Liebe Gemeinde
Habt ihr schon einmal einen Maulbeerbaum verpflanzt? Und zwar nicht einfach in die Erde, sondern ins Meer, ohne ihn anzurühren, sozusagen mit der Macht der Gedanken? Nun, vermutlich nicht - und es wäre ja auch nicht unbedingt eine erstrebenswerte Handlung. Ein Jesuswort also, das Spötter leicht unter der Rubrik „unsinnige Sprüche“ abbuchen könnten - irgendwo zwischen Überheblichkeit und sinnlose Wundershow.
Aber natürlich geht es hier nicht darum, Maulbeerbäume ins Meer zu verpflanzen. Und auch nicht um spektakuläre Wunder, die der Glaube angeblich bewirkt. Jesus beschreibt etwas absolut Unvorstellbares und Unmögliches, weil er damit zeigen will, wie kraftvoll auch das kleinste Senfkorn Vertrauen ist. Das Entscheidende ist der Kontrast zwischen der Sehnsucht der Jünger nach „mehr Glauben“ und dem Senfkornglauben. Diesem winzig kleinen Senfkornglauben spricht Jesus eine unüberbietbare Kraft zu. Und das erste und entscheidende ist, dass jede Steigerungslogik am Wesen des Glaubens vorbeigeht. Glauben lässt sich nicht steigern. Jesus gibt den Jüngern kein Rezept für Glaubenswachstum, keinen Trainingsplan für Glaubenssteigerung. Ja, er ignoriert geradezu ihre Frage nach „mehr Glauben“ bzw. weist sie indirekt zurück. Die Jünger glauben ja, aber sie meinen, es sei nicht genug. Aber kleiner als ein Senfkorn geht nicht. Und schon das reicht in Jesu Augen vollkommen.
Es gibt ein weitverbreitetes und irreführendes Verständnis dieses kurzen Textes: wir reagieren mit einem schlechten Gewissen. Wir können mit unserem Glauben keine Maulbeerbäume verpflanzen und auch sonst keine Wunder vollbringen. Folglich ist unser Glaube zu schwach. Eben nicht einmal so gross wie ein Senfkorn. Als ob Glauben etwas mit Optimierung und Leistungssteigerung zu tun hätte. Als ob Jesus unsere Glaubenszweifel, die uns eh schon oft genug plagen, noch verstärken wollte. Nein, was Jesus hier will, ist etwas anderes. Er will uns ermutigen, ermächtigen, stärken.
Und deshalb: Selbst wenn euer Glaube nur so klein wie ein Senfkorn wäre - er genügt. Nein, wir sind keine Glaubenshelden. Unser Glaube ist nicht unerschütterlich. Unsere Skepsis ist oft grösser als unser Vertrauen. Aber wir müssen auch gar keine Glaubenshelden oder -heldinnen sein. Stellen wir uns also einfach einmal vor: das, was da ist an Glauben, an Vertrauen - das reicht. Vielleicht ist es ganz unscheinbar, immer wieder mit Skepsis und Zweifeln durchsetzt. Aber es ist da - dieses Senfkorn Vertrauen, dieses Senfkorn Hoffnung, dieses Senfkorn Glauben. Und es hat Kraft. Es hat die Kraft uns dazu zu verführen, in Möglichkeiten zu denken statt Bedenken zu tragen. Es hilft uns, etwas zu wagen und neue Schritte zu gehen. Es ermutigt uns, den anderen und uns selbst etwas zuzutrauen. Und es macht uns Mut, Gott etwas zuzutrauen. Wir müssen nicht zuerst ganz viel von Gott wissen, um ihm dann zu vertrauen. Wir müssen nicht einmal an bestimmte Lehren über Gott glauben. Was es braucht ist einfach: Vertrauen zu wagen. Vertrauen in das Leben. Vertrauen in Gott. Vertrauen in die Menschen.
Vielleicht denken sie jetzt: das sagt sich so leicht. Das, was da ist an Glauben, an Vertrauen, das genügt. Wirklich? Haben wir nicht alle schon Situationen erlebt, wo wir uns nach „mehr Glauben“, nach mehr Vertrauen gesehnt haben? Die Bitte der Jünger ist also durchaus verständlich. Vielleicht spricht sie uns sogar aus dem Herzen. Ich bin überzeugt: Jesus kann die Jünger sehr gut verstehen. Er kritisiert ihre Bitte auch nicht. Aber er verändert die Perspektive. Nicht die Sehnsucht nach mehr Glauben, nach mehr Vertrauen wirkt Wunder. Wunder werden möglich, wenn wir achtsam sind für den Glauben und das Vertrauen, die da sind - und wenn sie so klein sind wie ein Senfkorn.
Deshalb hat auch in vielen Religionen die Stille, die Meditation, eine so zentrale Bedeutung. Zur Ruhe kommen und wahrnehmen, was ist. Zulassen was da ist und es annehmen. Auch wieder loslassen, was wir nicht ändern können. Und aus dieser Ruhe, diesem Sein-Lassen, die Kraft schöpfen für das, was wir bewirken, gestalten, verändern können. Darum geht es. Das Senfkorn Vertrauen genügt. Und in der Stille nehmen wir es wahr. Und aus der Stille heraus entfaltet es seine Kraft.
Ich denke, dass das so ist, weil wir Glauben und Vertrauen nicht machen können und sie lassen sich auch nicht auf einer Skala messen. Glaube, der trägt, ein Vertrauen, das Halt gibt, braucht Wurzeln. Nicht der Glaube, den wir gerne hätten und auch nicht der, den wir selbst oder andere für richtig halten, gibt uns Halt, sondern nur der, den wir tatsächlich in unseren Herzen tragen. Diesen Glauben und dieses Vertrauen dürfen wir wahrnehmen und dazu stehen. Was nützt es uns in einer schweren Krankheit oder einer Lebenskrise, wenn wir uns einreden, dass alles wieder gut kommt, aber eigentlich ist uns ganz anders zumute? Was hilft es uns, wenn wir uns mehr Gottvertrauen wünschen und uns eigentlich von Gott verlassen fühlen?
Ja, es ist schön und beeindruckend, wenn jemand voller Vertrauen sein Leben in Gottes Hand legen kann, selbst in den tiefsten Tiefen seines Lebens. Aber wenn jemand glaubt, dies tun zu müssen und es nicht kann, dann ist es lähmend. Nur wenn ich mir und anderen nichts vormache, können andere mir die Hilfe und Unterstützung geben, die ich brauche. Nur dann kann ich um das bitten, was ich wirklich nötig habe. Wie soll mir jemand Mut machen, wenn ich immer den Mutigen spiele? Wie soll mir jemand etwas abnehmen, wenn ich alles selber tragen will?
Solange wir bitten können, haben wir den Senfkornglauben, der in Jesu Augen so kraftvoll ist. Wahrscheinlich kann erst dann Nähe und Beziehung entstehen, wenn wir aufhören, immer stark sein zu wollen. Sogar im Glauben. Dass Nähe entstehen kann, Nähe zu anderen Menschen und Nähe zu Gott - das ist das Wunder, das der Senfkornglaube möglich macht. Dann kann aus dem Senfkorn ein kräftiger Baum werden, in dem die Vögel des Himmels nisten - wie es in einem anderen biblischen Gleichnis heisst. Nähe entsteht nicht durch Stärke, nicht einmal durch Glaubensstärke. Sie entsteht, wenn wir uns öffnen und dem anderen zuwenden. Sie entsteht, wenn wir einfach sind, statt etwas sein zu wollen. Und diese Nähe zwischen uns und anderen, diese Nähe zwischen uns und Gott ist das grösste Wunder. Ein Wunder - grösser als wenn ein Maulbeerbaum ins Meer verpflanzt würde.
Dieses Wunder der Nähe wird möglich, wenn wir achtsam sind und uns darauf verlassen, dass unser Vertrauen - sei es auch winzig wie ein Senfkorn - genug ist. Wir müssen nicht mehr in die Waagschale werfen als da ist. Damit können wir leben und wachsen. Gott sei Dank. Amen.
predigtkiste
Dienstag, 3. September 2013
Samstag, 13. Juli 2013
Predigt über Lukas 9,10-17 am 14. Juli 2013
Liebe Gemeinde,
die Geschichte von der wunderbaren Brotvermehrung war den Evangelisten so wichtig war, dass keiner sie ausgelassen hat und zwei die Geschichte sogar noch ein zweites Mal erzählten – als Geschichte von der Speisung der 4000. Bei dieser wunderbaren und wohlvertrauten Geschichte möchte ich sie heute zuerst einmal einladen, sich diese Szene in der Wüste auszumalen. Eine ungeheure Menschenmenge befindet sich da in der Einöde. Sie hören Jesus zu, ahnen, dass von seinen Worten eine grosse, eine befreiende Kraft ausgeht. Es sind vorwiegend einfache Menschen, Leute, die keine grossen Reichtümer besitzen, die von ihren alltäglichen Sorgen geplagt werden, die täglich neu im Kampf ums Überleben stehen und sehen müssen, wie sie sich und ihre Familien ernähren. Alle Blicke sind auf Jesus gerichtet. Sehen die Menschen überhaupt, wer da neben ihnen sitzt oder steht? Realisieren sie überhaupt, wie langsam die Abenddämmerung hereinbricht und der Hunger sich meldet?
Da melden sich die Zwölf zu Wort: Schick diese Leute weg, damit sie sich etwas zu essen kaufen. Gemeinsam haben sie Jesus zugehört. Nun sollen sie jeder für sich das tägliche Brot besorgen. Aber Jesus sieht das anders. Er will, dass die Leute satt werden - satt an Leib und Seele. Gebt ihr ihnen zu essen! Ist das nicht ein absolut unmögliches Unterfangen? Wie sollen sie denn Brot für so viele Menschen kaufen? Mit den 5 Broten und zwei Fischen, die da sind, ist ja nicht viel auszurichten! Aber Jesus beharrt darauf, die Menschen nicht wegzuschicken. Und das Wunder beginnt nicht mit der Vermehrung des Brotes und nicht einmal mit Jesu Dankgebet, sondern damit, dass Jesus die Menschenmenge verwandelt. Das ist viel mehr als eine organisatorische Randnotiz. Das ist ein ganz entscheidender Teil des Wunders. Und das habe ich vorhin auch gemeint, als ich sie eingeladen habe, sich die Szene in der Wüste auszumalen.
Da sind zuerst 5000 Männer, dazu Frauen und Kinder, eine einzige, unüberschaubare Masse. Und dann auf Jesu Wort hin, sitzen sie da in Gruppen zu 50. Plötzlich nehmen sie nicht mehr nur Jesus war, sondern auch die Menschen neben sich. Der Mensch neben ihnen bekommt ein Gesicht. sie fangen an, miteinander zu reden, Menschen, die sich bisher fremd gewesen sind. Und sie fangen an, miteinander zu teilen, zu essen, aufeinander zu achten und sich zu sorgen, dass keiner hungrig weggehen muss. „Lasst sie sich lagern in Gruppen zu fünfzig.“ Mit dieser einfachen Aufforderung verwandelt Jesus die anonyme Menge in Gemeinschaften, in denen eines das andere wahrnimmt. Keine abgeschlossenen Kleingruppen, erst recht kein Rückzug auf die Kleinfamilie, Fremde werden zu Nächsten, zu Menschen mit einem Gesicht. Unvorstellbar, dass da noch einer das seine, auch wenn es wenig ist, nur für sich behält. Unwahrscheinlich, dass die Gruppen sich verschliessen, wenn sie merken, dass die Nachbargruppe zu wenig hat. Diese friedlich in der Einöde lagernde Menge, die das Essen miteinander teilt, ist für mich ein zutiefst berührendes Bild. In diesem Bild steckt für mich die Utopie einer friedlich zusammenlebenden Menschheitsfamilie. Sie ist das Urbild eines Lebens, wie Gott es will. Menschen, die einander wahrnehmen und nicht nur auf sich selber bedacht sind, Menschen die teilen und darauf achten, dass es für alle reicht. Und unser Predigttext sagt uns: eine solche Welt ist möglich. Hört nicht auf, daran zu glauben. Lasst euch nicht entmutigen. Auch nicht durch scheinbar vernünftige Einwände und Bedenken. Am Ende der Geschichte sind alle satt, nicht nur notdürftig abgespeist und es ist mehr übrig, als am Anfang dagewesen zu sein schien.
Ja, die Geschichte von der wunderbaren Brotvermehrung ist auch eine Geschichte gegen unsere Bedenkenträgerei, unsere Übervorsicht, unseren Kleinglauben. Statt Bedenken zu tragen fängt Jesus an zu danken. Er dankt Gott für das, was da ist. Er fängt einfach an und sieht zu, was daraus wird, wenn einer anfängt zu teilen - zu teilen, was scheinbar viel zu wenig ist, nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Diese Einladung, einfach mit dem anzufangen, was da ist, die Skepsis und die Bedenken über Bord zu werfen, sie durchzieht die ganze Botschaft Jesu, sie begegnet uns nicht nur im heutigen Predigttext. Mehrfach wird uns erzählt, wie Jesus seine Jünger auffordert, die Netze auszuwerfen – und siehe, sie machen einen wunderbaren Fang. In den Geschichten, in denen Menschen Heilung erfahren, lobt Jesus das Vertrauen und die Beharrlichkeit der Betroffenen. „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Und immer sind es nicht nur gute Worte, die Jesus zu bieten hat, sondern Leben, Heilung, Nahrung, Gemeinschaft und Vergebung. Im Gleichnis von den anvertrauten Talenten werden wir eingeladen, das, was da ist nicht ängstlich zu vergraben, sondern mit den uns anvertrauten Talenten zu wuchern. Und auch in den Geschichten von den Begegnungen mit dem Auferstandenen geht es ja entscheidend darum, dass Menschen wieder Glauben und Vertrauen lernen und ihre Mutlosigkeit und Trauer überwinden, dass sie glauben können, dass das Leben stärker ist als der Tod.
