Liebe Gemeinde,
heute ist der Toten- oder Ewigkeitssonntag. Viele von ihnen werden heute die Gräber ihrer Lieben besuchen, vielleicht auch eine Kerze aufs Grab stellen. Wir werden nachher im Gottesdienst die Namen der Verstorbenen unserer Kirchgemeinde aus dem zu Ende gegangenen Kirchenjahr verlesen und die Kerzen für sie anzünden, die die KonfirmandInnen für sie gestaltet haben.
„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde“ heisst es in der Offenbarung. „Und Gott selbst wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein und er wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Siehe, ich mache alles neu!“
Was für eine wunderbare und tröstliche Vision: eine neue Welt ohne Leid, ohne Tränen, ohne Tod. Eine Welt, in der alles, was hier zerbrochen und unvollendet bleibt, heil und ganz ist, wo aller Streit überwunden ist, alle Schuld vergeben, aller Hader und Groll abgelegt. Eine Welt, in der uns nicht mehr genommen wird, was uns so lieb und kostbar ist, wo Krankheit und Leid nicht mehr erbarmungslos zuschlagen. Eine Welt auch, in der Menschen einander nicht mehr Leid zufügen, wo niemand mehr das Leid anderer zur Schau stellen kann, wo die Gier nach Macht, der Hass, die Intoleranz, die Zerstörung im Namen vermeintlicher Ideale keinen Raum mehr haben. Eine wunderbare Vision – oder doch nur ein schöner Traum?
Können uns die Worte des heutigen Predigttextes ermutigen, aufrichten, Hoffnung machen, wenn Trauer und Verzweiflung uns überwältigen beim Abschied von einem lieben Menschen oder dann, wenn beim Abschied so vieles ungesagt und ungelöst bleibt? Können wir leben und uns trösten mit der Hoffnung auf den neuen Himmel und die neue Erde oder sind das für uns nur leere, belanglose Worte – eben nur ein schöner Traum angesichts unserer Trauer, zu schön um wahr zu sein?
Jedenfalls ist es eine Utopie, eine Utopie im eigentlichen Sinn des Wortes – etwas, das in dieser Welt keinen Ort hat, etwas das wir nicht durch unser Planen und Machen erreichen und verwirklichen können. Ein neuer Himmel und eine neue Erde. Kein Fortschritt, keine kontinuierliche Entwicklung, schon gar nicht die Überwindung von Leid, Krankheit und Tod durch medizinische Forschung. „Der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen“, heisst es in der Offenbarung. Es gibt keinen Weg von hier nach dort. Solange diese Erde besteht, werden Menschen ihre Toten beweinen, werden Krankheiten und Schicksalsschläge Menschen treffen, werden Menschen einander Leid zufügen, wird es Kriege, Hass, Neid und Gewalt geben. Diesen Realismus lehrt uns die Bibel – von Kain und Abel bis hin zu den bedrückenden Bildern der Offenbarung. Und der Tod mag zwar gerecht sein, weil, wie das Sprichwort sagt, das letzte Hemd keine Taschen hat, aber er ist furchtbar ungerecht in der Auswahl seiner Opfer und er ist fast immer ungerecht für den, dem ein lieber Mensch genommen wird. Aber – noch einmal – was kann uns dann die biblische Utopie vom neuen Himmel und der neuen Erde helfen, wenn sie doch nicht von dieser Welt ist?
