Samstag, 12. Januar 2013

Predigt zu Johannes 1,29-34 am 1. Sonntag nach Epiphanias 13. Januar 2013


Liebe Gemeinde,

gerade erst haben wir Weihnachten gefeiert. Der Tannenbaum ist bei den meisten abgeräumt, aber die Krippe in unserer Kirche steht noch. Und doch weist uns unser heutiger Predigttext schon voraus auf die bevorstehende Passionszeit und den Karfreitag. „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt.“ sagt Johannes der Täufer von Jesus. Die Epiphaniaszeit gehört im Kirchenjahr zum Weihnachtsfestkreis und ist doch schon so etwas wie die Brücke zwischen Weihnachten und der Passionszeit.

Das Joh beginnt nicht mit einer erzählten Weihnachtsgeschichte, sondern mit den berühmten Abschnitt über das Wort, das im Anfang bei Gott und das von Gottes Wesen war und Fleisch geworden ist - mitten unter uns. Und dann kommt das Zeugnis des Täufers, der von sich selber wegweist und auf Jesus hinweist. In diesem Hinweisen auf den, der nach ihm kommt und doch schon vor ihm da war, sieht das Johannesevangelium den ganzen Auftrag des Täufers. Auf die Frage, wer er sei, wehrt Johannes der Täufer im Abschnitt vor dem Predigttext alle Zuschreibungen ab - nicht mehr als die Stimme eines Rufers in der Wüste sei er, der den Weg des Herrn bereiten soll. Gerade darin, dass er von sich selber absieht, erfüllt er seinen göttlichen Auftrag, ist er von Gottes Geist erfüllt. Das Johannesevangelium verzichtet auf alle Beschreibungen des Täufers, erzählt nicht wie die anderen Evangelien von seiner wilden Gestalt, seinem Mantel aus Kamelhaaren, seiner Nahrung aus Heuschrecken und wildem Honig. Es berichtet nicht einmal von seiner Umkehrpredigt und kein Wort hören wir davon, dass er Jesus getauft hat. Und im folgenden Abschnitt sind es zwei Täuferjünger, die zu den ersten Jüngern Jesu werden.

Schon im berühmten Prolog des Joh heisst es vom Täufer: „Es trat ein Mensch auf, von Gott gesandt, sein Name war Johannes. Dieser kam zum Zeugnis, um Zeugnis abzulegen von dem Licht, damit alle durch ihn zum Glauben kämen. Nicht er war das Licht, sondern Zeugnis sollte er ablegen von dem Licht.“ Mit seiner gesamten Existenz wird er zum Zeugen und stellt sich ganz in den Dienst des anderen, des Grösseren. Wenn das Joh so betont festhält, dass er nicht selbst das Licht war, können wir erahnen, wie bedeutsam die Täuferbewegung damals gewesen ist.

Darin liegt die Kraft der Botschaft des Joh, dass in ihm Jesus ganz im Zentrum steht. Natürlich steht er auch in den anderen Evangelien im Zentrum, aber nur das Joh beginnt mit einem Prolog über das fleischgewordene Wort Gottes, betont die Unabhängigkeit Jesu vom Täufer und gliedert sein Evangelium geradezu durch die Ich-bin-Worte. Die Gefahr des Joh möchte ich aber auch nicht verschweigen. In ihm erscheint die Geschichte Jesu manchmal wie „nicht ganz von dieser Welt“, sein Menschsein eher wie ein Gewand. Dieses Evangelium denkt stark in Gegensätzen von Licht und Finsternis und der exklusive Anspruch der Ich-bin-Worte verführt dazu, zu sehr in den Kategorien „Wahr und Falsch“ zu denken und andere Glaubensweisen und andere Religionen nicht wahr- und ernstzunehmen, sondern sie als Irrwege abzutun. Diese Gefahr müssen wir in unserer zunehmend interreligiösen Welt beachten.