Wie nötig haben wir diese ermutigende Botschaft gerade heute. Ich denke dabei zuallererst an den Blick für den Nächsten, der in der anonymen Menge allzu oft verloren zu gehen droht. Wir haben es dringend nötig, dass aus Einzelkämpfern Menschen werden, die aufeinander achten und zueinander schauen. Das heisst ganz und gar nicht, dass wir öffentliche Sozialsysteme durch private nachbarschaftliche Hilfe ersetzen sollten. Im Gegenteil, wer im Nächsten den Menschen mit einem Gesicht, mit seinen Gefühlen, Nöten und Bedürfnissen sieht, der wird vielleicht auch vorsichtiger mit dem Generalverdacht, Bezüger von Sozialleistungen seien Schmarotzer und faule Cheibe. Aber was keine staatliche Fürsorge und kein Gesetz wirklich leisten kann, das ist die menschliche Wärme und Zuwendung, die Menschen in persönlicher Zuwendung ihren Nächsten und auch den Fremden, die ihnen zu Nächsten werden, geben können. Das ist das, was die Bibel Nächstenliebe nennt, eine Nächstenliebe, die nicht an den Grenzen der Familie, des Dorfes, des Landes enden darf.
Und wenn wir in unserer Geschichte einmal Brot und Fische durch Zeit ersetzen, dann können wir noch einmal eine Entdeckung machen. Wie wäre es, wenn uns die Geschichte dazu einladen würde, unsere Zeit grosszügig miteinander zu teilen? Wer heute Zeit hat, der darf das ja fast nicht mehr zeigen, um nicht als faul zu gelten. Alle sind im Stress und es gehört zum guten Ton, dass man betont, wie gestresst und überlastet man ist. Es ist ja für sehr viele auch eine Realität und ich möchte da ganz und gar nichts verniedlichen oder Vorwürfe machen. Ich selber kenne solche Momente, wo es einfach zu viel ist, sehr gut. Trotzdem kann uns die Geschichte von der Brotvermehrung lehren, uns zumindest von dem Zwang zu lösen, uns immer im Stress zu fühlen und das Gefühl zu haben, es sei nie genug. Vielleicht können wir dann wieder neu entdecken, dass die Zeit ein Geschenk ist, das uns anvertraut ist, damit wir sie füreinander einsetzen. Und wir könnten dann die Entdeckung machen, dass verschenkte Zeit reicher macht, dass die Zeit, die ich für einen anderen Menschen einsetze, ganz und gar nicht verlorene Zeit ist.
Und vor allem ist mir an der Geschichte wichtig, dass sie uns sagt: das, was da ist, ist genug. Habt einfach den Mut, es auch voll Vertrauen einzusetzen. Ihr müsst nicht mehr einsetzen als ihr habt, ihr müsst nicht mehr Zeit verschenken als ihr könnt. Auch wenn das, was da ist, wenig zu sein scheint – es ist genug. Setzt es ein und seht zu, was daraus wird. Das gilt sogar für unseren Glauben. Auch da sollen wir uns nicht damit plagen, ob wir denn tief und fest genug glauben und wir müssen uns nicht unsere Zweifel und unsere Unsicherheiten zum Vorwurf machen. Nein, wir dürfen dankbar annehmen, was uns an Glauben, an Vertrauen geschenkt ist. Und vor allem brauchen wir unseren Glauben, unsere bescheidenen Erfahrungen nicht ängstlich für uns selbst behalten. Auch im Glauben gilt, dass teilen reicher macht und dass das Wunder beginnt, wo Menschen einander wahrnehmen, sich selbst und einander und darin Gott etwas zutrauen und einfach anfangen, ohne alles vorauszuberechnen und sich durch scheinbar realistische Bedenken entmutigen zu lassen. Das Bild der friedlich sich lagernden Menschheitsfamilie, die miteinander teilt, so dass alle satt werden an Leib und Seele, sie mag eine Utopie sein. Aber wenn wir an dieser Utopie nicht mehr festhalten, wird das Leben unmenschlich. Wo aber jeder das Seine beiträgt – im Vertrauen darauf, dass bei Gott alle Dinge möglich sind – da kann Vertrauen wachsen und Leben sich verändern, oftmals nur klein und unscheinbar und doch ganz real. Dieses Vertrauen möge Gott uns immer wieder neu schenken, damit wir erfahren dürfen, dass Teilen reicher macht. Amen.
die Geschichte von der wunderbaren Brotvermehrung war den Evangelisten so wichtig war, dass keiner sie ausgelassen hat und zwei die Geschichte sogar noch ein zweites Mal erzählten – als Geschichte von der Speisung der 4000. Bei dieser wunderbaren und wohlvertrauten Geschichte möchte ich sie heute zuerst einmal einladen, sich diese Szene in der Wüste auszumalen. Eine ungeheure Menschenmenge befindet sich da in der Einöde. Sie hören Jesus zu, ahnen, dass von seinen Worten eine grosse, eine befreiende Kraft ausgeht. Es sind vorwiegend einfache Menschen, Leute, die keine grossen Reichtümer besitzen, die von ihren alltäglichen Sorgen geplagt werden, die täglich neu im Kampf ums Überleben stehen und sehen müssen, wie sie sich und ihre Familien ernähren. Alle Blicke sind auf Jesus gerichtet. Sehen die Menschen überhaupt, wer da neben ihnen sitzt oder steht? Realisieren sie überhaupt, wie langsam die Abenddämmerung hereinbricht und der Hunger sich meldet?
Da melden sich die Zwölf zu Wort: Schick diese Leute weg, damit sie sich etwas zu essen kaufen. Gemeinsam haben sie Jesus zugehört. Nun sollen sie jeder für sich das tägliche Brot besorgen. Aber Jesus sieht das anders. Er will, dass die Leute satt werden - satt an Leib und Seele. Gebt ihr ihnen zu essen! Ist das nicht ein absolut unmögliches Unterfangen? Wie sollen sie denn Brot für so viele Menschen kaufen? Mit den 5 Broten und zwei Fischen, die da sind, ist ja nicht viel auszurichten! Aber Jesus beharrt darauf, die Menschen nicht wegzuschicken. Und das Wunder beginnt nicht mit der Vermehrung des Brotes und nicht einmal mit Jesu Dankgebet, sondern damit, dass Jesus die Menschenmenge verwandelt. Das ist viel mehr als eine organisatorische Randnotiz. Das ist ein ganz entscheidender Teil des Wunders. Und das habe ich vorhin auch gemeint, als ich sie eingeladen habe, sich die Szene in der Wüste auszumalen.
Da sind zuerst 5000 Männer, dazu Frauen und Kinder, eine einzige, unüberschaubare Masse. Und dann auf Jesu Wort hin, sitzen sie da in Gruppen zu 50. Plötzlich nehmen sie nicht mehr nur Jesus war, sondern auch die Menschen neben sich. Der Mensch neben ihnen bekommt ein Gesicht. sie fangen an, miteinander zu reden, Menschen, die sich bisher fremd gewesen sind. Und sie fangen an, miteinander zu teilen, zu essen, aufeinander zu achten und sich zu sorgen, dass keiner hungrig weggehen muss. „Lasst sie sich lagern in Gruppen zu fünfzig.“ Mit dieser einfachen Aufforderung verwandelt Jesus die anonyme Menge in Gemeinschaften, in denen eines das andere wahrnimmt. Keine abgeschlossenen Kleingruppen, erst recht kein Rückzug auf die Kleinfamilie, Fremde werden zu Nächsten, zu Menschen mit einem Gesicht. Unvorstellbar, dass da noch einer das seine, auch wenn es wenig ist, nur für sich behält. Unwahrscheinlich, dass die Gruppen sich verschliessen, wenn sie merken, dass die Nachbargruppe zu wenig hat. Diese friedlich in der Einöde lagernde Menge, die das Essen miteinander teilt, ist für mich ein zutiefst berührendes Bild. In diesem Bild steckt für mich die Utopie einer friedlich zusammenlebenden Menschheitsfamilie. Sie ist das Urbild eines Lebens, wie Gott es will. Menschen, die einander wahrnehmen und nicht nur auf sich selber bedacht sind, Menschen die teilen und darauf achten, dass es für alle reicht. Und unser Predigttext sagt uns: eine solche Welt ist möglich. Hört nicht auf, daran zu glauben. Lasst euch nicht entmutigen. Auch nicht durch scheinbar vernünftige Einwände und Bedenken. Am Ende der Geschichte sind alle satt, nicht nur notdürftig abgespeist und es ist mehr übrig, als am Anfang dagewesen zu sein schien.
Ja, die Geschichte von der wunderbaren Brotvermehrung ist auch eine Geschichte gegen unsere Bedenkenträgerei, unsere Übervorsicht, unseren Kleinglauben. Statt Bedenken zu tragen fängt Jesus an zu danken. Er dankt Gott für das, was da ist. Er fängt einfach an und sieht zu, was daraus wird, wenn einer anfängt zu teilen - zu teilen, was scheinbar viel zu wenig ist, nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Diese Einladung, einfach mit dem anzufangen, was da ist, die Skepsis und die Bedenken über Bord zu werfen, sie durchzieht die ganze Botschaft Jesu, sie begegnet uns nicht nur im heutigen Predigttext. Mehrfach wird uns erzählt, wie Jesus seine Jünger auffordert, die Netze auszuwerfen – und siehe, sie machen einen wunderbaren Fang. In den Geschichten, in denen Menschen Heilung erfahren, lobt Jesus das Vertrauen und die Beharrlichkeit der Betroffenen. „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Und immer sind es nicht nur gute Worte, die Jesus zu bieten hat, sondern Leben, Heilung, Nahrung, Gemeinschaft und Vergebung. Im Gleichnis von den anvertrauten Talenten werden wir eingeladen, das, was da ist nicht ängstlich zu vergraben, sondern mit den uns anvertrauten Talenten zu wuchern. Und auch in den Geschichten von den Begegnungen mit dem Auferstandenen geht es ja entscheidend darum, dass Menschen wieder Glauben und Vertrauen lernen und ihre Mutlosigkeit und Trauer überwinden, dass sie glauben können, dass das Leben stärker ist als der Tod.
Wie nötig haben wir diese ermutigende Botschaft gerade heute. Ich denke dabei zuallererst an den Blick für den Nächsten, der in der anonymen Menge allzu oft verloren zu gehen droht. Wir haben es dringend nötig, dass aus Einzelkämpfern Menschen werden, die aufeinander achten und zueinander schauen. Das heisst ganz und gar nicht, dass wir öffentliche Sozialsysteme durch private nachbarschaftliche Hilfe ersetzen sollten. Im Gegenteil, wer im Nächsten den Menschen mit einem Gesicht, mit seinen Gefühlen, Nöten und Bedürfnissen sieht, der wird vielleicht auch vorsichtiger mit dem Generalverdacht, Bezüger von Sozialleistungen seien Schmarotzer und faule Cheibe. Aber was keine staatliche Fürsorge und kein Gesetz wirklich leisten kann, das ist die menschliche Wärme und Zuwendung, die Menschen in persönlicher Zuwendung ihren Nächsten und auch den Fremden, die ihnen zu Nächsten werden, geben können. Das ist das, was die Bibel Nächstenliebe nennt, eine Nächstenliebe, die nicht an den Grenzen der Familie, des Dorfes, des Landes enden darf.
Und wenn wir in unserer Geschichte einmal Brot und Fische durch Zeit ersetzen, dann können wir noch einmal eine Entdeckung machen. Wie wäre es, wenn uns die Geschichte dazu einladen würde, unsere Zeit grosszügig miteinander zu teilen? Wer heute Zeit hat, der darf das ja fast nicht mehr zeigen, um nicht als faul zu gelten. Alle sind im Stress und es gehört zum guten Ton, dass man betont, wie gestresst und überlastet man ist. Es ist ja für sehr viele auch eine Realität und ich möchte da ganz und gar nichts verniedlichen oder Vorwürfe machen. Ich selber kenne solche Momente, wo es einfach zu viel ist, sehr gut. Trotzdem kann uns die Geschichte von der Brotvermehrung lehren, uns zumindest von dem Zwang zu lösen, uns immer im Stress zu fühlen und das Gefühl zu haben, es sei nie genug. Vielleicht können wir dann wieder neu entdecken, dass die Zeit ein Geschenk ist, das uns anvertraut ist, damit wir sie füreinander einsetzen. Und wir könnten dann die Entdeckung machen, dass verschenkte Zeit reicher macht, dass die Zeit, die ich für einen anderen Menschen einsetze, ganz und gar nicht verlorene Zeit ist.
Und vor allem ist mir an der Geschichte wichtig, dass sie uns sagt: das, was da ist, ist genug. Habt einfach den Mut, es auch voll Vertrauen einzusetzen. Ihr müsst nicht mehr einsetzen als ihr habt, ihr müsst nicht mehr Zeit verschenken als ihr könnt. Auch wenn das, was da ist, wenig zu sein scheint – es ist genug. Setzt es ein und seht zu, was daraus wird. Das gilt sogar für unseren Glauben. Auch da sollen wir uns nicht damit plagen, ob wir denn tief und fest genug glauben und wir müssen uns nicht unsere Zweifel und unsere Unsicherheiten zum Vorwurf machen. Nein, wir dürfen dankbar annehmen, was uns an Glauben, an Vertrauen geschenkt ist. Und vor allem brauchen wir unseren Glauben, unsere bescheidenen Erfahrungen nicht ängstlich für uns selbst behalten. Auch im Glauben gilt, dass teilen reicher macht und dass das Wunder beginnt, wo Menschen einander wahrnehmen, sich selbst und einander und darin Gott etwas zutrauen und einfach anfangen, ohne alles vorauszuberechnen und sich durch scheinbar realistische Bedenken entmutigen zu lassen. Das Bild der friedlich sich lagernden Menschheitsfamilie, die miteinander teilt, so dass alle satt werden an Leib und Seele, sie mag eine Utopie sein. Aber wenn wir an dieser Utopie nicht mehr festhalten, wird das Leben unmenschlich. Wo aber jeder das Seine beiträgt – im Vertrauen darauf, dass bei Gott alle Dinge möglich sind – da kann Vertrauen wachsen und Leben sich verändern, oftmals nur klein und unscheinbar und doch ganz real. Dieses Vertrauen möge Gott uns immer wieder neu schenken, damit wir erfahren dürfen, dass Teilen reicher macht. Amen.