Wenn einem die Decke auf den Kopf fällt, dann tut es gut, wenn man aus dem Haus geht, hinaus an die frische Luft. Wenn man sich in den immer gleichen ausweglosen Grübeleien verheddert, tut es gut, wenn jemand einem auf andere Gedanken bringt, die Dinge in ein anderes Licht rückt. Ich glaube, dass die Utopie des heutigen Predigttextes genau diese Funktion hat, frische Luft in das Haus unserer Trauer hineinzubringen, die lähmenden Gedanken, die uns plagen in das Licht einer anderen Wirklichkeit zu stellen. Stell dir vor wie das wäre: eine Welt ohne Leid und Tod. Stell dir vor, keine deiner Tränen ist vor Gott vergessen, er wird sie abwischen. Stell dir vor, der Tod, die Verzweiflung, die Trauer – sie haben nicht das letzte Wort. Jenseits dieser Grenze, die für uns so unwiderruflich, so bitter und schmerzhaft ist, da ist noch etwas, oder besser gesagt, da ist noch einer, der uns erwartet, der uns trägt, der uns tröstet und hält und dessen Liebe zu uns stärker ist als der Tod. Das dürfen wir hoffen, das dürfen wir glauben. Ob es uns die Trauer leichter macht? Ob es uns geschenkt ist, die Welt und unser Leben gerade auch in dunklen Stunden in diesem Licht einer neuen Welt zu sehen, das weiss Gott allein. Erzwingen können wir es nicht, nicht bei uns selbst und nicht bei anderen. Aber wenn Gott uns dieses Licht, diese Sicht schenkt, dann verändert sich etwas, dann kann der Dank für das Gewesene stärker werden als die Trauer über das Verlorene, dann können wir loslassen, den schmerzlichen Verlust, die unüberwindbare Grenze akzeptieren, weil jenseits dieser Grenze nicht das Nichts ist, sondern die grenzenlose Liebe Gottes. In diesem Licht können auch unausgeräumte Missverständnisse, Schuld, Groll oder Hader ihre lähmende Macht verlieren, weil wir uns dem anvertrauen können, der unser Leben heil und ganz macht – nicht in dieser Welt, nicht in diesem Leben, aber dann, wenn unser Leben heimkehrt zu Gott. Wo der neue Himmel und die neue Erde in unser Hoffen und Denken einziehen, da empfangen wir die Kraft zum Loslassen, da kann neue Hoffnung und neuer Lebensmut in unseren Herzen aufkeimen und wachsen.
Den Tod können wir nicht überwinden, wir können nicht einmal diesseits der Todesgrenze eine friedliche Welt schaffen, ja oft nicht einmal in unseren engsten Beziehungen. Aber im Licht des neuen Himmels und der neuen Erde, die Gott uns verheisst, können wir mit unseren Möglichkeiten Tränen abwischen, denen die Kummer haben, verständnisvoll zuhören, einander in den Arm nehmen und trösten. Wir können das Leid nicht überwinden, aber wir können einander helfen, Schweres zu tragen, auszuhalten und behutsam wieder neue Hoffnung zu wagen. Und das ist schon ungeheuer viel. Und wir können einander vergeben und verzeihen, können Vergangenes ruhen lassen, weil wir es in Gottes Hand legen dürfen.
Siehe, ich mache alles neu, sagt der auf dem Thron. Gott macht alles neu, nicht wir. Aber er tut es. Er schenkt uns hier und jetzt neue Kraft. Und er heilt und vollendet das Ganze unseres Lebens. Darauf hoffen wir. Daran glauben wir. Davon leben wir. Amen.
Samstag, 20. November 2010
Samstag, 6. November 2010
Predigt am Reformationssonntag 7. November 2010 über Römer 3,21-28
Liebe Mitchristen!
Vor fast 500 Jahren hat ein junger Mönch namens Martin Luther immer wieder mit der selben Frage gerungen: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Die Höllenangst, die Angst vor ewigen Qualen setzte den Menschen seiner Zeit sehr zu. Die katholische Kirche seiner Zeit sah sich als einzige Heilsmittlerin, deren ordinierte Priester allein die Menschen von ihren Verfehlungen lossprechen konnten. Die Beichte, die verbunden war mit tätiger Reue, war der Weg um Gott gnädig zu stimmen. Weil die Kirche Geld brauchte, machte sie aus diesem Monopol ein Geschäft. Die Reue konnte in Geldleistungen bestehen, die Vergebung wurde käuflich – man spricht von Ablasshandel. Dieser Weg war Luther zutiefst zuwider. Die Beichte als solche, den Weg der Umkehr und Reue, hat Luther nie für falsch gehalten, aber das Monopol der Kirche, die Käuflichkeit und die Idee, man könne – sei es durch Geld oder auch durch gute Taten ein Anrecht auf Gottes Vergebung erwerben.