Wenn ich überlege, worin für mich die tiefe Überzeugungskraft des christlichen Glaubens besteht, dann könnte ich vieles benennen: die ethischen Werte und Überzeugungen, die in der Bibel wurzeln, die Entdeckung, dass Gott mit den Menschen mitgeht, an ihrem Leben Anteil nimmt, die Botschaft von der Versöhnung, die Sicht der Welt als einer guten Schöpfung und viele andere Dinge. Aber zu den ganz wichtigen Dingen gehören für mich zweifellos die Anfänge der Evangelien. Und so sehr ich vorhin die Besonderheit des Joh betont habe, so sehr zeigt sich hier auch etwas Verbindendes, Gemeinsames: Dass Gott in menschlicher Gestalt sich uns an die Seite stellt und unser Geschick teilt, dass diese Geschichte beginnt bei Lukas mit der Geburt eines schutzbedürftigen und verletzlichen Kindes in der Armut eines Stalles und bei Johannes mit diesem Hinweis auf das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt. Ein verletzliches Kind, ein Lamm, das sich hingibt und auf sein Leben verzichtet, damit die Vielen Leben finden und das vorausweist auf den Mann am Kreuz, der den Menschen in die Hände gefallen ist und an dem Gott seine Lebensmacht erweist. Das stellt unsere Grössenphantasien, unsere eingebildeten Gottesvorstellungen vom Kopf auf die Füsse. Hier auf dem Boden, wo Menschen ihr Leben zu bewältigen haben, da ist Gott zu finden. Er ist an der Seite derer, die Opfer zu bringen haben und mit ihrer Unvollkommenheit leben müssen. Er ist uns nahe, wenn wir schuldig werden und Vergebung brauchen, wenn wir streiten und der Versöhnung bedürfen. Wo Menschen weh getan wird und sie zu Opfern gemacht werden, wo Menschen leiden und um Erlösung flehen, da ist Gott zu finden oder er ist nur ein eingebildeter Götze, eine Projektion unserer Allmachtsphantasien. Das Kleine, das Verletzliche ist der Ort, wo Gott uns begegnet. Unsere alltäglichen Sorgen, unsere kleinen Freuden, unsere Bedürftigkeit nach Liebe, nach Vergebung, nach Versöhnung, nach dem Gefühl wertvoll zu sein und gebraucht zu werden, in alledem will Gott bei uns sein, will er sich uns zeigen.

Und dann kommt in unserem Predigttext noch etwas ganz Wichtiges hinzu, nämlich das Vorbild Johannes des Täufers, der von sich selber weg weist und hinweist auf Jesus. Ich denke, dass es im Glauben ganz entscheidend auf diese Fähigkeit ankommt, dass wir von uns selber absehen können und hinsehen auf Jesus, den Anfänger und Vollender unseres Glaubens. Es kommt nicht alles auf uns selber an und es liegt nicht alles in unserer Hand – im Guten wie im Bösen. Diese Einsicht und Erkenntnis kann uns grosszügiger machen mit uns selber und mit anderen, sie kann uns bescheidener werden lassen und vor allem auch lernfähiger und offener. Wer von sich wegsehen kann, der wird auch neue Wege und Möglichkeiten entdecken, der bleibt nicht gefangen in seinen eigenen Vorstellungen und Gedanken. Wenn wir uns von Johannes dem Täufer zum Hinsehen auf Jesus einladen lassen, dann kann uns das davor bewahren, uns zu wichtig zu nehmen und zugleich kann es uns davor bewahren uns als unwichtig anzusehen. Denn wer auf diesen Jesus schaut, der wird angesehen und erfährt, dass er in seinen Augen wichtig und wertvoll ist. Und der Wert und die Wichtigkeit, die jedes einzelne von uns in Jesu Augen besitzt, die haben eine ganz andere befreiende Kraft, als der Wert und die Wichtigkeit, die wir anderen und uns selbst immer erst aus eigener Kraft beweisen müssen. Hinsehen auf Jesus entlastet und befreit. Johannes der Täufer bezeugt: auf diesem Jesus ruht Gottes Geist. Und er kann uns diesen Geist schenken.

