Liebe Gemeinde
Vielleicht fragen sie sich: warum erzählt er uns diese alte Geschichte- und das ausgerechnet heute, wo ihr, Michelle und Simon euren Mael taufen lasst und wo mein Kollege CG und seine Frau E. das Fest ihrer Goldenen Hochzeit feiern? Da erzähle ich ihnen die Geschichte einer Ehebrecherin. schon das Wort tönt ja eher vorgestrig. Wir haben akzeptiert, dass Beziehungen zerbrechen können. Und die Vorstellung, Ehebruch könne ein todeswürdiges Verbrechen sein, ist uns - hoffentlich - ziemlich fremd.
Mag sein, dass sie nun die leise Befürchtung haben, der Herr Pfarrer könnte die Gelegenheit zu einer Moralpredigt nutzen. Dann kann ich sie beruhigen. Das ist nicht meine Absicht. Oder fängt der Pfarrer jetzt auch schon an, über das Ideal offener Beziehungen zu philosophieren und alle moralischen Vorstellungen über Bord zu werfen? Auch das ist mir fremd. Ich finde diese Geschichte aus dem Joh ganz einfach faszinierend und berührend und ausserordentlich lehrreich.
Zuerst einmal lade ich sie ein zu einem kleinen Gedankenexperiment: Stellen sie sich die Geschichte einfach einmal ohne Jesus vor. Dann kämen also Schriftgelehrte, die damals Experten in religiösen Fragen und Richter in weltlichen Angelegenheiten waren mit einem scheinbar eindeutigen Rechtsfall. Eine Frau hat Ehebruch begangen. Aber statt zu urteilen, fragen sie zuerst einen Wanderprediger, der formal keinerlei Autorität in solchen Dingen hat. Fragen wir uns einmal ganz ehrlich: Wem hätten wir zugestimmt und Beifall geklatscht, wenn dieser Wanderprediger nicht Jesus wäre? Oder wenn wir gefragt worden wären, was hätten wir wohl geantwortet? Hätten wir uns nicht doch eher auf die Seite der Vertreter von Gesetz und Moral gestellt - natürlich nicht mit diesem altertümlichen Strafmass, aber doch im moralischen Urteil. Ich verzichte jetzt auf die unschönen Ausdrücke, mit denen wir die Frau womöglich bedacht hätten …
Oder soll ich sie noch zu einem heikleren Gedankenexperiment einladen? In Liebesdingen sind wir ja toleranter geworden. Aber stellen sie sich einmal vor, Polizisten brächten einen straffällig gewordenen Asylbewerber zu uns, auf frischer Tat ertappt bei einem schweren Einbruch. Und sie würden uns fragen: Soll man diesen Mann ausschaffen? Manche würden dem wohl sofort zustimmen - ohne lange nach der Geschichte und den Beweggründen dieses Menschen zu fragen. Und was würde Jesus wohl dazu sagen?
Aber kommen wir zurück zur Geschichte aus dem Johannesevangelium. Erlauben sie mir ein paar Randbemerkungen: Wir haben uns daran gewöhnt, uns die Schriftgelehrten als sture und herzlose Männer vorzustellen. Im Johannesevangelium heisst es, sie wollten Jesus eine Falle stellen. Aber könnte es nicht auch sein, dass sie nach einem Weg suchten, Barmherzigkeit zu üben und das scheinbar so eindeutige Urteil nicht auszusprechen? Sie hatten ja formal die Autorität - nicht Jesus. Und noch eine Randbemerkung: Die Angeklagte ist die Frau, aber zum Ehebruch gehören bekanntlich zwei. Warum ist vom Mann keine Rede?
Aber das sollen nur Randbemerkungen sein. Ich möchte mich auf vier Dinge konzentrieren: 1. Hütet euch vor schnellen moralischen Urteilen und reduziert niemals einen Menschen auf seine Verfehlungen. 2. Projeziert nicht eure eigenen Fehler oder eure ungelebten Sehnsüchte, eure Phantasien auf andere. 3. Nehmt den ganzen Menschen wahr, auch seine Verletzungen und ungestillten Sehnsüchte. Und 4. Verzichtet trotzdem nicht auf moralische Massstäbe. Die Ehebrecherin nicht zu verurteilen heisst nicht, den Ehebruch gutzuheissen.