Aber auch den anderen Weg hielt Luther für nicht gangbar, den Weg hin zu immer grösserer Vollkommenheit, wie er vor allem im Mönchtum angestrebt wurde. Sich heraushalten aus dieser Welt, verzichten auf Besitz, auf Sexualität, auf ein bürgerliches oder adliges Leben – auch das war für Luther keine Möglichkeit, um sich die Gnade Gottes zu verdienen. Es war vor allem der Römerbrief und gerade auch der heutige Predigttext, der ihn zu seiner Erkenntnis führte: Die Gnade Gottes können wir uns nicht verdienen durch eigene Leistungen, weder durch Geld noch durch gute Taten oder den Versuch eines heiligen Lebens.
„Denn die Menschen sind allzumal Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten.“ – so schreibt es Paulus. Und dann: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“
Gott allein vergibt, macht Menschen gerecht, befreit sie von der Last ihrer Fehler, ihrer Schuld, ihres Scheiterns, ihrer Unvollkommenheit. Diese Gnade können wir uns nicht verdienen, darauf können wir nur vertrauen, das können wir nur glauben. Mit dieser Einsicht sind wir aber auch befreit davon, ruhelos einem Ideal unserer selbst nachzurennen und dem doch nie genügen zu können.
Aber – so fragen vielleicht manche – sind das nicht Fragen des Mittelalters? Wer sorgt sich heute noch um einen gnädigen Gott? Wer fürchtet heute noch die Hölle oder die ewige Verdammnis? Und feiern nicht heute auch viele Katholiken lieber eine Bussfeier als eine Einzelbeichte abzulegen. Und doch: auch heute noch werden Menschen schuldig, auch heute noch verletzen Menschen einander, auch heute noch leiden Menschen unter Fehlern, die sie schier erdrücken können. Da hilft kein leichtfertiges „Schwamm drüber, jeder macht mal Fehler“; da können tiefe Wunden bleiben. Wir neigen heute dazu, solche Erfahrungen zu verdrängen oder zu verharmlosen oder denken, dass wir halt selber damit fertig werden müssen. Aber lehrt uns nicht die psychologische Forschung, lehrt uns nicht unsere eigene Erfahrung, dass Verdrängtes immer wieder an die Oberfläche zurückkehrt, uns behindert und lähmt. Dinge aussprechen können, die uns belasten, Fehler einzugestehen – das ist heilsam und befreiend, wenn wir darauf vertrauen können, dass wir auf Vergebung, auf Liebe und Verständnis stossen, sei es in der Beichte, im seelsorgerlichen Gespräch, im Gebet oder in der Aussprache von Mensch zu Mensch. Ich weiss, dass sich das leichter sagt als es ist. Denn in vielen von uns ist die Haltung tief verwurzelt, Dinge mit sich selber auszumachen, nur keine Schwächen zu zeigen oder aber sich selbst für jeden Fehler so sehr zu verurteilen, dass es uns schwer fällt, auf einen gnädigen Gott oder einen gnädigen Mitmenschen zu vertrauen. Wenn wir aber auf einen gnädigen Gott vertrauen dürfen, wenn wir glauben dürfen, dass nichts, wirklich gar nichts uns endgültig von Gottes Liebe trennen kann, dann brauchen wir - zumindest vor Gott – nichts zu verstecken, brauchen wir nicht vor uns selber davonzulaufen oder uns unserer eigenen Unwürdigkeit zu grämen.