Was aber bedeutet und bewirkt dieses Hinsehen auf Jesus in unserem ganz alltäglichen Leben? Martin Niemöller, einer der führenden Pfarrer der Bekennenden Kirche, die im Widerstand gegen Hitler tätig war, hat einmal einen Aufsatz überschrieben mit der Frage: „Was würde Jesus heute dazu sagen?“ Diese Frage war für ihn so etwas wie ein Leitmotiv, ein Schlüssel zu verantwortlichem christlichem Handeln. Manchem mag diese Frage allzu fromm in den Ohren klingen, andere werden sie vielleicht für viel zu naiv halten. Aber damit machen wir es uns zu einfach. Denn es geht ja nicht darum, dass es auf alles eine einfache Antwort geben würde oder dass wir mit wörtlichen Bibel- oder Jesuszitaten die Fragen unserer Zeit beantworten könnten. So einfach geht es in der Tat nicht. Was Niemöller meinte und worauf es mir ankommt ist dies, dass wir uns in unseren Haltungen und Handlungen vom Geist Jesu leiten lassen sollten. Das nimmt uns nicht ab, eine eigene Position, eine eigene Haltung zu entwickeln, für die wir dann in eigener Verantwortung auch einzutreten haben und es enthebt uns auch nicht der Vielfalt von möglichen christlichen Haltungen, die manchmal gar nicht leicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Unsere Antworten bleiben menschliche Antworten. Aber ich denke doch, dass diese Frage - Was würde Jesus heute dazu sagen? - uns eine wertvolle Orientierungshilfe sein kann.

Was würde Jesus sagen zu den Prioritäten, die wir setzen? Woran hätte er wohl Freude und was würde ihn traurig machen? Für wen würde er sich einsetzen und wem würde er widersprechen? Was würde Jesus dazu sagen, wenn er unsere kirchlichen Aktivitäten und Strukturen, unsere Budgets und Verlautbarungen kommentieren müsste? Wie würde er wohl die grossen politischen Fragen unserer Zeit betrachten? Um nur ein Beispiel zu nennen: Zusammen mit den Gewerkschaften haben sich Kirchenvertreter, u.a. der Einsiedler Abt Martin Werlen, in der vergangenen Woche gegen die Liberalisierung der Öffnungszeiten von Tankstellenshops ausgesprochen, weil sie einen generellen Dammbruch bei den Ladenöffnungszeiten befürchten und für den Schutz des Sonntags und der betroffenen Angestellten eintreten. Man kann in dieser Frage sicher auch anderer Meinung sein, aber es macht mich betroffen, wie viel Häme und Spott diesem Anliegen teilweise entgegenschlug und wie den Kirchen das Recht zur Einmischung in dieser Frage schlichtweg abgesprochen wurde. Es gibt in dieser und vielen anderen Fragen nicht die einzig richtige Antwort. Aber ich denke, dass die Frage, was Jesus wohl dazu sagen würde, in manchen Dingen den Blick verändern und zu weiseren Entscheidungen führen könnte.

Man kann diese Frage auch als Richtschwert benutzen, um zu demonstrieren, wie schlecht doch die anderen, die Politiker, die Wirtschaftsführer, die Kirchenoberen, die Pfarrer, usw. handeln. Das wäre dann genau das Gegenteil dessen, was ich mit dieser Frage im Geiste Jesu meine. Es geht nicht um ein Verurteilen, für das wir Jesus einspannen könnten, sondern darum, dass wir den Geist Jesu einfliessen lassen in unsere Urteile und unser Handeln. Es gibt wohl manche Bereiche, in denen diese Frage uns unsicher machen kann, ob wir wirklich auf dem richtigen Weg sind. Dann lohnt es sich, diese Unsicherheit nicht schnell beiseite zu schieben, sondern innezuhalten und noch einmal neu nachzudenken, ob es nicht andere Wege gibt, die dem Geist Jesu besser entsprechen.