Predigt über Joh 7,53-8,11 am 16. Juni 2013 in der Klosterruine Rüeggisberg
Liebe Gemeinde
Vielleicht fragen sie sich: warum erzählt er uns diese alte Geschichte- und das ausgerechnet heute, wo ihr, Michelle und Simon euren Mael taufen lasst und wo mein Kollege CG und seine Frau E. das Fest ihrer Goldenen Hochzeit feiern? Da erzähle ich ihnen die Geschichte einer Ehebrecherin. schon das Wort tönt ja eher vorgestrig. Wir haben akzeptiert, dass Beziehungen zerbrechen können. Und die Vorstellung, Ehebruch könne ein todeswürdiges Verbrechen sein, ist uns - hoffentlich - ziemlich fremd.
Mag sein, dass sie nun die leise Befürchtung haben, der Herr Pfarrer könnte die Gelegenheit zu einer Moralpredigt nutzen. Dann kann ich sie beruhigen. Das ist nicht meine Absicht. Oder fängt der Pfarrer jetzt auch schon an, über das Ideal offener Beziehungen zu philosophieren und alle moralischen Vorstellungen über Bord zu werfen? Auch das ist mir fremd. Ich finde diese Geschichte aus dem Joh ganz einfach faszinierend und berührend und ausserordentlich lehrreich.
Zuerst einmal lade ich sie ein zu einem kleinen Gedankenexperiment: Stellen sie sich die Geschichte einfach einmal ohne Jesus vor. Dann kämen also Schriftgelehrte, die damals Experten in religiösen Fragen und Richter in weltlichen Angelegenheiten waren mit einem scheinbar eindeutigen Rechtsfall. Eine Frau hat Ehebruch begangen. Aber statt zu urteilen, fragen sie zuerst einen Wanderprediger, der formal keinerlei Autorität in solchen Dingen hat. Fragen wir uns einmal ganz ehrlich: Wem hätten wir zugestimmt und Beifall geklatscht, wenn dieser Wanderprediger nicht Jesus wäre? Oder wenn wir gefragt worden wären, was hätten wir wohl geantwortet? Hätten wir uns nicht doch eher auf die Seite der Vertreter von Gesetz und Moral gestellt - natürlich nicht mit diesem altertümlichen Strafmass, aber doch im moralischen Urteil. Ich verzichte jetzt auf die unschönen Ausdrücke, mit denen wir die Frau womöglich bedacht hätten …
Oder soll ich sie noch zu einem heikleren Gedankenexperiment einladen? In Liebesdingen sind wir ja toleranter geworden. Aber stellen sie sich einmal vor, Polizisten brächten einen straffällig gewordenen Asylbewerber zu uns, auf frischer Tat ertappt bei einem schweren Einbruch. Und sie würden uns fragen: Soll man diesen Mann ausschaffen? Manche würden dem wohl sofort zustimmen - ohne lange nach der Geschichte und den Beweggründen dieses Menschen zu fragen. Und was würde Jesus wohl dazu sagen?
Aber kommen wir zurück zur Geschichte aus dem Johannesevangelium. Erlauben sie mir ein paar Randbemerkungen: Wir haben uns daran gewöhnt, uns die Schriftgelehrten als sture und herzlose Männer vorzustellen. Im Johannesevangelium heisst es, sie wollten Jesus eine Falle stellen. Aber könnte es nicht auch sein, dass sie nach einem Weg suchten, Barmherzigkeit zu üben und das scheinbar so eindeutige Urteil nicht auszusprechen? Sie hatten ja formal die Autorität - nicht Jesus. Und noch eine Randbemerkung: Die Angeklagte ist die Frau, aber zum Ehebruch gehören bekanntlich zwei. Warum ist vom Mann keine Rede?
Aber das sollen nur Randbemerkungen sein. Ich möchte mich auf vier Dinge konzentrieren: 1. Hütet euch vor schnellen moralischen Urteilen und reduziert niemals einen Menschen auf seine Verfehlungen. 2. Projeziert nicht eure eigenen Fehler oder eure ungelebten Sehnsüchte, eure Phantasien auf andere. 3. Nehmt den ganzen Menschen wahr, auch seine Verletzungen und ungestillten Sehnsüchte. Und 4. Verzichtet trotzdem nicht auf moralische Massstäbe. Die Ehebrecherin nicht zu verurteilen heisst nicht, den Ehebruch gutzuheissen.
Fangen wir beim ersten Punkt an: Wie oft nehmen wir die offensichtlichen Fehler der anderen wahr. So wie die Schriftgelehrten mit dem Finger auf diese Ehebrecherin zeigen. Und es ist ja auch ein gutes Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Vielleicht zögern wir zuerst noch, aber wenn mal jemand angefangen hat, über jemanden zu richten, dessen Fehler offensichtlich sind, macht so mancher gerne mit und es braucht viel Mumm, dann dagegen zu halten. Jesus hat diesen Mumm. Er macht die Männer auf etwas aufmerksam, was ein Sprichwort so treffend beschreibt: Wenn wir mit einem Finger auf andere zeigen, weisen vier Finger auf uns selber zurück. „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ So einfach und so entwaffnend ist Jesu Reaktion. Allerdings - auch Jesus verschafft sich zuerst einmal etwas Bedenkzeit und reagiert erst mal gar nicht, sondern schreibt mit dem Finger auf die Erde. Und nach der entwaffnenden Antwort lässt er diese Männergesellschaft einfach stehen und schreibt weiter auf die Erde. Er lässt sich erst gar nicht auf moralische Diskussionen ein. Egal, was dieser Frau vorzuwerfen ist - niemand hat das Recht, den Stab über sie zu brechen, ganz gewiss nicht, solange er sich nicht für ihre Sehnsüchte und Lebenserfahrungen interessiert hat. Und niemals dürfen wir einen Menschen auf seine Verfehlungen reduzieren. Übrigens heisst das auch, dass wir nicht einfach mit dem Finger auf die Schriftgelehrten zeigen sollten.
Wenn wir im Begriff sind, jemanden moralisch zu verurteilen, sollten wir uns zuerst einmal für diesen Menschen, seine Geschichte, seine Verletzungen, Enttäuschungen und Sehnsüchte interessieren. Und - das ist nun das Zweite - wir sollten uns selbst überprüfen, ob wir nicht vorschnell geurteilt haben und wo wir mindestens ebenso Anlass haben, über uns und unsere Fehler nachzudenken. Und so manche moralische Verurteilung mag zumindest zum Teil auch Projektion unserer eigenen Phantasie oder unserer ungelebten und ungestillten Sehnsüchte sein.
Und das Dritte: Nehmt den ganzen Menschen wahr, statt zu verurteilen. Vielleicht hat die Frau in dieser Beziehung - die man faktisch nur als Ehebruch bezeichnen kann - zum ersten Mal in ihrem Leben oder seit langem wieder Verständnis und Zuwendung erlebt. Oder sie hat eine Lebensfreude und Vitalität in sich gespürt, die schon längst erloschen schien. Sie hat womöglich eine Wärme und Zärtlichkeit erfahren, die ihr so schmerzlich gefehlt haben. Sie hat vielleicht das neue Gefühl entdeckt, sich einfach hingeben und fallen lassen zu können. Vermutlich hat sie sich selbst all die moralischen Fragen gestellt, mit denen sie nun konfrontiert wird. Aber dieses neue, belebende und bereichernde Gefühl war ihr wichtiger und kostbarer als alles andere. Wenn die Schriftgelehrten all das bedacht hätten, wären sie vielleicht vorsichtiger gewesen mit ihrem moralischen Urteil.
Allerdings - und das ist nun das vierte: bei aller Liberalität und allem Verständnis - Jesus ist weit davon entfernt, das Ideal freier Liebe und offener Beziehungen zu predigen. Denn immer ist da ja auch eine Partnerin oder ein Partner, die oder der sich zurückgesetzt fühlt, deren Vertrauen schwindet, der verletzt wird. Und auch diese schmerzlichen Gefühle sind Teil der Geschichte. Meine persönliche Überzeugung ist: Beziehungen sind keine Besitzverhältnisse. Sie brauchen eine gewisse Offenheit, um lebbar und lebendig zu bleiben. Aber sie brauchen auch ein Mass an Exklusivität und Einzigartigkeit. Sie brauchen einen Bereich, der unteilbar und unantastbar ist. Denn jeder Mensch hat das Bedürfnis, irgendwo an erster Stelle zu stehen und sich darauf auch verlassen zu können.
Jesus sagt zu der Frau: „Auch ich verurteile dich nicht.“ Aber er sagt auch: „Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ Er heisst nichts gut, rechtfertigt nichts. Aber er schafft Raum, in dem diese Frau aufatmen kann, das Gesicht wahren kann. Aus dieser Erfahrung, als Mensch angenommen zu sein, kann etwas wachsen. Sie kann in sich selber finden, was sie in dem anderen gesucht hat. Vielleicht kann sie dabei sogar die Erfahrungen dieser Beziehung mitnehmen und fruchtbar machen.
So wie Jesus diese Frau nicht verurteilt, so verurteilt er auch uns nicht. Das ist ein befreiendes Gefühl. Wir dürfen so sein, wie wir sind. Dann können wir auch durchaus selbstkritisch sein. Weil da einer ist, der uns akzeptiert, der uns zu einer Vitalität und Lebendigkeit befreit, die wir uns vielleicht gar nicht (oder nicht mehr) zugetraut haben. Und in diesem Geist können wir andere akzeptieren, so wie sie sind - mit Grosszügigkeit, Wärme und Respekt. Amen.
Vielleicht fragen sie sich: warum erzählt er uns diese alte Geschichte- und das ausgerechnet heute, wo ihr, Michelle und Simon euren Mael taufen lasst und wo mein Kollege CG und seine Frau E. das Fest ihrer Goldenen Hochzeit feiern? Da erzähle ich ihnen die Geschichte einer Ehebrecherin. schon das Wort tönt ja eher vorgestrig. Wir haben akzeptiert, dass Beziehungen zerbrechen können. Und die Vorstellung, Ehebruch könne ein todeswürdiges Verbrechen sein, ist uns - hoffentlich - ziemlich fremd.
Mag sein, dass sie nun die leise Befürchtung haben, der Herr Pfarrer könnte die Gelegenheit zu einer Moralpredigt nutzen. Dann kann ich sie beruhigen. Das ist nicht meine Absicht. Oder fängt der Pfarrer jetzt auch schon an, über das Ideal offener Beziehungen zu philosophieren und alle moralischen Vorstellungen über Bord zu werfen? Auch das ist mir fremd. Ich finde diese Geschichte aus dem Joh ganz einfach faszinierend und berührend und ausserordentlich lehrreich.
Zuerst einmal lade ich sie ein zu einem kleinen Gedankenexperiment: Stellen sie sich die Geschichte einfach einmal ohne Jesus vor. Dann kämen also Schriftgelehrte, die damals Experten in religiösen Fragen und Richter in weltlichen Angelegenheiten waren mit einem scheinbar eindeutigen Rechtsfall. Eine Frau hat Ehebruch begangen. Aber statt zu urteilen, fragen sie zuerst einen Wanderprediger, der formal keinerlei Autorität in solchen Dingen hat. Fragen wir uns einmal ganz ehrlich: Wem hätten wir zugestimmt und Beifall geklatscht, wenn dieser Wanderprediger nicht Jesus wäre? Oder wenn wir gefragt worden wären, was hätten wir wohl geantwortet? Hätten wir uns nicht doch eher auf die Seite der Vertreter von Gesetz und Moral gestellt - natürlich nicht mit diesem altertümlichen Strafmass, aber doch im moralischen Urteil. Ich verzichte jetzt auf die unschönen Ausdrücke, mit denen wir die Frau womöglich bedacht hätten …
Oder soll ich sie noch zu einem heikleren Gedankenexperiment einladen? In Liebesdingen sind wir ja toleranter geworden. Aber stellen sie sich einmal vor, Polizisten brächten einen straffällig gewordenen Asylbewerber zu uns, auf frischer Tat ertappt bei einem schweren Einbruch. Und sie würden uns fragen: Soll man diesen Mann ausschaffen? Manche würden dem wohl sofort zustimmen - ohne lange nach der Geschichte und den Beweggründen dieses Menschen zu fragen. Und was würde Jesus wohl dazu sagen?
Aber kommen wir zurück zur Geschichte aus dem Johannesevangelium. Erlauben sie mir ein paar Randbemerkungen: Wir haben uns daran gewöhnt, uns die Schriftgelehrten als sture und herzlose Männer vorzustellen. Im Johannesevangelium heisst es, sie wollten Jesus eine Falle stellen. Aber könnte es nicht auch sein, dass sie nach einem Weg suchten, Barmherzigkeit zu üben und das scheinbar so eindeutige Urteil nicht auszusprechen? Sie hatten ja formal die Autorität - nicht Jesus. Und noch eine Randbemerkung: Die Angeklagte ist die Frau, aber zum Ehebruch gehören bekanntlich zwei. Warum ist vom Mann keine Rede?