Solcher Glaube kann uns bewahren vor dem schleichenden Gift der Sprachlosigkeit in unserer Beziehung zu Gott und in unseren menschlichen Beziehungen. Wir können das ganz einfach an unseren alltäglichen Beziehungen überprüfen: Wo fällt ein klärendes Gespräch leichter: Da, wo die Frage im Vordergrund steht, wer denn nun recht hat und wer schuld ist? Oder da, wo einer sich fragt, wie er den anderen gnädig stimmen kann? Oder da, wo wir einander vertrauen können, dass eines dem anderen Verständnis entgegenbringt und verzeihen kann? Im ersten Fall ist es das alte Spiel von Sieger und Verlierer, das den Verlierer sprachlos und hilflos macht. Im zweiten Fall kommt es zur Unterwerfung oder zur Sprachlosigkeit, weil nie der richtige Zeitpunkt da ist, man nie die richtigen Worte findet oder es kommt zur Unterwerfung des einen unter den anderen. Nur wo wir Schwäche zeigen können ohne Stärke zu provozieren, werden wir wirklich geliebt. Die meisten wissen wohl ganz gut, wie schwer es manchmal ist, diesen dritten Weg zu gehen. Und wie viele Beziehungen, Freundschaften und Partnerschaften sind schon an den Machtkämpfen, an Sprachlosigkeit oder an Unterwerfung gescheitert. Aber im Vertrauen müssen wir uns üben und Vertrauen macht verletzlich, braucht immer wieder neue Nahrung. Wenn unser Vertrauen enttäuscht wird, wir uns verurteilt oder zurückgewiesen fühlen, dann droht der Rückzug in die Sprachlosigkeit oder der Machtkampf. Sagen können, was uns verletzt und wieder neu Vertrauen wagen, darauf kommt es dann entscheidend an. Und darauf, dass wir erkennen, dass es zum £Weg des Vertrauens letztlich keine Alternative gibt.
Und noch etwas ist mir wichtig: Es geht nicht in erster Linie darum, Vergangenes wieder gut zu machen. Es geht darum, in der Einsicht, dass wir Vergangenes nicht ungeschehen machen können und auch nicht müssen, frei zu werden für einen Weg, der in die Zukunft führt. Und dazu muss Vergangenes ruhen, müssen wir lernen, mit dem, was sich nicht mehr ändern lässt, zu leben und zu verzeihen.
Die Erkenntnis Martin Luthers, dass Gott gnädig ist und wir ihn nicht erst gnädig stimmen müssen, seine Einsicht, dass wir vor Gott weder Recht behalten noch gute Leistungen erbringen müssen – sie waren für ihn eine grosse Befreiung. Und ich denke, dass sie nicht nur im Mittelalter aktuell waren. Auch für uns heute kann das Vertrauen auf einen gnädigen und barmherzigen Gott eine Befreiung sein, dann wenn wir spüren, dass Schuld, Fehler und Unvollkommenheit uns belasten. Denn darin liegt die Zusage, dass wir so sein dürfen wie wir sind und von Gott nicht an unseren Leistungen gemessen und klassiert werden. Und wenn Gott ruhen lässt, was zwischen uns und ihm steht, dann dürfen auch wir den Blick nach vorne richten. Mit unserer Geschichte, mit unseren Fehlern dürfen wir weitergehen, brauchen uns nicht lähmen zu lassen.
Was wir in der Beziehung zu Gott erfahren dürfen, das können wir dann auch in unserem menschlichen Zusammenleben üben. Vertrauen wagen, einander Vertrauen entgegenbringen, miteinander reden, Vergangenes ruhen lassen und miteinander in die Zukunft zu blicken.
Für Paulus gilt: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ Amen.