Aber die Frage „Was würde Jesus heute dazu sagen?“ kann uns nicht nur bei ethischen Entscheidungen helfen. Sie kann uns auch neue Kraft geben, wenn wir in einer schwierigen Situation sind, wenn äussere oder innere Not, Krankheit oder Tod uns aus der Bahn werfen, wenn das Dunkel der Depression, das Gefühl der Ohnmacht und Verzweiflung sich unserer Seele bemächtigen, wenn Schuld auf uns lastet oder wenn wir uns verletzt und erniedrigt fühlen. Dann, so glaube ich, kann es uns schon viel helfen, wenn wir uns nicht völlig gefangen nehmen lassen von der Situation, die uns bedrückt, sondern dieses „Seht“ unseres Predigttextes wahrnehmen und einen Moment von uns absehen können. Und nichts anders bedeutet es ja, die Frage zu stellen, was Jesus dazu sagen würde. Wenn unser eigenes Fragen und Grübeln uns nur immer tiefer hinabzieht, dann kann es not-wendig, not-wendend sein, den Blick auf den zu richten, von dem der Täufer sagt: „Seht, das Lamm Gottes.“ Dann kann der Blick auf diesen verletzlichen Menschen, auf dem der Geist Gottes ruht, helfen - sei es als fragender oder hilfesuchender Blick oder sogar nur als stummer Vorwurf: Warum?

Er würde wohl sagen: Ich bin bei dir. Ich kenne, was dich belastet. Ich helfe dir, deine Last zu tragen. Er würde uns wohl ermutigen, auf die kleinen Zeichen der Hoffnung zu achten, die sich uns zeigen, würde uns helfen zu Geduld und uns aufmerksam machen auf die Menschen, die für uns da sind. Er würde uns darauf aufmerksam machen, dass Schuld vergeben werden kann und Verletzungen wieder heilen. Die Kraft, die wir brauchen, finden wir nicht immer in uns selbst. Da ist es gut, dass wir einen Gott haben, der nicht hoch oben im Himmel thront und Gesetze erlässt, über deren Befolgung er wacht, sondern einen Gott, der an unserer Seite ist, der uns tragen hilft, der vergibt und aufrichtet. Wir sind frei, unsere eigenen Wege zu gehen, aber ich bin überzeugt, dass es gut für uns ist, wenn wir auf Johannes den Täufer hören, der uns sagt: „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt.“ Es gibt uns Orientierung für unser Leben, wenn wir immer wieder fragen, was Jesus wohl dazu sagen würde. Und es befreit und macht Mut, wenn wir vertrauen können, dass da einer ist der uns niemals alleine lässt. Amen.

Dienstag, 1. Januar 2013

Predigt zur Jahreslosung Hebr 13,14 im Neujahrsgottesdienst vom 1. Januar 2013

Liebe Gemeinde

„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Dieser kurze Vers aus dem Hebräerbrief ist die Jahreslosung für das Jahr 2013. Sie will uns an der Schwelle dieses neuen Jahres und durch das Jahr hindurch begleiten. In diesen Worten kommt eine christliche Lebenshaltung zum Ausdruck, die nicht bereit ist, in dem was ist, schon das Ganze zu sehen, weder stolz und selbstgerecht im Sinne eines: „Jetzt habe ich es geschafft, jetzt bin ich am Ziel“ noch resigniert in der Überzeugung, dass eh alles so bleiben wird und sich nichts mehr ändert.

Die Jahreslosung beginnt mit einer Negation: „Wir haben hier keine bleibende Stadt.“ Unser Glaube ist verbunden mit einer existentiellen Heimatlosigkeit in dieser Welt. Etwas zugespitzt gesagt: Die Klage über den Verlust von Heimat, über die verlorenen früheren Zeiten, das Jammern, dass früher alles - oder doch vieles - besser war, ist unserem christlichen Glauben zutiefst fremd. Und ich spitze diese Feststellung gerne noch einmal zu - auch wenn ich sie später relativieren muss: Unser christlicher Glaube ist im Verständnis des Hebräerbriefs in seinem Wesen zukunftsorientiert, progressiv und weit weg von einem konservativen Bewahren des Vergangenen oder des Bestehenden. Christlicher Glaube bejaht und begrüsst den Wandel und klammert sich nicht an das Bestehende.