Aber das sollen nur Randbemerkungen sein. Ich möchte mich auf vier Dinge konzentrieren: 1. Hütet euch vor schnellen moralischen Urteilen und reduziert niemals einen Menschen auf seine Verfehlungen. 2. Projeziert nicht eure eigenen Fehler oder eure ungelebten Sehnsüchte, eure Phantasien auf andere. 3. Nehmt den ganzen Menschen wahr, auch seine Verletzungen und ungestillten Sehnsüchte. Und 4. Verzichtet trotzdem nicht auf moralische Massstäbe. Die Ehebrecherin nicht zu verurteilen heisst nicht, den Ehebruch gutzuheissen.
Fangen wir beim ersten Punkt an: Wie oft nehmen wir die offensichtlichen Fehler der anderen wahr. So wie die Schriftgelehrten mit dem Finger auf diese Ehebrecherin zeigen. Und es ist ja auch ein gutes Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Vielleicht zögern wir zuerst noch, aber wenn mal jemand angefangen hat, über jemanden zu richten, dessen Fehler offensichtlich sind, macht so mancher gerne mit und es braucht viel Mumm, dann dagegen zu halten. Jesus hat diesen Mumm. Er macht die Männer auf etwas aufmerksam, was ein Sprichwort so treffend beschreibt: Wenn wir mit einem Finger auf andere zeigen, weisen vier Finger auf uns selber zurück. „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ So einfach und so entwaffnend ist Jesu Reaktion. Allerdings - auch Jesus verschafft sich zuerst einmal etwas Bedenkzeit und reagiert erst mal gar nicht, sondern schreibt mit dem Finger auf die Erde. Und nach der entwaffnenden Antwort lässt er diese Männergesellschaft einfach stehen und schreibt weiter auf die Erde. Er lässt sich erst gar nicht auf moralische Diskussionen ein. Egal, was dieser Frau vorzuwerfen ist - niemand hat das Recht, den Stab über sie zu brechen, ganz gewiss nicht, solange er sich nicht für ihre Sehnsüchte und Lebenserfahrungen interessiert hat. Und niemals dürfen wir einen Menschen auf seine Verfehlungen reduzieren. Übrigens heisst das auch, dass wir nicht einfach mit dem Finger auf die Schriftgelehrten zeigen sollten.
Wenn wir im Begriff sind, jemanden moralisch zu verurteilen, sollten wir uns zuerst einmal für diesen Menschen, seine Geschichte, seine Verletzungen, Enttäuschungen und Sehnsüchte interessieren. Und - das ist nun das Zweite - wir sollten uns selbst überprüfen, ob wir nicht vorschnell geurteilt haben und wo wir mindestens ebenso Anlass haben, über uns und unsere Fehler nachzudenken. Und so manche moralische Verurteilung mag zumindest zum Teil auch Projektion unserer eigenen Phantasie oder unserer ungelebten und ungestillten Sehnsüchte sein.
Und das Dritte: Nehmt den ganzen Menschen wahr, statt zu verurteilen. Vielleicht hat die Frau in dieser Beziehung - die man faktisch nur als Ehebruch bezeichnen kann - zum ersten Mal in ihrem Leben oder seit langem wieder Verständnis und Zuwendung erlebt. Oder sie hat eine Lebensfreude und Vitalität in sich gespürt, die schon längst erloschen schien. Sie hat womöglich eine Wärme und Zärtlichkeit erfahren, die ihr so schmerzlich gefehlt haben. Sie hat vielleicht das neue Gefühl entdeckt, sich einfach hingeben und fallen lassen zu können. Vermutlich hat sie sich selbst all die moralischen Fragen gestellt, mit denen sie nun konfrontiert wird. Aber dieses neue, belebende und bereichernde Gefühl war ihr wichtiger und kostbarer als alles andere. Wenn die Schriftgelehrten all das bedacht hätten, wären sie vielleicht vorsichtiger gewesen mit ihrem moralischen Urteil.
Allerdings - und das ist nun das vierte: bei aller Liberalität und allem Verständnis - Jesus ist weit davon entfernt, das Ideal freier Liebe und offener Beziehungen zu predigen. Denn immer ist da ja auch eine Partnerin oder ein Partner, die oder der sich zurückgesetzt fühlt, deren Vertrauen schwindet, der verletzt wird. Und auch diese schmerzlichen Gefühle sind Teil der Geschichte. Meine persönliche Überzeugung ist: Beziehungen sind keine Besitzverhältnisse. Sie brauchen eine gewisse Offenheit, um lebbar und lebendig zu bleiben. Aber sie brauchen auch ein Mass an Exklusivität und Einzigartigkeit. Sie brauchen einen Bereich, der unteilbar und unantastbar ist. Denn jeder Mensch hat das Bedürfnis, irgendwo an erster Stelle zu stehen und sich darauf auch verlassen zu können.
Jesus sagt zu der Frau: „Auch ich verurteile dich nicht.“ Aber er sagt auch: „Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ Er heisst nichts gut, rechtfertigt nichts. Aber er schafft Raum, in dem diese Frau aufatmen kann, das Gesicht wahren kann. Aus dieser Erfahrung, als Mensch angenommen zu sein, kann etwas wachsen. Sie kann in sich selber finden, was sie in dem anderen gesucht hat. Vielleicht kann sie dabei sogar die Erfahrungen dieser Beziehung mitnehmen und fruchtbar machen.
So wie Jesus diese Frau nicht verurteilt, so verurteilt er auch uns nicht. Das ist ein befreiendes Gefühl. Wir dürfen so sein, wie wir sind. Dann können wir auch durchaus selbstkritisch sein. Weil da einer ist, der uns akzeptiert, der uns zu einer Vitalität und Lebendigkeit befreit, die wir uns vielleicht gar nicht (oder nicht mehr) zugetraut haben. Und in diesem Geist können wir andere akzeptieren, so wie sie sind - mit Grosszügigkeit, Wärme und Respekt. Amen.
Sonntag, 21. April 2013
Predigt vom 21. April 2013
Liebe Gemeinde
Herr, wir trau'n auf deine Güte,
die uns rettet wunderbar,
singen dir mit frommen Liede,
danken freudig immerdar.
So haben wir es gerade im 3. der geistlichen Lieder von Felix Mendelssohn Bartholdy gehört. In wunderbaren Worten und Tönen erklingen hier Gottvertrauen und Dankbarkeit. Sie erklingen als Antwort auf die Rettung und Bewahrung, die der oder die Betende erfahren hat.
Nun könnten wir natürlich sagen, dass es leicht ist, von Gottvertrauen und Dankbarkeit zu singen, wenn wir spüren, dass wir geführt und bewahrt worden sind. Dann, wenn unser Leben auf Kurs ist, wieder in geordneten Bahnen verläuft und wir etwas erreicht oder ein erstrebenswertes Ziel vor Augen haben.
Selbstverständlich ist es auch dann nicht. „Glück gehabt“ wäre ja auch eine Erklärung (und bestimmt nicht die seltenste). Oder wir könnten das gute Ende unserem Einsatz, unserer Beharrlichkeit, unserem Durchhaltevermögen zuschreiben. All dies braucht es, aber allein damit ist es oft nicht getan und die Kehrseite, wenn wir alles uns selber zuschreiben, ist die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit im Scheitern.
Herr, wir trau’n auf deine Güte, die uns rettet wunderbar. Können wir an diesem Vertrauen auch festhalten, wenn wir Schweres zu tragen haben und noch mitten drin stecken in der schwierigen und belastenden Situation? Dann, wenn eine Krankheit oder eine persönliche Krise unser Leben verdunkelt und ein gutes Ende, das Licht am Ende des Tunnels noch nicht in Sicht ist - oder wenn es sogar unerreichbar erscheint? Dankbar kann jeder sein, dem es in solchen Zeiten nicht an Gottvertrauen fehlt, der/ die sich auch dann geborgen und gehalten weiss. Aber das haben wir nicht in der Hand, das können wir nicht einfach machen.
Immer ist es ein Weg, der zu gehen ist und den wir nicht abkürzen können, so gerne wir das auch tun würden. Auch in den drei geistlichen Liedern und im 13. Psalm, den diese Lieder nachdichten, führt der Weg zuerst über die Erkenntnis, auf Hilfe angewiesen zu sein, dann über das verzweifelte Flehen und die Bitte um Erhörung. Und die ist noch weitund die Betende weiss noch nicht, wann und wie sie Wirklichkeit wird.
Wir müssen nicht immer stark sein und die Dinge im Griff haben. Aber was wir brauchen, das ist Achtsamkeit - Achtsamkeit dafür, wie es uns geht, für unsere Gefühle, auch die schwierigen und unangenehmen, und für das, was unser Herz bewegt. Und vielleicht können wir Hilfe und Halt erst dann finden, wenn wir bereit sind loszulassen und anzunehmen, dass wir Hilfe brauchen, Hilfe von Gott und von den Menschen. Ja, vielleicht gehört manchmal sogar das Eingeständnis dazu, dass es mit unserem Gottvertrauen gar nicht so weit her ist. Es könnte ja sein, dass es dann darauf ankommt, die Leere wahrzunehmen und darum zu bitten, dass Gott unsere Herzen aufs Neue fülle.
Die Psalmen beschreiben oft diesen Weg aus Not und Verzweiflung über das bittende Flehen hin zum Dank für die erfahrene Rettung und Bewahrung. Sie sind Lieder und Gebete und sie haben ihre Kraft nicht nur und nicht zuerst, wenn wir sie am guten Ende singen oder beten. Ihre Kraft liegt vor allem darin, dass sie uns in dunklen Zeiten das Vertrauen zurückgeben und stärken können, dass Gott an unserer Seite ist und uns nicht verlässt. Mitten im Dunkel verleihen sie uns Sprache. Sie verbinden uns mit anderen, die den Weg durch Enttäuschung, Leere, Schmerz oder Verzweiflung hindurch zu neuer Hoffnung und gestärktem Vertrauen gegangen sind.
Auf solchen Wegen kann unser Glaube erblühen, wenn wir erschütterbar und berührbar bleiben und zugleich offen für die Gegenwart Gottes, für die Zeichen der Hoffnung, die er uns schenkt, für die Menschen, die er uns an die Seite stellt. Dann ist unser Glaube nicht ein Standpunkt, den wir einnehmen und verteidigen, sondern eine lebendige Hoffnung.
Dann können wir hineinwachsen in diese Sorglosigkeit, die Jesus uns in der Bergpredigt ans Herz legt. “Sorget euch nicht!“ Planen, sorgen und kümmern gehören zu unserem Leben. Aber sie haben nicht das letzte Wort. Sie haben ihren von Gott bestimmten Ort und ihre Grenze. Sie sind Ausdruck der Verantwortung, die wir selber für unser Leben übernehmen dürfen und sollen. Aber sie finden ihre Grenze, wo wir das Leben selbst in unsere Hände nehmen und sichern wollen. All unsere Pläne und Vorhaben, all unser Sorgen und Kümmern, stehen unter dem Vorbehalt, dass das Leben, dass Gott andere Pläne mit uns hat. Und all unsere Sorgen sind aufgehoben bei dem, der für uns sorgt. Wie es in der Bach-Kantate heisst: „Was Gott tut, das ist wohlgetan.“
Und noch einmal: Auch dieser Satz „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ ist für sich allein nicht mehr als eine fromme Behauptung. Ja, er könnte für manche gar zynisch klingen. Jedenfalls ist es mir wichtig, dass es hier nicht um blinde Schicksalsergebenheit geht, sondern um eine Glaubensgewissheit, die wir immer nur durch Fragen und durch Zweifel hindurch suchen und erbitten können.
Beides gehört zusammen, wenn unser Glaube sich nicht in Fatalismus verkehren soll. Nur wer nicht zu allem Ja und Amen sagt, darf dann auch von Herzen singen: „Was Gott tut, das ist wohlgetan.“
Dietrich Bonhoeffer ist für mich ein Mensch, bei dem beides zusammenfindet, Widerstand und Ergebung (unter diesem treffenden Titel sind seine Gefängnisbriefe veröffentlicht worden). Er kannte die Fragen und Zweifel, warum er den Weg gehen musste, den er gegangen ist. Längst nicht immer - das bezeugen seine Briefe - war er so stark, wie er den anderen erschien. Aber immer wieder neu hat er sein Geschick in Gottes Hand gelegt. Und sein Glaube war vor allem keine Schicksalsergebenheit. Sein Glaube führte ihn in den Widerstand gegen das Unrecht seiner Zeit.
Beides gehört zusammen - Widerstand und Ergebung. Nur so können wir Salz der Erde und Licht der Welt sein. Als Menschen, die ihr Leben in Gottes Hand legen und die zugleich bereit sind, ihren Mund aufzutun für die Stummen, für Gerechtigkeit einzutreten, für die, die am Rande der Gesellschaft stehen, für Flüchtlinge, für die, die an den Rand gedrängt werden, weil sie nicht leistungsfähig und effizient genug sind und denen Lebenschancen verbaut werden. Salz der Erde und Licht der Welt können wir sein, wenn wir uns Zeit nehmen für die Einsamen, die Kranken, die Gebeugten und Sorgenvollen. Bonhoeffer hat einmal gesagt, dass Kirche immer Kirche für die Anderen sein müsse. Eine Kirche, die nicht für andere da ist und den Menschen dient, dient zu nichts.
Auch der neue Papst Franziskus hat seit seiner Wahl mehrfach daran erinnert und dazu aufgefordert, dass die Kirche - und das gilt auch für uns Reformierte und Methodisten - demütig für die Menschen dasein müsse. Bei seiner Wahl hat er vor dem päpstlichen Segen darum gebeten, die Menschen möchten für ihn beten. Er hat Häftlingen die Füsse gewaschen, darunter auch Frauen und Nichtchristen.