Fangen wir beim ersten Punkt an: Wie oft nehmen wir die offensichtlichen Fehler der anderen wahr. So wie die Schriftgelehrten mit dem Finger auf diese Ehebrecherin zeigen. Und es ist ja auch ein gutes Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Vielleicht zögern wir zuerst noch, aber wenn mal jemand angefangen hat, über jemanden zu richten, dessen Fehler offensichtlich sind, macht so mancher gerne mit und es braucht viel Mumm, dann dagegen zu halten. Jesus hat diesen Mumm. Er macht die Männer auf etwas aufmerksam, was ein Sprichwort so treffend beschreibt: Wenn wir mit einem Finger auf andere zeigen, weisen vier Finger auf uns selber zurück. „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ So einfach und so entwaffnend ist Jesu Reaktion. Allerdings - auch Jesus verschafft sich zuerst einmal etwas Bedenkzeit und reagiert erst mal gar nicht, sondern schreibt mit dem Finger auf die Erde. Und nach der entwaffnenden Antwort lässt er diese Männergesellschaft einfach stehen und schreibt weiter auf die Erde. Er lässt sich erst gar nicht auf moralische Diskussionen ein. Egal, was dieser Frau vorzuwerfen ist - niemand hat das Recht, den Stab über sie zu brechen, ganz gewiss nicht, solange er sich nicht für ihre Sehnsüchte und Lebenserfahrungen interessiert hat. Und niemals dürfen wir einen Menschen auf seine Verfehlungen reduzieren. Übrigens heisst das auch, dass wir nicht einfach mit dem Finger auf die Schriftgelehrten zeigen sollten.
Wenn wir im Begriff sind, jemanden moralisch zu verurteilen, sollten wir uns zuerst einmal für diesen Menschen, seine Geschichte, seine Verletzungen, Enttäuschungen und Sehnsüchte interessieren. Und - das ist nun das Zweite - wir sollten uns selbst überprüfen, ob wir nicht vorschnell geurteilt haben und wo wir mindestens ebenso Anlass haben, über uns und unsere Fehler nachzudenken. Und so manche moralische Verurteilung mag zumindest zum Teil auch Projektion unserer eigenen Phantasie oder unserer ungelebten und ungestillten Sehnsüchte sein.
Und das Dritte: Nehmt den ganzen Menschen wahr, statt zu verurteilen. Vielleicht hat die Frau in dieser Beziehung - die man faktisch nur als Ehebruch bezeichnen kann - zum ersten Mal in ihrem Leben oder seit langem wieder Verständnis und Zuwendung erlebt. Oder sie hat eine Lebensfreude und Vitalität in sich gespürt, die schon längst erloschen schien. Sie hat womöglich eine Wärme und Zärtlichkeit erfahren, die ihr so schmerzlich gefehlt haben. Sie hat vielleicht das neue Gefühl entdeckt, sich einfach hingeben und fallen lassen zu können. Vermutlich hat sie sich selbst all die moralischen Fragen gestellt, mit denen sie nun konfrontiert wird. Aber dieses neue, belebende und bereichernde Gefühl war ihr wichtiger und kostbarer als alles andere. Wenn die Schriftgelehrten all das bedacht hätten, wären sie vielleicht vorsichtiger gewesen mit ihrem moralischen Urteil.
Allerdings - und das ist nun das vierte: bei aller Liberalität und allem Verständnis - Jesus ist weit davon entfernt, das Ideal freier Liebe und offener Beziehungen zu predigen. Denn immer ist da ja auch eine Partnerin oder ein Partner, die oder der sich zurückgesetzt fühlt, deren Vertrauen schwindet, der verletzt wird. Und auch diese schmerzlichen Gefühle sind Teil der Geschichte. Meine persönliche Überzeugung ist: Beziehungen sind keine Besitzverhältnisse. Sie brauchen eine gewisse Offenheit, um lebbar und lebendig zu bleiben. Aber sie brauchen auch ein Mass an Exklusivität und Einzigartigkeit. Sie brauchen einen Bereich, der unteilbar und unantastbar ist. Denn jeder Mensch hat das Bedürfnis, irgendwo an erster Stelle zu stehen und sich darauf auch verlassen zu können.
Jesus sagt zu der Frau: „Auch ich verurteile dich nicht.“ Aber er sagt auch: „Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ Er heisst nichts gut, rechtfertigt nichts. Aber er schafft Raum, in dem diese Frau aufatmen kann, das Gesicht wahren kann. Aus dieser Erfahrung, als Mensch angenommen zu sein, kann etwas wachsen. Sie kann in sich selber finden, was sie in dem anderen gesucht hat. Vielleicht kann sie dabei sogar die Erfahrungen dieser Beziehung mitnehmen und fruchtbar machen.
So wie Jesus diese Frau nicht verurteilt, so verurteilt er auch uns nicht. Das ist ein befreiendes Gefühl. Wir dürfen so sein, wie wir sind. Dann können wir auch durchaus selbstkritisch sein. Weil da einer ist, der uns akzeptiert, der uns zu einer Vitalität und Lebendigkeit befreit, die wir uns vielleicht gar nicht (oder nicht mehr) zugetraut haben. Und in diesem Geist können wir andere akzeptieren, so wie sie sind - mit Grosszügigkeit, Wärme und Respekt. Amen.
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