Vor fast 500 Jahren hat ein junger Mönch namens Martin Luther immer wieder mit der selben Frage gerungen: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Die Höllenangst, die Angst vor ewigen Qualen setzte den Menschen seiner Zeit sehr zu. Die katholische Kirche seiner Zeit sah sich als einzige Heilsmittlerin, deren ordinierte Priester allein die Menschen von ihren Verfehlungen lossprechen konnten. Die Beichte, die verbunden war mit tätiger Reue, war der Weg um Gott gnädig zu stimmen. Weil die Kirche Geld brauchte, machte sie aus diesem Monopol ein Geschäft. Die Reue konnte in Geldleistungen bestehen, die Vergebung wurde käuflich – man spricht von Ablasshandel. Dieser Weg war Luther zutiefst zuwider. Die Beichte als solche, den Weg der Umkehr und Reue, hat Luther nie für falsch gehalten, aber das Monopol der Kirche, die Käuflichkeit und die Idee, man könne – sei es durch Geld oder auch durch gute Taten ein Anrecht auf Gottes Vergebung erwerben.
Aber auch den anderen Weg hielt Luther für nicht gangbar, den Weg hin zu immer grösserer Vollkommenheit, wie er vor allem im Mönchtum angestrebt wurde. Sich heraushalten aus dieser Welt, verzichten auf Besitz, auf Sexualität, auf ein bürgerliches oder adliges Leben – auch das war für Luther keine Möglichkeit, um sich die Gnade Gottes zu verdienen. Es war vor allem der Römerbrief und gerade auch der heutige Predigttext, der ihn zu seiner Erkenntnis führte: Die Gnade Gottes können wir uns nicht verdienen durch eigene Leistungen, weder durch Geld noch durch gute Taten oder den Versuch eines heiligen Lebens.
„Denn die Menschen sind allzumal Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten.“ – so schreibt es Paulus. Und dann: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“
Gott allein vergibt, macht Menschen gerecht, befreit sie von der Last ihrer Fehler, ihrer Schuld, ihres Scheiterns, ihrer Unvollkommenheit. Diese Gnade können wir uns nicht verdienen, darauf können wir nur vertrauen, das können wir nur glauben. Mit dieser Einsicht sind wir aber auch befreit davon, ruhelos einem Ideal unserer selbst nachzurennen und dem doch nie genügen zu können.
Aber – so fragen vielleicht manche – sind das nicht Fragen des Mittelalters? Wer sorgt sich heute noch um einen gnädigen Gott? Wer fürchtet heute noch die Hölle oder die ewige Verdammnis? Und feiern nicht heute auch viele Katholiken lieber eine Bussfeier als eine Einzelbeichte abzulegen. Und doch: auch heute noch werden Menschen schuldig, auch heute noch verletzen Menschen einander, auch heute noch leiden Menschen unter Fehlern, die sie schier erdrücken können. Da hilft kein leichtfertiges „Schwamm drüber, jeder macht mal Fehler“; da können tiefe Wunden bleiben. Wir neigen heute dazu, solche Erfahrungen zu verdrängen oder zu verharmlosen oder denken, dass wir halt selber damit fertig werden müssen. Aber lehrt uns nicht die psychologische Forschung, lehrt uns nicht unsere eigene Erfahrung, dass Verdrängtes immer wieder an die Oberfläche zurückkehrt, uns behindert und lähmt. Dinge aussprechen können, die uns belasten, Fehler einzugestehen – das ist heilsam und befreiend, wenn wir darauf vertrauen können, dass wir auf Vergebung, auf Liebe und Verständnis stossen, sei es in der Beichte, im seelsorgerlichen Gespräch, im Gebet oder in der Aussprache von Mensch zu Mensch. Ich weiss, dass sich das leichter sagt als es ist. Denn in vielen von uns ist die Haltung tief verwurzelt, Dinge mit sich selber auszumachen, nur keine Schwächen zu zeigen oder aber sich selbst für jeden Fehler so sehr zu verurteilen, dass es uns schwer fällt, auf einen gnädigen Gott oder einen gnädigen Mitmenschen zu vertrauen. Wenn wir aber auf einen gnädigen Gott vertrauen dürfen, wenn wir glauben dürfen, dass nichts, wirklich gar nichts uns endgültig von Gottes Liebe trennen kann, dann brauchen wir - zumindest vor Gott – nichts zu verstecken, brauchen wir nicht vor uns selber davonzulaufen oder uns unserer eigenen Unwürdigkeit zu grämen.