Salz der Erde und Licht der Welt sind wir, wenn wir beharrlich, demütig und glaubwürdig eintreten für eine menschlichere Welt und dann - aber erst dann - alles in Gottes Hand legen, weil es mit unserer Macht und Kraft nicht getan ist - weder im Blick auf unser eigenes Leben noch im Blick auf die Welt in nah und fern.
Dann bleibt uns am Ende das tiefe Vertrauen: „Was Gott tut, das ist wohlgetan.“ Amen.
Herr, wir trau'n auf deine Güte,
die uns rettet wunderbar,
singen dir mit frommen Liede,
danken freudig immerdar.
So haben wir es gerade im 3. der geistlichen Lieder von Felix Mendelssohn Bartholdy gehört. In wunderbaren Worten und Tönen erklingen hier Gottvertrauen und Dankbarkeit. Sie erklingen als Antwort auf die Rettung und Bewahrung, die der oder die Betende erfahren hat.
Nun könnten wir natürlich sagen, dass es leicht ist, von Gottvertrauen und Dankbarkeit zu singen, wenn wir spüren, dass wir geführt und bewahrt worden sind. Dann, wenn unser Leben auf Kurs ist, wieder in geordneten Bahnen verläuft und wir etwas erreicht oder ein erstrebenswertes Ziel vor Augen haben.
Selbstverständlich ist es auch dann nicht. „Glück gehabt“ wäre ja auch eine Erklärung (und bestimmt nicht die seltenste). Oder wir könnten das gute Ende unserem Einsatz, unserer Beharrlichkeit, unserem Durchhaltevermögen zuschreiben. All dies braucht es, aber allein damit ist es oft nicht getan und die Kehrseite, wenn wir alles uns selber zuschreiben, ist die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit im Scheitern.
Herr, wir trau’n auf deine Güte, die uns rettet wunderbar. Können wir an diesem Vertrauen auch festhalten, wenn wir Schweres zu tragen haben und noch mitten drin stecken in der schwierigen und belastenden Situation? Dann, wenn eine Krankheit oder eine persönliche Krise unser Leben verdunkelt und ein gutes Ende, das Licht am Ende des Tunnels noch nicht in Sicht ist - oder wenn es sogar unerreichbar erscheint? Dankbar kann jeder sein, dem es in solchen Zeiten nicht an Gottvertrauen fehlt, der/ die sich auch dann geborgen und gehalten weiss. Aber das haben wir nicht in der Hand, das können wir nicht einfach machen.
Immer ist es ein Weg, der zu gehen ist und den wir nicht abkürzen können, so gerne wir das auch tun würden. Auch in den drei geistlichen Liedern und im 13. Psalm, den diese Lieder nachdichten, führt der Weg zuerst über die Erkenntnis, auf Hilfe angewiesen zu sein, dann über das verzweifelte Flehen und die Bitte um Erhörung. Und die ist noch weitund die Betende weiss noch nicht, wann und wie sie Wirklichkeit wird.
Wir müssen nicht immer stark sein und die Dinge im Griff haben. Aber was wir brauchen, das ist Achtsamkeit - Achtsamkeit dafür, wie es uns geht, für unsere Gefühle, auch die schwierigen und unangenehmen, und für das, was unser Herz bewegt. Und vielleicht können wir Hilfe und Halt erst dann finden, wenn wir bereit sind loszulassen und anzunehmen, dass wir Hilfe brauchen, Hilfe von Gott und von den Menschen. Ja, vielleicht gehört manchmal sogar das Eingeständnis dazu, dass es mit unserem Gottvertrauen gar nicht so weit her ist. Es könnte ja sein, dass es dann darauf ankommt, die Leere wahrzunehmen und darum zu bitten, dass Gott unsere Herzen aufs Neue fülle.
Die Psalmen beschreiben oft diesen Weg aus Not und Verzweiflung über das bittende Flehen hin zum Dank für die erfahrene Rettung und Bewahrung. Sie sind Lieder und Gebete und sie haben ihre Kraft nicht nur und nicht zuerst, wenn wir sie am guten Ende singen oder beten. Ihre Kraft liegt vor allem darin, dass sie uns in dunklen Zeiten das Vertrauen zurückgeben und stärken können, dass Gott an unserer Seite ist und uns nicht verlässt. Mitten im Dunkel verleihen sie uns Sprache. Sie verbinden uns mit anderen, die den Weg durch Enttäuschung, Leere, Schmerz oder Verzweiflung hindurch zu neuer Hoffnung und gestärktem Vertrauen gegangen sind.
Auf solchen Wegen kann unser Glaube erblühen, wenn wir erschütterbar und berührbar bleiben und zugleich offen für die Gegenwart Gottes, für die Zeichen der Hoffnung, die er uns schenkt, für die Menschen, die er uns an die Seite stellt. Dann ist unser Glaube nicht ein Standpunkt, den wir einnehmen und verteidigen, sondern eine lebendige Hoffnung.
Dann können wir hineinwachsen in diese Sorglosigkeit, die Jesus uns in der Bergpredigt ans Herz legt. “Sorget euch nicht!“ Planen, sorgen und kümmern gehören zu unserem Leben. Aber sie haben nicht das letzte Wort. Sie haben ihren von Gott bestimmten Ort und ihre Grenze. Sie sind Ausdruck der Verantwortung, die wir selber für unser Leben übernehmen dürfen und sollen. Aber sie finden ihre Grenze, wo wir das Leben selbst in unsere Hände nehmen und sichern wollen. All unsere Pläne und Vorhaben, all unser Sorgen und Kümmern, stehen unter dem Vorbehalt, dass das Leben, dass Gott andere Pläne mit uns hat. Und all unsere Sorgen sind aufgehoben bei dem, der für uns sorgt. Wie es in der Bach-Kantate heisst: „Was Gott tut, das ist wohlgetan.“
Und noch einmal: Auch dieser Satz „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ ist für sich allein nicht mehr als eine fromme Behauptung. Ja, er könnte für manche gar zynisch klingen. Jedenfalls ist es mir wichtig, dass es hier nicht um blinde Schicksalsergebenheit geht, sondern um eine Glaubensgewissheit, die wir immer nur durch Fragen und durch Zweifel hindurch suchen und erbitten können.
Beides gehört zusammen, wenn unser Glaube sich nicht in Fatalismus verkehren soll. Nur wer nicht zu allem Ja und Amen sagt, darf dann auch von Herzen singen: „Was Gott tut, das ist wohlgetan.“
Dietrich Bonhoeffer ist für mich ein Mensch, bei dem beides zusammenfindet, Widerstand und Ergebung (unter diesem treffenden Titel sind seine Gefängnisbriefe veröffentlicht worden). Er kannte die Fragen und Zweifel, warum er den Weg gehen musste, den er gegangen ist. Längst nicht immer - das bezeugen seine Briefe - war er so stark, wie er den anderen erschien. Aber immer wieder neu hat er sein Geschick in Gottes Hand gelegt. Und sein Glaube war vor allem keine Schicksalsergebenheit. Sein Glaube führte ihn in den Widerstand gegen das Unrecht seiner Zeit.
Beides gehört zusammen - Widerstand und Ergebung. Nur so können wir Salz der Erde und Licht der Welt sein. Als Menschen, die ihr Leben in Gottes Hand legen und die zugleich bereit sind, ihren Mund aufzutun für die Stummen, für Gerechtigkeit einzutreten, für die, die am Rande der Gesellschaft stehen, für Flüchtlinge, für die, die an den Rand gedrängt werden, weil sie nicht leistungsfähig und effizient genug sind und denen Lebenschancen verbaut werden. Salz der Erde und Licht der Welt können wir sein, wenn wir uns Zeit nehmen für die Einsamen, die Kranken, die Gebeugten und Sorgenvollen. Bonhoeffer hat einmal gesagt, dass Kirche immer Kirche für die Anderen sein müsse. Eine Kirche, die nicht für andere da ist und den Menschen dient, dient zu nichts.
Auch der neue Papst Franziskus hat seit seiner Wahl mehrfach daran erinnert und dazu aufgefordert, dass die Kirche - und das gilt auch für uns Reformierte und Methodisten - demütig für die Menschen dasein müsse. Bei seiner Wahl hat er vor dem päpstlichen Segen darum gebeten, die Menschen möchten für ihn beten. Er hat Häftlingen die Füsse gewaschen, darunter auch Frauen und Nichtchristen.
Salz der Erde und Licht der Welt sind wir, wenn wir beharrlich, demütig und glaubwürdig eintreten für eine menschlichere Welt und dann - aber erst dann - alles in Gottes Hand legen, weil es mit unserer Macht und Kraft nicht getan ist - weder im Blick auf unser eigenes Leben noch im Blick auf die Welt in nah und fern.
Dann bleibt uns am Ende das tiefe Vertrauen: „Was Gott tut, das ist wohlgetan.“ Amen.
Samstag, 12. Januar 2013
Predigt zu Johannes 1,29-34 am 1. Sonntag nach Epiphanias 13. Januar 2013
Liebe Gemeinde,
gerade erst haben wir Weihnachten gefeiert. Der Tannenbaum ist bei den meisten abgeräumt, aber die Krippe in unserer Kirche steht noch. Und doch weist uns unser heutiger Predigttext schon voraus auf die bevorstehende Passionszeit und den Karfreitag. „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt.“ sagt Johannes der Täufer von Jesus. Die Epiphaniaszeit gehört im Kirchenjahr zum Weihnachtsfestkreis und ist doch schon so etwas wie die Brücke zwischen Weihnachten und der Passionszeit.
Das Joh beginnt nicht mit einer erzählten Weihnachtsgeschichte, sondern mit den berühmten Abschnitt über das Wort, das im Anfang bei Gott und das von Gottes Wesen war und Fleisch geworden ist - mitten unter uns. Und dann kommt das Zeugnis des Täufers, der von sich selber wegweist und auf Jesus hinweist. In diesem Hinweisen auf den, der nach ihm kommt und doch schon vor ihm da war, sieht das Johannesevangelium den ganzen Auftrag des Täufers. Auf die Frage, wer er sei, wehrt Johannes der Täufer im Abschnitt vor dem Predigttext alle Zuschreibungen ab - nicht mehr als die Stimme eines Rufers in der Wüste sei er, der den Weg des Herrn bereiten soll. Gerade darin, dass er von sich selber absieht, erfüllt er seinen göttlichen Auftrag, ist er von Gottes Geist erfüllt. Das Johannesevangelium verzichtet auf alle Beschreibungen des Täufers, erzählt nicht wie die anderen Evangelien von seiner wilden Gestalt, seinem Mantel aus Kamelhaaren, seiner Nahrung aus Heuschrecken und wildem Honig. Es berichtet nicht einmal von seiner Umkehrpredigt und kein Wort hören wir davon, dass er Jesus getauft hat. Und im folgenden Abschnitt sind es zwei Täuferjünger, die zu den ersten Jüngern Jesu werden.
Schon im berühmten Prolog des Joh heisst es vom Täufer: „Es trat ein Mensch auf, von Gott gesandt, sein Name war Johannes. Dieser kam zum Zeugnis, um Zeugnis abzulegen von dem Licht, damit alle durch ihn zum Glauben kämen. Nicht er war das Licht, sondern Zeugnis sollte er ablegen von dem Licht.“ Mit seiner gesamten Existenz wird er zum Zeugen und stellt sich ganz in den Dienst des anderen, des Grösseren. Wenn das Joh so betont festhält, dass er nicht selbst das Licht war, können wir erahnen, wie bedeutsam die Täuferbewegung damals gewesen ist.
Darin liegt die Kraft der Botschaft des Joh, dass in ihm Jesus ganz im Zentrum steht. Natürlich steht er auch in den anderen Evangelien im Zentrum, aber nur das Joh beginnt mit einem Prolog über das fleischgewordene Wort Gottes, betont die Unabhängigkeit Jesu vom Täufer und gliedert sein Evangelium geradezu durch die Ich-bin-Worte. Die Gefahr des Joh möchte ich aber auch nicht verschweigen. In ihm erscheint die Geschichte Jesu manchmal wie „nicht ganz von dieser Welt“, sein Menschsein eher wie ein Gewand. Dieses Evangelium denkt stark in Gegensätzen von Licht und Finsternis und der exklusive Anspruch der Ich-bin-Worte verführt dazu, zu sehr in den Kategorien „Wahr und Falsch“ zu denken und andere Glaubensweisen und andere Religionen nicht wahr- und ernstzunehmen, sondern sie als Irrwege abzutun. Diese Gefahr müssen wir in unserer zunehmend interreligiösen Welt beachten.
