern und menschlichen Unzulänglichkeiten - auch heute 2000 Jahre später noch existiert und in vielen Weltgegenden weiter ausbreitet.

Dieses Wunder hat einen jungen Mann - wir nennen ihn Lukas - veranlasst, die Geschichte dieses Jesus von nazareth und die Anfänge der christlichen Gemeinde zu erzählen. Und er hat diese Wunder, dass aus der mutlosen Jüngerschar Kirche werden konnte, verdichtet in der Pfingstlegende. Die Pfingstlegende erzählt nicht als Augenzeugenbericht von einem erstaunlichen öffentlichen Event in jerusalem gut 50 Tage nach der Kreuzigung Jesu. Sie erzählt in symbolischer Bildkraft von dem Wunder, dass die christlichen Anfänge ausmacht und will diesen Geist und diese Kraft des Anfangs wachhalten und neu entfachen. Die Kraft, die dieses Wunder bewirkt, ist für Lukas die Kraft des heiligen Geistes. In der Pfingstlegende wird uns erzählt, dass die Verheissung „ihr werdet die Kraft des heiligen Geistes empfangen“, zur inneren Gewissheit wurde: „Wir haben die Kraft des heiligen Geistes empfangen.“

Diesem Geist von Pfingsten und was er bedeutet, möchte ich in einigen Andeutungen nachgehen. Und ich schicke eine Art Warnhinweis voraus: Der Pfingstgeist, der heilige Geist ist ein Geist des Wandels. Wer möchte, dass immer alles beim Alten bleibt, sollte sich besser nicht auf diesen Geist einlassen.

1. Der Pfingstgeist ist zuerst einmal der Geist des freien Wortes. Eine Gruppe von Begeisterten ergreift das Wort – ohne jegliches Amt und jegliche Autorität. Es ist ein Hauch von Speaker’s Corner in dieser Pfingstgeschichte. „Wem das Herz voll ist, dem geht der Mund über.“ (Mt 12,34). Pfingsten ist für mich ein urdemokratisches Fest. Und Kirche muss eine Gemeinschaft von Menschen sein, in der jede und jeder Gehör findet - egal ob mit Amt und Autorität oder nicht, ob mehr oder weniger intelektuell, ob er nun die übliche Kirchensprache beherrscht oder scheinbar völlig unfromm redet, auch die mit den ketzerischen und vermeintlich abwegigen Ideen und Gedanken. Der Pfingstgeist hält sich nicht an unsere Vorgaben, was sich hier bei uns gehört.

2. Pfingsten ist ein Fest der Verständigung. Es ist das biblische Gegenbild zum Turmbau zu Babel. Während dort die Menschen einen gigantischen Turm bis zum Himmel bauen wollen und darüber die Fähigkeit verlieren, sich zu verständigen, sprechen sie in der Pfingstgeschichte die Sprache des Herzens und finden so zur Verständigung. Einen Turm bis in den Himmel kann man nur bauen, wenn man das Ziel nie aus den Augen verliert und alles nach Befehl und Gehorsam funktioniert. Dann aber bleiben die Menschen auf der Strecke. Sie gehorchen vielleicht, aber sie verstehen einander nicht mehr. In der Pfingstlegende steht ein Reden im Zentrum, das von Herzen kommt und Menschen in ihren Herzen erreicht. Da sind die Erfahrungen und Träume der Alten ebenso wichtig wie die Träume und Ideen der Jungen. Da wird nicht unbeirrbar ein Ziel verfolgt, sondern nach Verständigung und Verständlichkeit gesucht. Damit lassen sich zwar keine gigantischen Türme bauen, aber ein menschliches und erfülltes Zusammenleben.

3. Pfingsten ist ein Fest der Gemeinschaft. Darum ist es eben auch der Geburtstag der Kirche. Der Pfingstgeist lässt nicht jeden in der Vereinzelung seiner Begeisterung zurück, sondern verbindet Menschen über Grenzen der Sprache, der Politik, des Geschlechts, der sozialen Gruppen und der Generationen hinweg.

