Liebe Gemeinde
Habt ihr schon einmal einen Maulbeerbaum verpflanzt? Und zwar nicht einfach in die Erde, sondern ins Meer, ohne ihn anzurühren, sozusagen mit der Macht der Gedanken? Nun, vermutlich nicht - und es wäre ja auch nicht unbedingt eine erstrebenswerte Handlung. Ein Jesuswort also, das Spötter leicht unter der Rubrik „unsinnige Sprüche“ abbuchen könnten - irgendwo zwischen Überheblichkeit und sinnlose Wundershow.
Aber natürlich geht es hier nicht darum, Maulbeerbäume ins Meer zu verpflanzen. Und auch nicht um spektakuläre Wunder, die der Glaube angeblich bewirkt. Jesus beschreibt etwas absolut Unvorstellbares und Unmögliches, weil er damit zeigen will, wie kraftvoll auch das kleinste Senfkorn Vertrauen ist. Das Entscheidende ist der Kontrast zwischen der Sehnsucht der Jünger nach „mehr Glauben“ und dem Senfkornglauben. Diesem winzig kleinen Senfkornglauben spricht Jesus eine unüberbietbare Kraft zu. Und das erste und entscheidende ist, dass jede Steigerungslogik am Wesen des Glaubens vorbeigeht. Glauben lässt sich nicht steigern. Jesus gibt den Jüngern kein Rezept für Glaubenswachstum, keinen Trainingsplan für Glaubenssteigerung. Ja, er ignoriert geradezu ihre Frage nach „mehr Glauben“ bzw. weist sie indirekt zurück. Die Jünger glauben ja, aber sie meinen, es sei nicht genug. Aber kleiner als ein Senfkorn geht nicht. Und schon das reicht in Jesu Augen vollkommen.
Es gibt ein weitverbreitetes und irreführendes Verständnis dieses kurzen Textes: wir reagieren mit einem schlechten Gewissen. Wir können mit unserem Glauben keine Maulbeerbäume verpflanzen und auch sonst keine Wunder vollbringen. Folglich ist unser Glaube zu schwach. Eben nicht einmal so gross wie ein Senfkorn. Als ob Glauben etwas mit Optimierung und Leistungssteigerung zu tun hätte. Als ob Jesus unsere Glaubenszweifel, die uns eh schon oft genug plagen, noch verstärken wollte. Nein, was Jesus hier will, ist etwas anderes. Er will uns ermutigen, ermächtigen, stärken.
Und deshalb: Selbst wenn euer Glaube nur so klein wie ein Senfkorn wäre - er genügt. Nein, wir sind keine Glaubenshelden. Unser Glaube ist nicht unerschütterlich. Unsere Skepsis ist oft grösser als unser Vertrauen. Aber wir müssen auch gar keine Glaubenshelden oder -heldinnen sein. Stellen wir uns also einfach einmal vor: das, was da ist an Glauben, an Vertrauen - das reicht. Vielleicht ist es ganz unscheinbar, immer wieder mit Skepsis und Zweifeln durchsetzt. Aber es ist da - dieses Senfkorn Vertrauen, dieses Senfkorn Hoffnung, dieses Senfkorn Glauben. Und es hat Kraft. Es hat die Kraft uns dazu zu verführen, in Möglichkeiten zu denken statt Bedenken zu tragen. Es hilft uns, etwas zu wagen und neue Schritte zu gehen. Es ermutigt uns, den anderen und uns selbst etwas zuzutrauen. Und es macht uns Mut, Gott etwas zuzutrauen. Wir müssen nicht zuerst ganz viel von Gott wissen, um ihm dann zu vertrauen. Wir müssen nicht einmal an bestimmte Lehren über Gott glauben. Was es braucht ist einfach: Vertrauen zu wagen. Vertrauen in das Leben. Vertrauen in Gott. Vertrauen in die Menschen.
