Liebe Mitchristen,
Generationen gemeinsam unterwegs - so lautete das Motto des diesjährigen Kirchensonntags Anfang Februar und wir haben in Oberbalm daraus auch das Jahresthema für unsere Kirchgemeinde gemacht. Es geht uns dabei weniger um neue Anlässe, sondern darum, von Zeit zu Zeit uns selbst und anderen in Erinnerung zu rufen, wie wichtig und auch wie verletzlich das Zusammenleben der Generationen ist. Es gehört zu den ganz wichtigen Schätzen unserer dörflichen Strukturen, dass es da in den Vereinen, bei Festen und Anlässen noch zu einer Begegnung der Generationen kommt, Junge und Alte an einem Ort miteinander feiern. In Oberbalm gehören dazu zahlreiche Vereinsfeste, aber auch der Racletteabend, das Schulfest zum Abschluss des Schuljahres, der Bettagslauf, der Basar im November und manch anderes mehr. Das ist nicht selbstverständlich. An vielen Orten, besonders in städtischen Gebieten sind solche gemeinsamen Orte selten geworden. Und es ist auch nicht ausgemacht, dass das in 20 oder 30 Jahren bei uns immer noch so sein wird. Es braucht Menschen dazu, die sich dafür engagieren, denen Traditionen wichtig genug sind, um sie zu pflegen und die offen genug sind, flexibel mit Traditionen umzugehen und neue Wege zu gehen.
Ein wunderbares Beispiel, wie Generationen gemeinsam unterwegs sein können, haben wir heute mit der Musikgesellschaft Oberbalm vor uns. Die Ältesten sind schon im AHV-Alter, die Jüngsten noch schulpflichtig. In eurer sonstigen Freizeit sind eure Interessen und auch eure musikalischen Vorlieben vermutlich ziemlich unterschiedlich. Aber ihr habt es geschafft, gemeinsam unterwegs zu sein. Was es dazu braucht, ist zuerst einmal Engagement und die Bereitschaft, etwas zu investieren. Erst kürzlich ist wieder die Einladung zu einem neuen Jungbläserkurs ins Haus geflattert. Es ist vermutlich den wenigsten wirklich bewusst, wieviel Geld und Engagement in die Ausbildung der Jungbläser investiert wird. Aber ohne dieses finanzielle, zeitliche und ideelle Engagement gäbe es schon bald keine MGO mehr. Ich denke, ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass es euch gelungen ist, Tradition und Neues zu verbinden. Die Älteren unter euch hätten sich vor 30/40 Jahren vermutlich kaum vorstellen können, dass sie einmal Eric Clapton und Abba auf ihren Instrumenten zu spielen haben. Gleichzeitig sind aber auch die Jungen bereit, sich auf Marschmusik, traditionelle Blasmusik und Kirchenchoräle einzulassen. Das verbindet. Ohne diese gegenseitige Toleranz wäre ein gemeinsames Musizieren kaum möglich.
Das lässt sich in mancher Hinsicht mit unserer Kirchgemeinde vergleichen. Dass die Generationen gemeinsam unterwegs sein können, einander begegnen und Verständnis füreinander entwickeln, das ist ein zentrales Anliegen unseres Glaubens und unserer kirchlichen Arbeit. Und auch in der Kirche ist vermutlich den wenigsten wirklich bewusst, wieviel an Geld und Engagement gerade in die Kinder- und Jugendarbeit investiert wird. Die ganze kirchliche Unterweisung, Sonntagsschule, Kindernachmittage, Kinderlager, Gottesdienste für Klein und Gross - all das bedeutet ein grosses finanzielles Engagement, ist ein wesentlicher Teil meiner Arbeit und braucht das Engagement von vielen Freiwilligen, denen es ein Anliegen ist, dass die Jungen in unserer Kirchgemeinde heimisch werden. Es geht in alledem aber auch um die Weitergabe unseres Glaubens. Was heisst das: Weitergabe des Glaubens? Viel zu lange wurde darunter eine Sammlung von Lehrsätzen verstanden, die man lernen konnte und die man zu glauben hatte. Es war allenfalls den Gelehrten, den Theologen vorbehalten, diese Glaubenssätze zu diskutieren. Glauben aber muss etwas mit dem Leben, mit den jeweils eigenen Lebenserfahrungen zu tun haben, sonst ist er nur noch toter Glaube oder eine abstrakte Weltanschauung. Einige der Älteren haben es vielleicht noch erlebt, wie der Glaube im kirchlichen Unterricht autoritär verkündet wurde, als etwas, das man auswendig lernen konnte und musste. Und so manche haben das hingenommen und sich dann still verabschiedet. Ich selbst habe noch einen solchen kirchlichen Unterricht genossen, wo wir vor allem auswendig gelernt haben. In der Schule habe ich einen ganz anderen Unterricht erlebt. Da wurden Glaubensaussagen und biblische Texte kontrovers diskutiert. Da ging es auch um Sinn- und Lebensfragen und politische und gesellschaftliche Themen. Manchmal konnte dies aber auch ins andere Extrem kippen. Hauptsache die Kids haben spannende Themen und gute Erlebnisse. Bibel und Glaubenstraditionen wurden nur noch am Rande und eher verschämt ins Spiel gebracht.