Aber - so werden sie denken - es ist doch nicht jeder Wandel gut und als christliche Kirchen geht es uns doch um die Wahrung und Weitergabe der christlichen Tradition. Und haben nicht doch früher mehr Menschen die Gottesdienste besucht und nach dem Glauben gefragt? Ich gebe ihnen gerne recht. Es gibt keinen vernünftigen Grund, Wandel um des Wandels willen zu begrüssen und um jeden Preis Veränderung anzustreben. Wir wissen heute nur zu gut, besonders aus der Wirtschaft, wozu es führen kann, wenn ständiger Wandel propagiert wird und eine Strukturreform die andere jagt. Menschen wollen zu Recht begreifen, wozu der Wandel dient und sie wollen mitgenommen werden und mitgestalten können und nicht einfach dem scheinbar Alternativlosen ausgeliefert sein. Aber dort wo wir mitgenommen werden und mitgestalten können, braucht es auch unsere Offenheit und Bereitschaft, die Chancen des Wandels zu erkennen und uns nicht ans Alte zu klammern.

Und auch in unseren Kirchen müssen wir uns fragen, ob tatsächlich die Verlusterfahrungen darin ihren Grund haben, dass wir nicht entschieden genug am Vergangenen festgehalten haben - oder ob wir eher zu lange die alten Antworten gegeben haben, die zu den neuen Sorgen und Fragen der Menschen nicht mehr passen, die zu wenig ernst nehmen, dass Menschen heute ihre eigenen Antworten suchen wollen und nicht mehr einfach die tradtionellen übernehmen.

„Wir haben hier keine bleibende Stadt.“ Unser Glaube ist verbunden mit einer existentiellen Heimatlosigkeit in dieser Welt. Das ist die Negation. Aber diese existentielle Heimatlosigkeit ist verbunden mit einer existentiellen Gewissheit. Ich möchte sie beschreiben mit den wunderbaren Worten aus dem Römerbrief: „Denn ich bin mir gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes noch irgendein anderes Geschöpf vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Röm 8,38f). Diese existentielle Gewissheit trägt uns im Wandel unserer Zeiten. Sie gibt uns die Kraft, Vergangenes loszulassen, uns einzulassen auf das Neue und es mitzugestalten, im Wissen darum, dass auch das Neue immer nur vorläufige Antwort und Durchgangsstation sein kann.

Wie sieht das zuende gegangene Jahr aus, wenn wir es in diesem Licht betrachten? Wie sieht es aus, wenn wir unser persönliches Leben und unser Umfeld in den Blick nehmen und wie, wenn wir auf die schweizerischen und weltweiten Entwicklungen und Geschehnisse schauen? Licht und Schatten, Glücksmomente und Enttäuschungen, positive Nachrichten und Schreckensmeldungen werden uns in den Sinn kommen - und vielleicht werden wir in manchem bei denselben Ereignissen zu verschiedenen Deutungen kommen. Und doch gibt es vermutlich bei jedem von uns so etwas wie ein Grundgefühl - es war ein gutes Jahr oder es war ein schwieriges Jahr. Wir sollten dieses Grundgefühl ernstnehmen und es nicht allzu schnell relativieren.

Wenn es ein gutes Jahr war, dann haben wir allen Grund, uns daran zu freuen und dafür dankbar zu sein. Auch ein gutes Jahr können wir nicht einfach festhalten. Wir müssen es zurücklassen und Abschied nehmen. Aber wenn wir es dankbar wahrnehmen und annehmen, kann es uns zu einer Kraftquelle werden, die uns auch in schwierigeren Zeiten trägt. Die Fähigkeit zur Dankbarkeit ist einer der kostbarsten Schätze und eine der grössten Kraftquellen in unserem Leben.