Vielleicht denken sie jetzt: das sagt sich so leicht. Das, was da ist an Glauben, an Vertrauen, das genügt. Wirklich? Haben wir nicht alle schon Situationen erlebt, wo wir uns nach „mehr Glauben“, nach mehr Vertrauen gesehnt haben? Die Bitte der Jünger ist also durchaus verständlich. Vielleicht spricht sie uns sogar aus dem Herzen. Ich bin überzeugt: Jesus kann die Jünger sehr gut verstehen. Er kritisiert ihre Bitte auch nicht. Aber er verändert die Perspektive. Nicht die Sehnsucht nach mehr Glauben, nach mehr Vertrauen wirkt Wunder. Wunder werden möglich, wenn wir achtsam sind für den Glauben und das Vertrauen, die da sind - und wenn sie so klein sind wie ein Senfkorn.
Deshalb hat auch in vielen Religionen die Stille, die Meditation, eine so zentrale Bedeutung. Zur Ruhe kommen und wahrnehmen, was ist. Zulassen was da ist und es annehmen. Auch wieder loslassen, was wir nicht ändern können. Und aus dieser Ruhe, diesem Sein-Lassen, die Kraft schöpfen für das, was wir bewirken, gestalten, verändern können. Darum geht es. Das Senfkorn Vertrauen genügt. Und in der Stille nehmen wir es wahr. Und aus der Stille heraus entfaltet es seine Kraft.
Ich denke, dass das so ist, weil wir Glauben und Vertrauen nicht machen können und sie lassen sich auch nicht auf einer Skala messen. Glaube, der trägt, ein Vertrauen, das Halt gibt, braucht Wurzeln. Nicht der Glaube, den wir gerne hätten und auch nicht der, den wir selbst oder andere für richtig halten, gibt uns Halt, sondern nur der, den wir tatsächlich in unseren Herzen tragen. Diesen Glauben und dieses Vertrauen dürfen wir wahrnehmen und dazu stehen. Was nützt es uns in einer schweren Krankheit oder einer Lebenskrise, wenn wir uns einreden, dass alles wieder gut kommt, aber eigentlich ist uns ganz anders zumute? Was hilft es uns, wenn wir uns mehr Gottvertrauen wünschen und uns eigentlich von Gott verlassen fühlen?
Ja, es ist schön und beeindruckend, wenn jemand voller Vertrauen sein Leben in Gottes Hand legen kann, selbst in den tiefsten Tiefen seines Lebens. Aber wenn jemand glaubt, dies tun zu müssen und es nicht kann, dann ist es lähmend. Nur wenn ich mir und anderen nichts vormache, können andere mir die Hilfe und Unterstützung geben, die ich brauche. Nur dann kann ich um das bitten, was ich wirklich nötig habe. Wie soll mir jemand Mut machen, wenn ich immer den Mutigen spiele? Wie soll mir jemand etwas abnehmen, wenn ich alles selber tragen will?
Solange wir bitten können, haben wir den Senfkornglauben, der in Jesu Augen so kraftvoll ist. Wahrscheinlich kann erst dann Nähe und Beziehung entstehen, wenn wir aufhören, immer stark sein zu wollen. Sogar im Glauben. Dass Nähe entstehen kann, Nähe zu anderen Menschen und Nähe zu Gott - das ist das Wunder, das der Senfkornglaube möglich macht. Dann kann aus dem Senfkorn ein kräftiger Baum werden, in dem die Vögel des Himmels nisten - wie es in einem anderen biblischen Gleichnis heisst. Nähe entsteht nicht durch Stärke, nicht einmal durch Glaubensstärke. Sie entsteht, wenn wir uns öffnen und dem anderen zuwenden. Sie entsteht, wenn wir einfach sind, statt etwas sein zu wollen. Und diese Nähe zwischen uns und anderen, diese Nähe zwischen uns und Gott ist das grösste Wunder. Ein Wunder - grösser als wenn ein Maulbeerbaum ins Meer verpflanzt würde.
Dieses Wunder der Nähe wird möglich, wenn wir achtsam sind und uns darauf verlassen, dass unser Vertrauen - sei es auch winzig wie ein Senfkorn - genug ist. Wir müssen nicht mehr in die Waagschale werfen als da ist. Damit können wir leben und wachsen. Gott sei Dank. Amen.