4. Der Pfingstgeist ist der Geist der Freiheit. Er weht, wo er will. Keine Institution, keine Gruppierung, keine Religion kann einfach darüber verfügen. Darum kann eine Religion oder Kirche nur dann sich auf diesen Geist berufen, wenn sie Freiheit ermöglicht, die Freiheit des Wortes, der Gedanken, des persönlichen Glaubens.

5. Das hebräische Wort für den Geist ist Ruach. Es ist weiblich und bedeutet auch Wind und Atem. Mit seinem Atemhauch belebt Gott in der biblischen Schöpfungsgeschichte die Menschen. Mit jedem Atemzug bin ich als mit dem göttlichen Geist und mit allen Lebewesen verbunden.

6. Darum ist der Pfingstgeist auch der Geist der Meditation, des bewussten Atmens, der Achtsamkeit, der Präsenz im Hier und Jetzt.

7. Der Pfingstgeist ist aber auch ein kritischer Geist. Begeisterung allein kann auch ein Strohfeuer sein, kann blind machen und uns um den Verstand bringen. Drum ist es wichtig, das, was uns begeistert und erfüllt, auch der kritischen Prüfung zu unterziehen und am Massstab der Liebe und der Gemeinschaft zu messen.

8. Der Pfingstgeist ist auch ein Geist des Friedens. „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir“ heisst es bei Augustin.

9. Und er ist zugleich der Geist des Wandels. Wer möchte, dass immer alles beim Alten bleibt, sollte sich besser nicht auf diesen Geist einlassen. Gerade unsere reformierte Kirche beruft sich ja darauf, eine ständig sich erneuernde Kirche zu sein, eine Kirche, der der Wandel als Wesensmerkmal eingeschrieben ist. Aber wie oft hängen wir in Wirklichkeit daran, dass alles beim Alten bleiben möge und haben mehr Angst vor Veränderungen und Aufbrüchen innerhalb und ausserhalb unserer Kirchenmauern. Dabei brauchen wir die Querdenker, die Kreativen, die Veränderungswilligen. Nicht dass Veränderung und Erneuerung prinzipiell gut wären. Aber wir brauchen keine Angst davor zu haben.

10. Der Geist weht, wo er will. Er hält sich nicht an Grenzen der Religion oder Konfession. Aber ich glaube, dass es zwei Dinge gibt, woran man ihn/sie erkennen kann: Der Geist lässt Menschen aufatmen und zwingt und knechtet nicht und er befähigt zu Liebe und Toleranz.

Freitag, 3. Juni 2011

Predigt zu Christi Himmelfahrt am 2. Juni 2011 über 1. Könige 8,22-24.26-28

„wo wohnt denn der liebe Gott?“ - das ist eine dieser Kinderfragen, die so naiv klingen und doch tiefgründiger sind als wir auf den ersten Blick meinen. „Der liebe Gott wohnt im Himmel“, sagen wir den Kindern dann oft. Und das ist ja auch richtig. Aber wenn das Kind dann weiterfragt, wo denn der Himmel ist, dann kommen die meisten von uns doch schon ziemlich in Verlegenheit. Das Blau über uns kann es ja wohl kaum sein, auch wenn wir beim Gedanken an den Himmel den Blick oft unwillkürlich nach oben richten und in den künstlerischen Darstellungen der Himmelfahrt Christi die Szene häufig so dargestellt wird, dass er von einem Berg oder Hügel aus auf den Wolken entschwebt. Auch die Darstellung der Apostelgeschichte verwendet ja dieses naheliegende Bild. Aber es bleibt ein Bild.

Manchmal antworten wir vielleicht: „Der liebe Gott wohnt überall.“ Es gibt dazu auch eine schöne rabbinische Geschichte. Als Rabbi Jizchak Meir ein kleiner Junge war, fragte ihn einmal jemand: „Jizchak Meir, ich gebe dir einen Gulden, wenn du mir sagst, wo Gott wohnt“. Er antwortete: „Und ich gebe dir zwei Gulden, wenn du mir sagen kannst, wo er nicht wohnt.“ In einem ähnlichen Sinn sagen viele heute, dass ihnen Gott am ehesten in der Natur begegnet, in der Schönheit der Schöpfung. Und es stimmt ja auch: wo wir staunen und dankbar sein können, da erfahren wir Gott.