Solcher Glaube kann uns bewahren vor dem schleichenden Gift der Sprachlosigkeit in unserer Beziehung zu Gott und in unseren menschlichen Beziehungen. Wir können das ganz einfach an unseren alltäglichen Beziehungen überprüfen: Wo fällt ein klärendes Gespräch leichter: Da, wo die Frage im Vordergrund steht, wer denn nun recht hat und wer schuld ist? Oder da, wo einer sich fragt, wie er den anderen gnädig stimmen kann? Oder da, wo wir einander vertrauen können, dass eines dem anderen Verständnis entgegenbringt und verzeihen kann? Im ersten Fall ist es das alte Spiel von Sieger und Verlierer, das den Verlierer sprachlos und hilflos macht. Im zweiten Fall kommt es zur Unterwerfung oder zur Sprachlosigkeit, weil nie der richtige Zeitpunkt da ist, man nie die richtigen Worte findet oder es kommt zur Unterwerfung des einen unter den anderen. Nur wo wir Schwäche zeigen können ohne Stärke zu provozieren, werden wir wirklich geliebt. Die meisten wissen wohl ganz gut, wie schwer es manchmal ist, diesen dritten Weg zu gehen. Und wie viele Beziehungen, Freundschaften und Partnerschaften sind schon an den Machtkämpfen, an Sprachlosigkeit oder an Unterwerfung gescheitert. Aber im Vertrauen müssen wir uns üben und Vertrauen macht verletzlich, braucht immer wieder neue Nahrung. Wenn unser Vertrauen enttäuscht wird, wir uns verurteilt oder zurückgewiesen fühlen, dann droht der Rückzug in die Sprachlosigkeit oder der Machtkampf. Sagen können, was uns verletzt und wieder neu Vertrauen wagen, darauf kommt es dann entscheidend an. Und darauf, dass wir erkennen, dass es zum £Weg des Vertrauens letztlich keine Alternative gibt.
Und noch etwas ist mir wichtig: Es geht nicht in erster Linie darum, Vergangenes wieder gut zu machen. Es geht darum, in der Einsicht, dass wir Vergangenes nicht ungeschehen machen können und auch nicht müssen, frei zu werden für einen Weg, der in die Zukunft führt. Und dazu muss Vergangenes ruhen, müssen wir lernen, mit dem, was sich nicht mehr ändern lässt, zu leben und zu verzeihen.
Die Erkenntnis Martin Luthers, dass Gott gnädig ist und wir ihn nicht erst gnädig stimmen müssen, seine Einsicht, dass wir vor Gott weder Recht behalten noch gute Leistungen erbringen müssen – sie waren für ihn eine grosse Befreiung. Und ich denke, dass sie nicht nur im Mittelalter aktuell waren. Auch für uns heute kann das Vertrauen auf einen gnädigen und barmherzigen Gott eine Befreiung sein, dann wenn wir spüren, dass Schuld, Fehler und Unvollkommenheit uns belasten. Denn darin liegt die Zusage, dass wir so sein dürfen wie wir sind und von Gott nicht an unseren Leistungen gemessen und klassiert werden. Und wenn Gott ruhen lässt, was zwischen uns und ihm steht, dann dürfen auch wir den Blick nach vorne richten. Mit unserer Geschichte, mit unseren Fehlern dürfen wir weitergehen, brauchen uns nicht lähmen zu lassen.
Was wir in der Beziehung zu Gott erfahren dürfen, das können wir dann auch in unserem menschlichen Zusammenleben üben. Vertrauen wagen, einander Vertrauen entgegenbringen, miteinander reden, Vergangenes ruhen lassen und miteinander in die Zukunft zu blicken.
Für Paulus gilt: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ Amen.
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