Doch auch wenn es ein schwieriges Jahr war, können und sollen wir zu diesem Grundgefühl stehen. Es ist nicht notwendig, dass wir den schwierigen Erfahrungen gleich wieder die guten entgegensetzen, die es doch zweifellos auch gegeben hat oder die anderen Schicksale, die noch schwerer sind. Denn dann würden wir unsere innere Unruhe und unsere Sehnsucht nach Veränderung nicht ernst nehmen und verkennen, wieviel Zeit es braucht, um schwierige Erfahrungen und Verletzungen, Enttäuschungen und eigene Fehler zu heilen, zu verändern und Neues daraus hervorwachsen zu lassen oder auch sie ruhen zu lassen und anzunehmen. Nur eines sollten wir niemals sagen: dass es ein Jahr zum Vergessen war. Denn es war und bleibt ein Jahr unseres Lebens, ein Teil dessen, was wir sind und oft sind es gerade die schwierigen und schmerzlichen Jahre, aus denen etwas Neues und Kostbares hervorwachsen kann, so wie Perlen nur dort entstehen wo es auch Verletzungen gibt. Wir können und wir müssen das nicht jetzt schon sehen oder einander davon überzeugen. Aber wir dürfen hoffen, dass wir das in der zukünftigen Stadt erkennen dürfen, dass Schmerz sich in Segen verwandelt und Schwieriges der Beginn neuen Lebens sein kann.

„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Die Worte der Jahreslosung weisen uns auf ein Ziel hin, das jenseits dieser Welt und dieses Lebens liegt. Aber sie sind keine Vertröstung auf das Jenseits. Und die zukünftige Stadt ist auch keine Glaubenswahrheit, auf die wir einfach zurückgreifen, keine Position, die wir einnehmen könnten. Suchen ist in unserer Jahreslosung das entscheidende Wort.

Als Suchende sind wir unterwegs - nicht als die, die schon gefunden haben. Aber als Suchende sind wir getragen von einer Verheissung, von dem Versprechen Gottes, dass bei ihm nichts und niemand verloren ist und in der zukünftigen Stadt alles Leid und alle Tränen abgewischt sein werden und sogar der Tod nicht mehr sein wird. Wir haben das Versprechen, dass all die Bruchstücke unseres Lebens, die für uns vielleicht noch keinen Sinn ergeben, von Gott heil und ganz gemacht werden. Wir sind getragen von dem Suchen und den Antwortversuchen derer, die vor uns gesucht, geglaubt und gehofft haben. Ihnen schulden wir Dank, denn wenn wir nicht mehr wissen, woher wir kommen und was andere vor uns bewegt hat, werden wir in unserem Suchen orientierungslos. Und unser Suchen leitet sich ab aus unsern eigenen Erfahrungen und aus der Achtsamkeit für die Erfahrungen der Menschen um uns.

„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Der Hebräerbrief weist uns auch die Richtung für unser Suchen. Draussen vor dem Tor sollen wir die zukünftige Stadt suchen, jenseits des Gewohnten und Vertrauten, bei denen die Zuwendung nötig haben, bei denen, die unsere Zeit und unsere Hilfe brauchen, bei denen, die am Rande stehen, dort wo Jesus sein Kreuz getragen hat und wo Menschen heute ihr Kreuz tragen

In einem Zeitungsartikel hat in diesen Tagen eine Journalistin über „die falsche Rückkehr zur Religion“ geschrieben. Vieles daran hat mich zum Widerspruch gereizt. Aber einem Satz kann ich nur zustimmen: „Was derzeit fehlt, ist ein Plädoyer für den Zweifler und den Suchenden. Der Zweifler, der Suchende bleibt menschlich.“ Nur dass ich bezweifle, dass der Agnostiker der einzige Zweifler und Suchende ist, wie die Autorin suggeriert. Als Zweifelnde und Suchende sind wir als Christinnen und Christen unterwegs, die sich an der Botschaft Jesu und an der Botschaft unserer Jahreslosung orientieren. Wir zweifeln an allen irdischen Heilsversprechen, aber auch an vermeintlich ewigen Glaubenswahrheiten. Wir suchen Antwort auf unsere Fragen und nach Sinn. Und wir werden in unserem Suchen getragen von der Zusage, dass unser Suchen ein Ziel hat und von einer existentiellen Gewissheit.

Suchende sind wir. „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Aber als Suchende trägt uns die existentielle Gewissheit: „Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes noch irgendein anderes Geschöpf vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ Daraus dürfen wir Kraft und Zuversicht schöpfen - auch in diesem neuen Jahr. Amen.