Eine andere Antwort lautet: „Gott wohnt in den Herzen der Menschen. Er ist die Kraft zum Guten, die Liebe, die uns erfüllt, das Vertrauen, das wir in uns spüren.“ Zweifellos eine richtige und sehr überzeugende Antwort.

In den sogenannten Schriftreligionen sagt man auch: „Gott wohnt im Wort der Heiligen Schrift.“ Einem Kind würden wir das vermutlich kaum so sagen. Und ich weiss sehr wohl um die Gefahr eines toten Buchstabenglaubens oder einer fundamentalistischen Enge. Trotzdem ist auch diese Antwort nicht falsch. Und ich hoffe, dass zu den Geschichten, die ihr, liebe Taufeltern, ihren Kindern erzählen werdet, nicht nur Märchen und Fantasygeschichten oder ähnliche gehören, sondern auch biblische Geschichten, weil wir in diesen Geschichten verbunden sind mit Gott und mit den Menschen, die vor uns geglaubt, gehofft und geliebt haben, weil diese Geschichten Vertrauen und Lebenszuversicht wecken können.

Und wie sieht es mit der Antwort „Gott wohnt in der Kirche“ aus. Immerhin heisst die Kirche ja auch das Haus Gottes. Trotzdem ruft gerade diese Antwort besonders viel Widerspruch hervor - auch und vor allem bei Menschen, die spirituell auf der Suche sind. „Glaube ja, Kirche nein“ heisst oft der Leitspruch. Man kann doch schliesslich auch ein guter Mensch sein, ohne in die Kirche zu gehen und umgekehrt macht der Kirchgang niemand automatisch zu einem besseren Menschen. Mancher fühlt sich auf einem Berggipfel dem lieben Gott tatsächlich näher als in einer Kirche. Ich habe nicht das geringste Interesse, all dies zu bestreiten oder auch nur zu relativieren. Ich möchte nicht einmal andere davon überzeugen, dass sie eben die Kirche doch noch brauchen, um die richtigen Gotteserfahrungen zu machen. Zu lange wurde der Eindruck erweckt, ausserhalb der Kirche gebe es kein Heil.

Der heutige Predigttext ist ein Gebet, einige wenige Verse aus dem Tempelweihegebet des israelitischen Königs Salomos. Das besondere des Glaubens Israels ist, dass sie im Unterschied zu ihrer orientalischen Umwelt keine Götterbilder verehrten. Die Israeliten glaubten an einen unsichtbaren Gott, der sich nicht in Bildern festlegen lässt. Alles was sie hatten, waren die beiden Gebotstafeln, die sie in einer Holzkiste aufbewahrten. Doch der König David wollte dem Gott Israels ein Haus, einen Tempel bauen. Aber erst sein Sohn Salomo durfte diesen Plan in die Tat umsetzen. Übrigens ist die Begründung der Bibel interessant: David durfte den Tempel nicht bauen, weil an seinen Händen zu viel Blut klebte. Der Tempel Salomos war nicht zu vergleichen mit den Dombauten und Kathedralen unserer Städte. Er war etwa so gross wie unsere Oberbalmer Dorfkirche. Aber endlich hatte man ein zentrales Heiligtum, zum Gebet, zum Kult und zum Opfer, einen sichtbaren Ort der Gegenwart Gottes. Und dann fällt sich Salomo in diesem Gebet zur Einweihung des Tempels fast schon selbst ins Wort und es heisst: „Aber sollte Gott wirklich auf der Erde wohnen? Sieh, der Himmel, der höchste Himmel kann dich nicht fassen, wieviel weniger dann dieses Haus, das ich gebaut habe!“ Vermutlich ist dieses Gebet so erst im Rückblick formuliert worden, als der Tempel wieder zerstört worden war von den babylonischen Eroberern und das Volk Israel im Exil lebte.