Wenn ich überlege, worin für mich die tiefe Überzeugungskraft des christlichen Glaubens besteht, dann könnte ich vieles benennen: die ethischen Werte und Überzeugungen, die in der Bibel wurzeln, die Entdeckung, dass Gott mit den Menschen mitgeht, an ihrem Leben Anteil nimmt, die Botschaft von der Versöhnung, die Sicht der Welt als einer guten Schöpfung und viele andere Dinge. Aber zu den ganz wichtigen Dingen gehören für mich zweifellos die Anfänge der Evangelien. Und so sehr ich vorhin die Besonderheit des Joh betont habe, so sehr zeigt sich hier auch etwas Verbindendes, Gemeinsames: Dass Gott in menschlicher Gestalt sich uns an die Seite stellt und unser Geschick teilt, dass diese Geschichte beginnt bei Lukas mit der Geburt eines schutzbedürftigen und verletzlichen Kindes in der Armut eines Stalles und bei Johannes mit diesem Hinweis auf das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt. Ein verletzliches Kind, ein Lamm, das sich hingibt und auf sein Leben verzichtet, damit die Vielen Leben finden und das vorausweist auf den Mann am Kreuz, der den Menschen in die Hände gefallen ist und an dem Gott seine Lebensmacht erweist. Das stellt unsere Grössenphantasien, unsere eingebildeten Gottesvorstellungen vom Kopf auf die Füsse. Hier auf dem Boden, wo Menschen ihr Leben zu bewältigen haben, da ist Gott zu finden. Er ist an der Seite derer, die Opfer zu bringen haben und mit ihrer Unvollkommenheit leben müssen. Er ist uns nahe, wenn wir schuldig werden und Vergebung brauchen, wenn wir streiten und der Versöhnung bedürfen. Wo Menschen weh getan wird und sie zu Opfern gemacht werden, wo Menschen leiden und um Erlösung flehen, da ist Gott zu finden oder er ist nur ein eingebildeter Götze, eine Projektion unserer Allmachtsphantasien. Das Kleine, das Verletzliche ist der Ort, wo Gott uns begegnet. Unsere alltäglichen Sorgen, unsere kleinen Freuden, unsere Bedürftigkeit nach Liebe, nach Vergebung, nach Versöhnung, nach dem Gefühl wertvoll zu sein und gebraucht zu werden, in alledem will Gott bei uns sein, will er sich uns zeigen.
Und dann kommt in unserem Predigttext noch etwas ganz Wichtiges hinzu, nämlich das Vorbild Johannes des Täufers, der von sich selber weg weist und hinweist auf Jesus. Ich denke, dass es im Glauben ganz entscheidend auf diese Fähigkeit ankommt, dass wir von uns selber absehen können und hinsehen auf Jesus, den Anfänger und Vollender unseres Glaubens. Es kommt nicht alles auf uns selber an und es liegt nicht alles in unserer Hand – im Guten wie im Bösen. Diese Einsicht und Erkenntnis kann uns grosszügiger machen mit uns selber und mit anderen, sie kann uns bescheidener werden lassen und vor allem auch lernfähiger und offener. Wer von sich wegsehen kann, der wird auch neue Wege und Möglichkeiten entdecken, der bleibt nicht gefangen in seinen eigenen Vorstellungen und Gedanken. Wenn wir uns von Johannes dem Täufer zum Hinsehen auf Jesus einladen lassen, dann kann uns das davor bewahren, uns zu wichtig zu nehmen und zugleich kann es uns davor bewahren uns als unwichtig anzusehen. Denn wer auf diesen Jesus schaut, der wird angesehen und erfährt, dass er in seinen Augen wichtig und wertvoll ist. Und der Wert und die Wichtigkeit, die jedes einzelne von uns in Jesu Augen besitzt, die haben eine ganz andere befreiende Kraft, als der Wert und die Wichtigkeit, die wir anderen und uns selbst immer erst aus eigener Kraft beweisen müssen. Hinsehen auf Jesus entlastet und befreit. Johannes der Täufer bezeugt: auf diesem Jesus ruht Gottes Geist. Und er kann uns diesen Geist schenken.
Was aber bedeutet und bewirkt dieses Hinsehen auf Jesus in unserem ganz alltäglichen Leben? Martin Niemöller, einer der führenden Pfarrer der Bekennenden Kirche, die im Widerstand gegen Hitler tätig war, hat einmal einen Aufsatz überschrieben mit der Frage: „Was würde Jesus heute dazu sagen?“ Diese Frage war für ihn so etwas wie ein Leitmotiv, ein Schlüssel zu verantwortlichem christlichem Handeln. Manchem mag diese Frage allzu fromm in den Ohren klingen, andere werden sie vielleicht für viel zu naiv halten. Aber damit machen wir es uns zu einfach. Denn es geht ja nicht darum, dass es auf alles eine einfache Antwort geben würde oder dass wir mit wörtlichen Bibel- oder Jesuszitaten die Fragen unserer Zeit beantworten könnten. So einfach geht es in der Tat nicht. Was Niemöller meinte und worauf es mir ankommt ist dies, dass wir uns in unseren Haltungen und Handlungen vom Geist Jesu leiten lassen sollten. Das nimmt uns nicht ab, eine eigene Position, eine eigene Haltung zu entwickeln, für die wir dann in eigener Verantwortung auch einzutreten haben und es enthebt uns auch nicht der Vielfalt von möglichen christlichen Haltungen, die manchmal gar nicht leicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Unsere Antworten bleiben menschliche Antworten. Aber ich denke doch, dass diese Frage - Was würde Jesus heute dazu sagen? - uns eine wertvolle Orientierungshilfe sein kann.
Was würde Jesus sagen zu den Prioritäten, die wir setzen? Woran hätte er wohl Freude und was würde ihn traurig machen? Für wen würde er sich einsetzen und wem würde er widersprechen? Was würde Jesus dazu sagen, wenn er unsere kirchlichen Aktivitäten und Strukturen, unsere Budgets und Verlautbarungen kommentieren müsste? Wie würde er wohl die grossen politischen Fragen unserer Zeit betrachten? Um nur ein Beispiel zu nennen: Zusammen mit den Gewerkschaften haben sich Kirchenvertreter, u.a. der Einsiedler Abt Martin Werlen, in der vergangenen Woche gegen die Liberalisierung der Öffnungszeiten von Tankstellenshops ausgesprochen, weil sie einen generellen Dammbruch bei den Ladenöffnungszeiten befürchten und für den Schutz des Sonntags und der betroffenen Angestellten eintreten. Man kann in dieser Frage sicher auch anderer Meinung sein, aber es macht mich betroffen, wie viel Häme und Spott diesem Anliegen teilweise entgegenschlug und wie den Kirchen das Recht zur Einmischung in dieser Frage schlichtweg abgesprochen wurde. Es gibt in dieser und vielen anderen Fragen nicht die einzig richtige Antwort. Aber ich denke, dass die Frage, was Jesus wohl dazu sagen würde, in manchen Dingen den Blick verändern und zu weiseren Entscheidungen führen könnte.
Man kann diese Frage auch als Richtschwert benutzen, um zu demonstrieren, wie schlecht doch die anderen, die Politiker, die Wirtschaftsführer, die Kirchenoberen, die Pfarrer, usw. handeln. Das wäre dann genau das Gegenteil dessen, was ich mit dieser Frage im Geiste Jesu meine. Es geht nicht um ein Verurteilen, für das wir Jesus einspannen könnten, sondern darum, dass wir den Geist Jesu einfliessen lassen in unsere Urteile und unser Handeln. Es gibt wohl manche Bereiche, in denen diese Frage uns unsicher machen kann, ob wir wirklich auf dem richtigen Weg sind. Dann lohnt es sich, diese Unsicherheit nicht schnell beiseite zu schieben, sondern innezuhalten und noch einmal neu nachzudenken, ob es nicht andere Wege gibt, die dem Geist Jesu besser entsprechen.
Aber die Frage „Was würde Jesus heute dazu sagen?“ kann uns nicht nur bei ethischen Entscheidungen helfen. Sie kann uns auch neue Kraft geben, wenn wir in einer schwierigen Situation sind, wenn äussere oder innere Not, Krankheit oder Tod uns aus der Bahn werfen, wenn das Dunkel der Depression, das Gefühl der Ohnmacht und Verzweiflung sich unserer Seele bemächtigen, wenn Schuld auf uns lastet oder wenn wir uns verletzt und erniedrigt fühlen. Dann, so glaube ich, kann es uns schon viel helfen, wenn wir uns nicht völlig gefangen nehmen lassen von der Situation, die uns bedrückt, sondern dieses „Seht“ unseres Predigttextes wahrnehmen und einen Moment von uns absehen können. Und nichts anders bedeutet es ja, die Frage zu stellen, was Jesus dazu sagen würde. Wenn unser eigenes Fragen und Grübeln uns nur immer tiefer hinabzieht, dann kann es not-wendig, not-wendend sein, den Blick auf den zu richten, von dem der Täufer sagt: „Seht, das Lamm Gottes.“ Dann kann der Blick auf diesen verletzlichen Menschen, auf dem der Geist Gottes ruht, helfen - sei es als fragender oder hilfesuchender Blick oder sogar nur als stummer Vorwurf: Warum?
Er würde wohl sagen: Ich bin bei dir. Ich kenne, was dich belastet. Ich helfe dir, deine Last zu tragen. Er würde uns wohl ermutigen, auf die kleinen Zeichen der Hoffnung zu achten, die sich uns zeigen, würde uns helfen zu Geduld und uns aufmerksam machen auf die Menschen, die für uns da sind. Er würde uns darauf aufmerksam machen, dass Schuld vergeben werden kann und Verletzungen wieder heilen. Die Kraft, die wir brauchen, finden wir nicht immer in uns selbst. Da ist es gut, dass wir einen Gott haben, der nicht hoch oben im Himmel thront und Gesetze erlässt, über deren Befolgung er wacht, sondern einen Gott, der an unserer Seite ist, der uns tragen hilft, der vergibt und aufrichtet. Wir sind frei, unsere eigenen Wege zu gehen, aber ich bin überzeugt, dass es gut für uns ist, wenn wir auf Johannes den Täufer hören, der uns sagt: „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt.“ Es gibt uns Orientierung für unser Leben, wenn wir immer wieder fragen, was Jesus wohl dazu sagen würde. Und es befreit und macht Mut, wenn wir vertrauen können, dass da einer ist der uns niemals alleine lässt. Amen.
Dienstag, 1. Januar 2013
Predigt zur Jahreslosung Hebr 13,14 im Neujahrsgottesdienst vom 1. Januar 2013
Liebe Gemeinde
„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Dieser kurze Vers aus dem Hebräerbrief ist die Jahreslosung für das Jahr 2013. Sie will uns an der Schwelle dieses neuen Jahres und durch das Jahr hindurch begleiten. In diesen Worten kommt eine christliche Lebenshaltung zum Ausdruck, die nicht bereit ist, in dem was ist, schon das Ganze zu sehen, weder stolz und selbstgerecht im Sinne eines: „Jetzt habe ich es geschafft, jetzt bin ich am Ziel“ noch resigniert in der Überzeugung, dass eh alles so bleiben wird und sich nichts mehr ändert.
Die Jahreslosung beginnt mit einer Negation: „Wir haben hier keine bleibende Stadt.“ Unser Glaube ist verbunden mit einer existentiellen Heimatlosigkeit in dieser Welt. Etwas zugespitzt gesagt: Die Klage über den Verlust von Heimat, über die verlorenen früheren Zeiten, das Jammern, dass früher alles - oder doch vieles - besser war, ist unserem christlichen Glauben zutiefst fremd. Und ich spitze diese Feststellung gerne noch einmal zu - auch wenn ich sie später relativieren muss: Unser christlicher Glaube ist im Verständnis des Hebräerbriefs in seinem Wesen zukunftsorientiert, progressiv und weit weg von einem konservativen Bewahren des Vergangenen oder des Bestehenden. Christlicher Glaube bejaht und begrüsst den Wandel und klammert sich nicht an das Bestehende.
Aber - so werden sie denken - es ist doch nicht jeder Wandel gut und als christliche Kirchen geht es uns doch um die Wahrung und Weitergabe der christlichen Tradition. Und haben nicht doch früher mehr Menschen die Gottesdienste besucht und nach dem Glauben gefragt? Ich gebe ihnen gerne recht. Es gibt keinen vernünftigen Grund, Wandel um des Wandels willen zu begrüssen und um jeden Preis Veränderung anzustreben. Wir wissen heute nur zu gut, besonders aus der Wirtschaft, wozu es führen kann, wenn ständiger Wandel propagiert wird und eine Strukturreform die andere jagt. Menschen wollen zu Recht begreifen, wozu der Wandel dient und sie wollen mitgenommen werden und mitgestalten können und nicht einfach dem scheinbar Alternativlosen ausgeliefert sein. Aber dort wo wir mitgenommen werden und mitgestalten können, braucht es auch unsere Offenheit und Bereitschaft, die Chancen des Wandels zu erkennen und uns nicht ans Alte zu klammern.
Und auch in unseren Kirchen müssen wir uns fragen, ob tatsächlich die Verlusterfahrungen darin ihren Grund haben, dass wir nicht entschieden genug am Vergangenen festgehalten haben - oder ob wir eher zu lange die alten Antworten gegeben haben, die zu den neuen Sorgen und Fragen der Menschen nicht mehr passen, die zu wenig ernst nehmen, dass Menschen heute ihre eigenen Antworten suchen wollen und nicht mehr einfach die tradtionellen übernehmen.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt.“ Unser Glaube ist verbunden mit einer existentiellen Heimatlosigkeit in dieser Welt. Das ist die Negation. Aber diese existentielle Heimatlosigkeit ist verbunden mit einer existentiellen Gewissheit. Ich möchte sie beschreiben mit den wunderbaren Worten aus dem Römerbrief: „Denn ich bin mir gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes noch irgendein anderes Geschöpf vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Röm 8,38f). Diese existentielle Gewissheit trägt uns im Wandel unserer Zeiten. Sie gibt uns die Kraft, Vergangenes loszulassen, uns einzulassen auf das Neue und es mitzugestalten, im Wissen darum, dass auch das Neue immer nur vorläufige Antwort und Durchgangsstation sein kann.
Wie sieht das zuende gegangene Jahr aus, wenn wir es in diesem Licht betrachten? Wie sieht es aus, wenn wir unser persönliches Leben und unser Umfeld in den Blick nehmen und wie, wenn wir auf die schweizerischen und weltweiten Entwicklungen und Geschehnisse schauen? Licht und Schatten, Glücksmomente und Enttäuschungen, positive Nachrichten und Schreckensmeldungen werden uns in den Sinn kommen - und vielleicht werden wir in manchem bei denselben Ereignissen zu verschiedenen Deutungen kommen. Und doch gibt es vermutlich bei jedem von uns so etwas wie ein Grundgefühl - es war ein gutes Jahr oder es war ein schwieriges Jahr. Wir sollten dieses Grundgefühl ernstnehmen und es nicht allzu schnell relativieren.