Die beiden Bibeltexte, die ich vor der Predigt gelesen habe, erinnern mich an eine ganz wichtige biblische Tradition: es sind Bekenntnistexte, die vermutlich im Gottesdienst gesprochen wurden. Aber es sind nicht Bekenntnistexte, die auf absolute Wahrheiten verweisen, sondern Kürzestgeschichten des Glaubens, die auf andere Geschichten verweisen. Wenn wir nach unserem Glauben fragen, dann können wir nur Geschichten erzählen - die Geschichten des Volkes Israel, die Jesusgeschichten und unsere eigenen Geschichten. Im 5. Buch Mose ist es die Geschichte von der Befreiung des Volkes Israel aus der Gefangenschaft und Sklaverei in Ägypten, die das Zentrum des Glaubens bildet. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir heute genug zum Leben haben, über unsere eigenes Schicksal bestimmen können, eine Lebensperspektive besitzen und in Freiheit leben. Wir sind dafür auch verantwortlich und haben Sorge dazu zu tragen. Wir sind Fremde gewesen und wissen, was es heisst, ausgegrenzt und ausgenutzt zu werden. Das verpflichtet uns. Unsere Mütter und Väter haben in der Not zu Gott gerufen und er war für sie da. Sollten wir nicht auch in guten Tagen zu ihm rufen und wenn wir Sorgen haben uns ihm zuwenden? So haben die Israeliten ihren Glauben verstanden. Können wir uns nicht in manchem davon wiederfinden mit unseren heutigen Erfahrungen und den Erfahrungen unserer Mütter und Väter?
Auch der Text aus dem Philipperbrief ist ein solcher gottesdienstlicher Bekenntnistext. Wenn die ersten Christen nach ihrem Glauben gefragt wurden, antworteten sie mit ihren eigenen Geschichten und der Jesusgeschichte. Wir glauben an einen Gott, der in Jesus ganz an unserer Seite ist, der bei den Schwächsten und Bedürftigsten ist. Dieser Jesus hat uns Selbstvertrauen gegeben. Er hat uns gezeigt, was Liebe zum Nächsten heisst, was Verzeihen, wie wir Menschen ermutigen können. Und vor allem hat er uns gezeigt, dass jeder Mensch Achtung, Respekt und Zuwendung verdient und nicht ausgenutzt und nicht abgeschrieben werden darf. Wir glauben an einen Gott der uns Demut lehrt, weil er in Jesus selber demütig war und sogar sein Leben hingegeben hat. Er hat uns gezeigt, dass Demut nicht Unterwürfigkeit ist, sondern die Fähigkeit zum aufrechten Gang ohne Überheblichkeit. Es sind die Geschichten vom blinden Bartimäus, von Zachäus, dem Zöllner, von der Ehebrecherin, die sich in diesem Bekenntnis spiegeln. Es ist die Geschichte vom barmherzigen Samariter und vom Vater mit den ungleichen Söhnen, es ist das Liebesgebot und Jesu Würde und aufrechter Gang vor Pilatus und dem Hohen Rat und viele andere, die in diesem Bekenntnis nachklingen und zusammengefasst sind. Können wir diese Geschichten mit unseren Erfahrungen verbinden? Können sie uns Mut machen, Selbstvertrauen und Gottvertrauen geben, unsere Einstellung zum Leben und zu unseren Mitmenschen prägen?
Weitergabe des Glaubens geschieht da, wo wir einander Geschichten erzählen und miteinander feiern. Glaube muss immer auch mit meinen Erfahrungen zu tun haben, sonst bleibt er eine tote Lehre. Aber wo ich meine Erfahrungen zum alleinigen Massstab mache, vergesse ich, dass der Horizont grösser und weiter ist, als das was ich erfahre und begreife. Auf den Reichtum der Erfahrungen früherer Generationen können wir nicht verzichten, aber wir dürfen auch nicht unsere Erfahrungen als Ältere zum alleinigen Massstab machen, an dem wir die Jungen messen. Wie eine Musikgesellschaft Marschmusik, Kirchenchoral und Popmusik zu verbinden versucht, so wollen wir die Erfahrungen unterschiedlicher Menschen und Generationen mit dem Glauben ins Gespräch bringen. Dazu braucht es Menschen in allen Generationen, die sich auf diese Geschichten einlassen, ihre eigenen Geschichten erzählen und ihre Fragen stellen, nach dem Sinn des Lebens fragen und diese Fragen nicht allein mit sich selbst ausmachen. Auch im Glauben braucht es Neugier für das Instrument, die Bereitschaft, die alten Melodien auszuprobieren und die Kreativität, mit diesem Instrument ganz neue Melodien und Töne zu spielen.
Das Instrument aber ist die von Gott geschenkte Liebe zum Leben und zu den Menschen, das Geschenk der Freiheit und die Fähigkeit, verantwortung zu übernehmen. Amen.