Dass Gott grösser ist als unsere religiösen Bauwerke, als unsere religiösen Lehren, als unsere Glaubensgemeinschaften, diese Einsicht ist unserem Glauben von Grund auf eingeschrieben. Diese Einsicht gilt aber auch für die Gegenwart Gottes in der Schönheit der Natur oder in unseren Herzen. Ich denke, dass die Antworten auf die Kinderfrage „Wo wohnt denn der liebe Gott“ alle ihr Recht und ihre Grenze haben. Keine macht die andere überflüssig oder falsch, aber auch keine kann die Fülle Gottes einfangen.

Wenn ich mich mit offenen Augen in der Natur bewege, kann ich tatsächlich die Gegenwart Gottes erahnen und kein Gottesdienst, keine Predigt kann mir diese Erfahrung ersetzen. Aber die Naturerfahrung ersetzt mir auch nicht das gemeinsame feiern, singen und beten im Gottesdienst, das Hören auf Gottes Wort, das Gespräch mit anderen und die Zuwendung von anderen, die ich erfahre. Das Gute, das wir im Alltag erfahren und tun, kann durch die klügsten und berührendsten Gottesdienste und Kirchenräume nicht aufgewogen werden. Aber ich brauche auch die Orte und Momente, wo ich zur Ruhe kommen und loslassen kann. Gott braucht keine monumentalen Kirchen, ja überhaupt kein Gebäude. Trotzdem werde ich, wenn ich Stille suche und Besinnung, eher in eine schöne Kirche sitzen als in eine Turnhalle.

„Aber sollte Gott wirklich auf der Erde wohnen? Sieh, der Himmel, der höchste Himmel kann dich nicht fassen, wieviel weniger dann dieses Haus, das ich gebaut habe!“ Mit diesen Worten ist all unseren Gotteserfahrungen eine heilsame Grenze gesetzt. Sie können die Fülle Gottes nicht fassen. Und doch sind es wertvolle und kostbare Gotteserfahrungen, sei es in der Natur, in einer Kirche oder in tätiger Nächstenliebe.

Der Abschnitt aus der Apostelgeschichte, den wir in der Schriftlesung gehört haben, ist ja die biblische Grundlage dafür, dass wir einen Auffahrtstag begehen und heute Gottesdienst feiern. Jesus wird den Blicken der Jünger entzogen. Er ist aufgefahren in den Himmel, wie es im apostolischen Glaubensbekenntnis heisst. In Treue zu dem, was sie mit Jesus erlebt und von ihm gelernt haben, stehen sie nun selber in der Verantwortung. Sie sind zurück gelassen und doch nicht verlassen. Denn auch hier gilt: der höchste Himmel kann dich nicht fassen. Jesus ist nicht mehr bei ihnen und doch mitten unter ihnen - da wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, weil er versprochen hat, alle Tage bei ihnen zu sein bis an der Welt Ende und weil er ihnen verheissen hat, dass sie die Kraft des heiligen Geistes empfangen werden. Selber verantwortlich für unser Leben, für diese Welt und doch nicht allein - diese Umschreibung trifft auch unsere Situation gut. Der, den der höchste Himmel nicht fassen kann, wie sollte der sich fassen lassen in unseren Religionen, Glaubenslehren oder Kirchengebäuden? Und wie sollte er uns nicht nahe sein in seiner überfliessenden Liebe und seiner Treue, auch wenn wir ihn nicht fassen können?

Im Tempelweihegebet des Salomo folgt auf die Einsicht in die Unfassbarkeit Gottes die Bitte: „Wende dich dem Gebet deines Dieners zu und seinem Flehen, HERR, mein Gott, und erhöre das Flehen und das Gebet, das dein Diener heute vor dir betet.“ Und den Jüngern sagt Jesus: „Ihr werdet die Kraft des heiligen Geistes empfangen und werdet meine Zeugen sein.“ Und als Jesus vor ihren Augen in den Himmel entschwunden war und sie immer noch wie gebannt in den Himmel starren, da weisen sie zwei Engel zurecht. Sie sollen nicht in den Himmel starren, sondern hier auf der Erde ihre Aufgabe erfüllen. Mit Gottes Hilfe. Amen.