Wenn es ein gutes Jahr war, dann haben wir allen Grund, uns daran zu freuen und dafür dankbar zu sein. Auch ein gutes Jahr können wir nicht einfach festhalten. Wir müssen es zurücklassen und Abschied nehmen. Aber wenn wir es dankbar wahrnehmen und annehmen, kann es uns zu einer Kraftquelle werden, die uns auch in schwierigeren Zeiten trägt. Die Fähigkeit zur Dankbarkeit ist einer der kostbarsten Schätze und eine der grössten Kraftquellen in unserem Leben.
Doch auch wenn es ein schwieriges Jahr war, können und sollen wir zu diesem Grundgefühl stehen. Es ist nicht notwendig, dass wir den schwierigen Erfahrungen gleich wieder die guten entgegensetzen, die es doch zweifellos auch gegeben hat oder die anderen Schicksale, die noch schwerer sind. Denn dann würden wir unsere innere Unruhe und unsere Sehnsucht nach Veränderung nicht ernst nehmen und verkennen, wieviel Zeit es braucht, um schwierige Erfahrungen und Verletzungen, Enttäuschungen und eigene Fehler zu heilen, zu verändern und Neues daraus hervorwachsen zu lassen oder auch sie ruhen zu lassen und anzunehmen. Nur eines sollten wir niemals sagen: dass es ein Jahr zum Vergessen war. Denn es war und bleibt ein Jahr unseres Lebens, ein Teil dessen, was wir sind und oft sind es gerade die schwierigen und schmerzlichen Jahre, aus denen etwas Neues und Kostbares hervorwachsen kann, so wie Perlen nur dort entstehen wo es auch Verletzungen gibt. Wir können und wir müssen das nicht jetzt schon sehen oder einander davon überzeugen. Aber wir dürfen hoffen, dass wir das in der zukünftigen Stadt erkennen dürfen, dass Schmerz sich in Segen verwandelt und Schwieriges der Beginn neuen Lebens sein kann.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Die Worte der Jahreslosung weisen uns auf ein Ziel hin, das jenseits dieser Welt und dieses Lebens liegt. Aber sie sind keine Vertröstung auf das Jenseits. Und die zukünftige Stadt ist auch keine Glaubenswahrheit, auf die wir einfach zurückgreifen, keine Position, die wir einnehmen könnten. Suchen ist in unserer Jahreslosung das entscheidende Wort.
Als Suchende sind wir unterwegs - nicht als die, die schon gefunden haben. Aber als Suchende sind wir getragen von einer Verheissung, von dem Versprechen Gottes, dass bei ihm nichts und niemand verloren ist und in der zukünftigen Stadt alles Leid und alle Tränen abgewischt sein werden und sogar der Tod nicht mehr sein wird. Wir haben das Versprechen, dass all die Bruchstücke unseres Lebens, die für uns vielleicht noch keinen Sinn ergeben, von Gott heil und ganz gemacht werden. Wir sind getragen von dem Suchen und den Antwortversuchen derer, die vor uns gesucht, geglaubt und gehofft haben. Ihnen schulden wir Dank, denn wenn wir nicht mehr wissen, woher wir kommen und was andere vor uns bewegt hat, werden wir in unserem Suchen orientierungslos. Und unser Suchen leitet sich ab aus unsern eigenen Erfahrungen und aus der Achtsamkeit für die Erfahrungen der Menschen um uns.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Der Hebräerbrief weist uns auch die Richtung für unser Suchen. Draussen vor dem Tor sollen wir die zukünftige Stadt suchen, jenseits des Gewohnten und Vertrauten, bei denen die Zuwendung nötig haben, bei denen, die unsere Zeit und unsere Hilfe brauchen, bei denen, die am Rande stehen, dort wo Jesus sein Kreuz getragen hat und wo Menschen heute ihr Kreuz tragen
In einem Zeitungsartikel hat in diesen Tagen eine Journalistin über „die falsche Rückkehr zur Religion“ geschrieben. Vieles daran hat mich zum Widerspruch gereizt. Aber einem Satz kann ich nur zustimmen: „Was derzeit fehlt, ist ein Plädoyer für den Zweifler und den Suchenden. Der Zweifler, der Suchende bleibt menschlich.“ Nur dass ich bezweifle, dass der Agnostiker der einzige Zweifler und Suchende ist, wie die Autorin suggeriert. Als Zweifelnde und Suchende sind wir als Christinnen und Christen unterwegs, die sich an der Botschaft Jesu und an der Botschaft unserer Jahreslosung orientieren. Wir zweifeln an allen irdischen Heilsversprechen, aber auch an vermeintlich ewigen Glaubenswahrheiten. Wir suchen Antwort auf unsere Fragen und nach Sinn. Und wir werden in unserem Suchen getragen von der Zusage, dass unser Suchen ein Ziel hat und von einer existentiellen Gewissheit.
Suchende sind wir. „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Aber als Suchende trägt uns die existentielle Gewissheit: „Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes noch irgendein anderes Geschöpf vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ Daraus dürfen wir Kraft und Zuversicht schöpfen - auch in diesem neuen Jahr. Amen.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Dieser kurze Vers aus dem Hebräerbrief ist die Jahreslosung für das Jahr 2013. Sie will uns an der Schwelle dieses neuen Jahres und durch das Jahr hindurch begleiten. In diesen Worten kommt eine christliche Lebenshaltung zum Ausdruck, die nicht bereit ist, in dem was ist, schon das Ganze zu sehen, weder stolz und selbstgerecht im Sinne eines: „Jetzt habe ich es geschafft, jetzt bin ich am Ziel“ noch resigniert in der Überzeugung, dass eh alles so bleiben wird und sich nichts mehr ändert.
Die Jahreslosung beginnt mit einer Negation: „Wir haben hier keine bleibende Stadt.“ Unser Glaube ist verbunden mit einer existentiellen Heimatlosigkeit in dieser Welt. Etwas zugespitzt gesagt: Die Klage über den Verlust von Heimat, über die verlorenen früheren Zeiten, das Jammern, dass früher alles - oder doch vieles - besser war, ist unserem christlichen Glauben zutiefst fremd. Und ich spitze diese Feststellung gerne noch einmal zu - auch wenn ich sie später relativieren muss: Unser christlicher Glaube ist im Verständnis des Hebräerbriefs in seinem Wesen zukunftsorientiert, progressiv und weit weg von einem konservativen Bewahren des Vergangenen oder des Bestehenden. Christlicher Glaube bejaht und begrüsst den Wandel und klammert sich nicht an das Bestehende.
Aber - so werden sie denken - es ist doch nicht jeder Wandel gut und als christliche Kirchen geht es uns doch um die Wahrung und Weitergabe der christlichen Tradition. Und haben nicht doch früher mehr Menschen die Gottesdienste besucht und nach dem Glauben gefragt? Ich gebe ihnen gerne recht. Es gibt keinen vernünftigen Grund, Wandel um des Wandels willen zu begrüssen und um jeden Preis Veränderung anzustreben. Wir wissen heute nur zu gut, besonders aus der Wirtschaft, wozu es führen kann, wenn ständiger Wandel propagiert wird und eine Strukturreform die andere jagt. Menschen wollen zu Recht begreifen, wozu der Wandel dient und sie wollen mitgenommen werden und mitgestalten können und nicht einfach dem scheinbar Alternativlosen ausgeliefert sein. Aber dort wo wir mitgenommen werden und mitgestalten können, braucht es auch unsere Offenheit und Bereitschaft, die Chancen des Wandels zu erkennen und uns nicht ans Alte zu klammern.
Und auch in unseren Kirchen müssen wir uns fragen, ob tatsächlich die Verlusterfahrungen darin ihren Grund haben, dass wir nicht entschieden genug am Vergangenen festgehalten haben - oder ob wir eher zu lange die alten Antworten gegeben haben, die zu den neuen Sorgen und Fragen der Menschen nicht mehr passen, die zu wenig ernst nehmen, dass Menschen heute ihre eigenen Antworten suchen wollen und nicht mehr einfach die tradtionellen übernehmen.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt.“ Unser Glaube ist verbunden mit einer existentiellen Heimatlosigkeit in dieser Welt. Das ist die Negation. Aber diese existentielle Heimatlosigkeit ist verbunden mit einer existentiellen Gewissheit. Ich möchte sie beschreiben mit den wunderbaren Worten aus dem Römerbrief: „Denn ich bin mir gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes noch irgendein anderes Geschöpf vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Röm 8,38f). Diese existentielle Gewissheit trägt uns im Wandel unserer Zeiten. Sie gibt uns die Kraft, Vergangenes loszulassen, uns einzulassen auf das Neue und es mitzugestalten, im Wissen darum, dass auch das Neue immer nur vorläufige Antwort und Durchgangsstation sein kann.
Wie sieht das zuende gegangene Jahr aus, wenn wir es in diesem Licht betrachten? Wie sieht es aus, wenn wir unser persönliches Leben und unser Umfeld in den Blick nehmen und wie, wenn wir auf die schweizerischen und weltweiten Entwicklungen und Geschehnisse schauen? Licht und Schatten, Glücksmomente und Enttäuschungen, positive Nachrichten und Schreckensmeldungen werden uns in den Sinn kommen - und vielleicht werden wir in manchem bei denselben Ereignissen zu verschiedenen Deutungen kommen. Und doch gibt es vermutlich bei jedem von uns so etwas wie ein Grundgefühl - es war ein gutes Jahr oder es war ein schwieriges Jahr. Wir sollten dieses Grundgefühl ernstnehmen und es nicht allzu schnell relativieren.
Wenn es ein gutes Jahr war, dann haben wir allen Grund, uns daran zu freuen und dafür dankbar zu sein. Auch ein gutes Jahr können wir nicht einfach festhalten. Wir müssen es zurücklassen und Abschied nehmen. Aber wenn wir es dankbar wahrnehmen und annehmen, kann es uns zu einer Kraftquelle werden, die uns auch in schwierigeren Zeiten trägt. Die Fähigkeit zur Dankbarkeit ist einer der kostbarsten Schätze und eine der grössten Kraftquellen in unserem Leben.
Doch auch wenn es ein schwieriges Jahr war, können und sollen wir zu diesem Grundgefühl stehen. Es ist nicht notwendig, dass wir den schwierigen Erfahrungen gleich wieder die guten entgegensetzen, die es doch zweifellos auch gegeben hat oder die anderen Schicksale, die noch schwerer sind. Denn dann würden wir unsere innere Unruhe und unsere Sehnsucht nach Veränderung nicht ernst nehmen und verkennen, wieviel Zeit es braucht, um schwierige Erfahrungen und Verletzungen, Enttäuschungen und eigene Fehler zu heilen, zu verändern und Neues daraus hervorwachsen zu lassen oder auch sie ruhen zu lassen und anzunehmen. Nur eines sollten wir niemals sagen: dass es ein Jahr zum Vergessen war. Denn es war und bleibt ein Jahr unseres Lebens, ein Teil dessen, was wir sind und oft sind es gerade die schwierigen und schmerzlichen Jahre, aus denen etwas Neues und Kostbares hervorwachsen kann, so wie Perlen nur dort entstehen wo es auch Verletzungen gibt. Wir können und wir müssen das nicht jetzt schon sehen oder einander davon überzeugen. Aber wir dürfen hoffen, dass wir das in der zukünftigen Stadt erkennen dürfen, dass Schmerz sich in Segen verwandelt und Schwieriges der Beginn neuen Lebens sein kann.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Die Worte der Jahreslosung weisen uns auf ein Ziel hin, das jenseits dieser Welt und dieses Lebens liegt. Aber sie sind keine Vertröstung auf das Jenseits. Und die zukünftige Stadt ist auch keine Glaubenswahrheit, auf die wir einfach zurückgreifen, keine Position, die wir einnehmen könnten. Suchen ist in unserer Jahreslosung das entscheidende Wort.
Als Suchende sind wir unterwegs - nicht als die, die schon gefunden haben. Aber als Suchende sind wir getragen von einer Verheissung, von dem Versprechen Gottes, dass bei ihm nichts und niemand verloren ist und in der zukünftigen Stadt alles Leid und alle Tränen abgewischt sein werden und sogar der Tod nicht mehr sein wird. Wir haben das Versprechen, dass all die Bruchstücke unseres Lebens, die für uns vielleicht noch keinen Sinn ergeben, von Gott heil und ganz gemacht werden. Wir sind getragen von dem Suchen und den Antwortversuchen derer, die vor uns gesucht, geglaubt und gehofft haben. Ihnen schulden wir Dank, denn wenn wir nicht mehr wissen, woher wir kommen und was andere vor uns bewegt hat, werden wir in unserem Suchen orientierungslos. Und unser Suchen leitet sich ab aus unsern eigenen Erfahrungen und aus der Achtsamkeit für die Erfahrungen der Menschen um uns.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Der Hebräerbrief weist uns auch die Richtung für unser Suchen. Draussen vor dem Tor sollen wir die zukünftige Stadt suchen, jenseits des Gewohnten und Vertrauten, bei denen die Zuwendung nötig haben, bei denen, die unsere Zeit und unsere Hilfe brauchen, bei denen, die am Rande stehen, dort wo Jesus sein Kreuz getragen hat und wo Menschen heute ihr Kreuz tragen
In einem Zeitungsartikel hat in diesen Tagen eine Journalistin über „die falsche Rückkehr zur Religion“ geschrieben. Vieles daran hat mich zum Widerspruch gereizt. Aber einem Satz kann ich nur zustimmen: „Was derzeit fehlt, ist ein Plädoyer für den Zweifler und den Suchenden. Der Zweifler, der Suchende bleibt menschlich.“ Nur dass ich bezweifle, dass der Agnostiker der einzige Zweifler und Suchende ist, wie die Autorin suggeriert. Als Zweifelnde und Suchende sind wir als Christinnen und Christen unterwegs, die sich an der Botschaft Jesu und an der Botschaft unserer Jahreslosung orientieren. Wir zweifeln an allen irdischen Heilsversprechen, aber auch an vermeintlich ewigen Glaubenswahrheiten. Wir suchen Antwort auf unsere Fragen und nach Sinn. Und wir werden in unserem Suchen getragen von der Zusage, dass unser Suchen ein Ziel hat und von einer existentiellen Gewissheit.
Suchende sind wir. „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Aber als Suchende trägt uns die existentielle Gewissheit: „Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes noch irgendein anderes Geschöpf vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ Daraus dürfen wir Kraft und Zuversicht schöpfen - auch in diesem neuen Jahr. Amen.
Montag, 24. Dezember 2012
Predigt zur Christnachtfeier am 24. Dezember 2012
Liebe Gemeinde,
„Weihnachten ist das Fest der Liebe und des Friedens“, meinte einmal eine Konfirmandin beim Anblick von Kerze, Tannenzweig, Nüssli und Weihnachtsgüetzi im Unterrichtszimmer. Sie sagte es in einem speziellen Ton, der mich veranlasste, nachzufragen, ob sie das nun ernst oder ironisch meine. Es war – da hatte ich mich nicht verhört – ironisch gemeint. Vielleicht braucht es diese Spur von Ironie, wenn Jugendliche erst einmal dem kindlichen Zauber des Weihnachtsfestes entwachsen sind. Wenn sie auf der Suche nach sich selbst sind, vermutlich voller Fragen und in manchem auch desillusioniert, dann braucht es diese Distanzierung. Denn sie haben längst erfahren, dass eben nicht alles heil ist und Frieden ein langer und schwieriger Prozess und nicht nur eine Stimmung über die Festtage. Und auch wir Erwachsene schützen uns ja manches Mal mit solch ironischer Distanz vor überhöhten Erwartungen an das Fest oder tun uns schwer mit den Enttäuschungen, zu denen unsere überhöhten Erwartungen führen.
Trotzdem feiern wir alle Jahre wieder Weihnachten, schmücken unsere Häuser, machen einander Geschenke, hören oder singen weihnachtliche Lieder und mehr Menschen als sonst kommen zu Gottesdiensten. Bei aller ironischen Distanz sehnen wir uns danach, dass eben Weihnachten doch das Fest der Liebe und des Friedens sein möge und wir ahnen vielleicht zutiefst, dass die Botschaft von Weihnachten die Kraft hat, Liebe und Frieden in Menschenherzen zu wecken. Nur, dass sich das nicht einfach machen lässt – weder durch die aufwendigste Dekoration noch durch die kostbarsten Geschenke, weder durch grösste Anstrengungen noch durch das reinste Glaubensbekenntnis.
Im Zentrum des Weihnachtsfestes steht das göttliche Kind in der Krippe, geboren in einem Stall, arm, verletzlich und der Zuwendung bedürftig. In ihm ist Gott gegenwärtig. Dieses Kind soll der Welt Heil und Frieden bringen. Die Geburt dieses göttlichen Kindes bringt die Engel zum Singen. Die Geburt dieses Kindes bringt die Hirten in Bewegung. Göttliches und Menschliches, Himmel und Erde berühren sich im Stall von Bethlehem.
Das ist nun nicht einfach die Feststellung historischer Begebenheiten, die man Fürwahrhalten oder bezweifeln könnte. Da geht es um eine tiefere Wahrheit, die wir bei den christlichen Mystikern auf wunderbare Weise ausgedrückt finden. Sie reden von der Gottesgeburt in der menschlichen Seele. In der Geburt Jesu feiern wir die Gottesgeburt in unseren Herzen. Wenn Gott nicht in uns geboren wird, so bleibt das Geschehen von Bethlehem uns fern, dann bleiben wir uns auch selber fremd. Der christliche Mystiker Angelus Silesius hat es so ausgedrückt: „Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du bleibst doch ewiglich verloren.“ Und für Meister Eckhart vollzieht sich die Gottesgeburt so: „Im innersten Wesen der Seele, im Fünklein der Vernunft, geschieht die Gottesgeburt. In dem Reinsten, Edelsten und Zartesten muss es sein: in jenem tiefen Schweigen, dahin nie gelangte eine Kreatur noch irgendein Bild.“
Diese Mystiker lehren uns: Die Gottesgeburt in unseren Herzen, auf die es wirklich ankommt, die können wir nicht bewirken oder machen. Wir können sie höchstens zulassen, geduldig erwarten und mit Gottes Hilfe wahrnehmen, sie einlassen in unser alltägliches Leben.
Sich in Geduld üben und loslassen können, das sind die Tugenden, die hier gefragt sind. Nur so können Liebe und Frieden gedeihen. Wenn sie nicht in unseren Herzen Wurzel schlagen können, dann werden wir sie auch ausserhalb von uns und unter uns nicht finden. Und das zweite ist: wir sollen lernen, mit anderen Augen zu sehen. Nur mit den Augen des Herzens konnten die Hirten die Engel wahrnehmen und im Kind in der Krippe in diesem ärmlichen Stall das göttliche Kind erkennen. So brauchen auch wir die Augen des Herzens, um das Neue zu erkennen, das mit diesem Kind in uns geboren werden will.
Wir können nicht den Frieden in der ganzen Welt schaffen, aber wir können den Frieden in uns selber suchen. Wir können nicht einmal den Nächsten zum Frieden zwingen, aber wir können ihm die Hand zum Frieden reichen. Wir können Liebe nicht fordern, aber wir können Liebe schenken ohne Bedingungen und Erwartungen. Wir können nicht verhindern, dass wir von anderen verletzt werden, aber wir können auch in dem, der uns verletzt, den verletzlichen und der Liebe und Zuwendung bedürftigen Menschen sehen. Wir können vielleicht eine Krankheit oder ein schweres Schicksal nicht einfach abschütteln, aber wir können es annehmen und damit leben lernen ohne bitter und hart zu werden. Solange wir danach suchen, wer an unserer Unruhe und unserem Unfrieden schuld ist, werden wir keinen Frieden finden. Wir können nicht alle anderen verändern, aber vielleicht gelingt es uns, mit Gottes Hilfe uns selbst zu verändern und uns berühren zu lassen von diesem weihnachtlichen Frieden. Gott selbst hat diesen Weg gewählt. Er hat nicht mit Feuer und Schwert die Welt verändert, sondern sich selbst. Er hat sich uns gleich gemacht, uns ausgeliefert. Bethlehem und Golgotha stehen für diese Botschaft, dass Gott sich wehrlos in unsere Hände begibt. Es ist an uns, ob wir ihn aus unserem Leben verdrängen oder ob wir ihn in unser Herz einlassen wollen.
Ich wünsche uns allen, dass wir uns berühren lassen von dem Kind in der Krippe, dass wir lernen loszulassen und der Gottesgeburt in unseren Herzen Raum gewähren. Weihnachtlicher Friede möge in unseren Herzen und in unseren Häusern einziehen oder doch die Sehnsucht danach wach bleiben und die Geduld, ihn zu erwarten und unseren Mitmenschen mit offenen Armen zu begegnen. Amen
„Weihnachten ist das Fest der Liebe und des Friedens“, meinte einmal eine Konfirmandin beim Anblick von Kerze, Tannenzweig, Nüssli und Weihnachtsgüetzi im Unterrichtszimmer. Sie sagte es in einem speziellen Ton, der mich veranlasste, nachzufragen, ob sie das nun ernst oder ironisch meine. Es war – da hatte ich mich nicht verhört – ironisch gemeint. Vielleicht braucht es diese Spur von Ironie, wenn Jugendliche erst einmal dem kindlichen Zauber des Weihnachtsfestes entwachsen sind. Wenn sie auf der Suche nach sich selbst sind, vermutlich voller Fragen und in manchem auch desillusioniert, dann braucht es diese Distanzierung. Denn sie haben längst erfahren, dass eben nicht alles heil ist und Frieden ein langer und schwieriger Prozess und nicht nur eine Stimmung über die Festtage. Und auch wir Erwachsene schützen uns ja manches Mal mit solch ironischer Distanz vor überhöhten Erwartungen an das Fest oder tun uns schwer mit den Enttäuschungen, zu denen unsere überhöhten Erwartungen führen.
Trotzdem feiern wir alle Jahre wieder Weihnachten, schmücken unsere Häuser, machen einander Geschenke, hören oder singen weihnachtliche Lieder und mehr Menschen als sonst kommen zu Gottesdiensten. Bei aller ironischen Distanz sehnen wir uns danach, dass eben Weihnachten doch das Fest der Liebe und des Friedens sein möge und wir ahnen vielleicht zutiefst, dass die Botschaft von Weihnachten die Kraft hat, Liebe und Frieden in Menschenherzen zu wecken. Nur, dass sich das nicht einfach machen lässt – weder durch die aufwendigste Dekoration noch durch die kostbarsten Geschenke, weder durch grösste Anstrengungen noch durch das reinste Glaubensbekenntnis.
Im Zentrum des Weihnachtsfestes steht das göttliche Kind in der Krippe, geboren in einem Stall, arm, verletzlich und der Zuwendung bedürftig. In ihm ist Gott gegenwärtig. Dieses Kind soll der Welt Heil und Frieden bringen. Die Geburt dieses göttlichen Kindes bringt die Engel zum Singen. Die Geburt dieses Kindes bringt die Hirten in Bewegung. Göttliches und Menschliches, Himmel und Erde berühren sich im Stall von Bethlehem.
Das ist nun nicht einfach die Feststellung historischer Begebenheiten, die man Fürwahrhalten oder bezweifeln könnte. Da geht es um eine tiefere Wahrheit, die wir bei den christlichen Mystikern auf wunderbare Weise ausgedrückt finden. Sie reden von der Gottesgeburt in der menschlichen Seele. In der Geburt Jesu feiern wir die Gottesgeburt in unseren Herzen. Wenn Gott nicht in uns geboren wird, so bleibt das Geschehen von Bethlehem uns fern, dann bleiben wir uns auch selber fremd. Der christliche Mystiker Angelus Silesius hat es so ausgedrückt: „Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du bleibst doch ewiglich verloren.“ Und für Meister Eckhart vollzieht sich die Gottesgeburt so: „Im innersten Wesen der Seele, im Fünklein der Vernunft, geschieht die Gottesgeburt. In dem Reinsten, Edelsten und Zartesten muss es sein: in jenem tiefen Schweigen, dahin nie gelangte eine Kreatur noch irgendein Bild.“
Diese Mystiker lehren uns: Die Gottesgeburt in unseren Herzen, auf die es wirklich ankommt, die können wir nicht bewirken oder machen. Wir können sie höchstens zulassen, geduldig erwarten und mit Gottes Hilfe wahrnehmen, sie einlassen in unser alltägliches Leben.
Sich in Geduld üben und loslassen können, das sind die Tugenden, die hier gefragt sind. Nur so können Liebe und Frieden gedeihen. Wenn sie nicht in unseren Herzen Wurzel schlagen können, dann werden wir sie auch ausserhalb von uns und unter uns nicht finden. Und das zweite ist: wir sollen lernen, mit anderen Augen zu sehen. Nur mit den Augen des Herzens konnten die Hirten die Engel wahrnehmen und im Kind in der Krippe in diesem ärmlichen Stall das göttliche Kind erkennen. So brauchen auch wir die Augen des Herzens, um das Neue zu erkennen, das mit diesem Kind in uns geboren werden will.
Wir können nicht den Frieden in der ganzen Welt schaffen, aber wir können den Frieden in uns selber suchen. Wir können nicht einmal den Nächsten zum Frieden zwingen, aber wir können ihm die Hand zum Frieden reichen. Wir können Liebe nicht fordern, aber wir können Liebe schenken ohne Bedingungen und Erwartungen. Wir können nicht verhindern, dass wir von anderen verletzt werden, aber wir können auch in dem, der uns verletzt, den verletzlichen und der Liebe und Zuwendung bedürftigen Menschen sehen. Wir können vielleicht eine Krankheit oder ein schweres Schicksal nicht einfach abschütteln, aber wir können es annehmen und damit leben lernen ohne bitter und hart zu werden. Solange wir danach suchen, wer an unserer Unruhe und unserem Unfrieden schuld ist, werden wir keinen Frieden finden. Wir können nicht alle anderen verändern, aber vielleicht gelingt es uns, mit Gottes Hilfe uns selbst zu verändern und uns berühren zu lassen von diesem weihnachtlichen Frieden. Gott selbst hat diesen Weg gewählt. Er hat nicht mit Feuer und Schwert die Welt verändert, sondern sich selbst. Er hat sich uns gleich gemacht, uns ausgeliefert. Bethlehem und Golgotha stehen für diese Botschaft, dass Gott sich wehrlos in unsere Hände begibt. Es ist an uns, ob wir ihn aus unserem Leben verdrängen oder ob wir ihn in unser Herz einlassen wollen.
Ich wünsche uns allen, dass wir uns berühren lassen von dem Kind in der Krippe, dass wir lernen loszulassen und der Gottesgeburt in unseren Herzen Raum gewähren. Weihnachtlicher Friede möge in unseren Herzen und in unseren Häusern einziehen oder doch die Sehnsucht danach wach bleiben und die Geduld, ihn zu erwarten und unseren Mitmenschen mit offenen Armen zu begegnen. Amen
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