Samstag, 6. November 2010

Predigt am Reformationssonntag 7. November 2010 über Römer 3,21-28

Liebe Mitchristen!
Vor fast 500 Jahren hat ein junger Mönch namens Martin Luther immer wieder mit der selben Frage gerungen: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Die Höllenangst, die Angst vor ewigen Qualen setzte den Menschen seiner Zeit sehr zu. Die katholische Kirche seiner Zeit sah sich als einzige Heilsmittlerin, deren ordinierte Priester allein die Menschen von ihren Verfehlungen lossprechen konnten. Die Beichte, die verbunden war mit tätiger Reue, war der Weg um Gott gnädig zu stimmen. Weil die Kirche Geld brauchte, machte sie aus diesem Monopol ein Geschäft. Die Reue konnte in Geldleistungen bestehen, die Vergebung wurde käuflich – man spricht von Ablasshandel. Dieser Weg war Luther zutiefst zuwider. Die Beichte als solche, den Weg der Umkehr und Reue, hat Luther nie für falsch gehalten, aber das Monopol der Kirche, die Käuflichkeit und die Idee, man könne – sei es durch Geld oder auch durch gute Taten ein Anrecht auf Gottes Vergebung erwerben.
Aber auch den anderen Weg hielt Luther für nicht gangbar, den Weg hin zu immer grösserer Vollkommenheit, wie er vor allem im Mönchtum angestrebt wurde. Sich heraushalten aus dieser Welt, verzichten auf Besitz, auf Sexualität, auf ein bürgerliches oder adliges Leben – auch das war für Luther keine Möglichkeit, um sich die Gnade Gottes zu verdienen. Es war vor allem der Römerbrief und gerade auch der heutige Predigttext, der ihn zu seiner Erkenntnis führte: Die Gnade Gottes können wir uns nicht verdienen durch eigene Leistungen, weder durch Geld noch durch gute Taten oder den Versuch eines heiligen Lebens.
„Denn die Menschen sind allzumal Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten.“ – so schreibt es Paulus. Und dann: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“
Gott allein vergibt, macht Menschen gerecht, befreit sie von der Last ihrer Fehler, ihrer Schuld, ihres Scheiterns, ihrer Unvollkommenheit. Diese Gnade können wir uns nicht verdienen, darauf können wir nur vertrauen, das können wir nur glauben. Mit dieser Einsicht sind wir aber auch befreit davon, ruhelos einem Ideal unserer selbst nachzurennen und dem doch nie genügen zu können.
Aber – so fragen vielleicht manche – sind das nicht Fragen des Mittelalters? Wer sorgt sich heute noch um einen gnädigen Gott? Wer fürchtet heute noch die Hölle oder die ewige Verdammnis? Und feiern nicht heute auch viele Katholiken lieber eine Bussfeier als eine Einzelbeichte abzulegen. Und doch: auch heute noch werden Menschen schuldig, auch heute noch verletzen Menschen einander, auch heute noch leiden Menschen unter Fehlern, die sie schier erdrücken können. Da hilft kein leichtfertiges „Schwamm drüber, jeder macht mal Fehler“; da können tiefe Wunden bleiben. Wir neigen heute dazu, solche Erfahrungen zu verdrängen oder zu verharmlosen oder denken, dass wir halt selber damit fertig werden müssen. Aber lehrt uns nicht die psychologische Forschung, lehrt uns nicht unsere eigene Erfahrung, dass Verdrängtes immer wieder an die Oberfläche zurückkehrt, uns behindert und lähmt. Dinge aussprechen können, die uns belasten, Fehler einzugestehen – das ist heilsam und befreiend, wenn wir darauf vertrauen können, dass wir auf Vergebung, auf Liebe und Verständnis stossen, sei es in der Beichte, im seelsorgerlichen Gespräch, im Gebet oder in der Aussprache von Mensch zu Mensch. Ich weiss, dass sich das leichter sagt als es ist. Denn in vielen von uns ist die Haltung tief verwurzelt, Dinge mit sich selber auszumachen, nur keine Schwächen zu zeigen oder aber sich selbst für jeden Fehler so sehr zu verurteilen, dass es uns schwer fällt, auf einen gnädigen Gott oder einen gnädigen Mitmenschen zu vertrauen. Wenn wir aber auf einen gnädigen Gott vertrauen dürfen, wenn wir glauben dürfen, dass nichts, wirklich gar nichts uns endgültig von Gottes Liebe trennen kann, dann brauchen wir - zumindest vor Gott – nichts zu verstecken, brauchen wir nicht vor uns selber davonzulaufen oder uns unserer eigenen Unwürdigkeit zu grämen.
Solcher Glaube kann uns bewahren vor dem schleichenden Gift der Sprachlosigkeit in unserer Beziehung zu Gott und in unseren menschlichen Beziehungen. Wir können das ganz einfach an unseren alltäglichen Beziehungen überprüfen: Wo fällt ein klärendes Gespräch leichter: Da, wo die Frage im Vordergrund steht, wer denn nun recht hat und wer schuld ist? Oder da, wo einer sich fragt, wie er den anderen gnädig stimmen kann? Oder da, wo wir einander vertrauen können, dass eines dem anderen Verständnis entgegenbringt und verzeihen kann? Im ersten Fall ist es das alte Spiel von Sieger und Verlierer, das den Verlierer sprachlos und hilflos macht. Im zweiten Fall kommt es zur Unterwerfung oder zur Sprachlosigkeit, weil nie der richtige Zeitpunkt da ist, man nie die richtigen Worte findet oder es kommt zur Unterwerfung des einen unter den anderen. Nur wo wir Schwäche zeigen können ohne Stärke zu provozieren, werden wir wirklich geliebt. Die meisten wissen wohl ganz gut, wie schwer es manchmal ist, diesen dritten Weg zu gehen. Und wie viele Beziehungen, Freundschaften und Partnerschaften sind schon an den Machtkämpfen, an Sprachlosigkeit oder an Unterwerfung gescheitert. Aber im Vertrauen müssen wir uns üben und Vertrauen macht verletzlich, braucht immer wieder neue Nahrung. Wenn unser Vertrauen enttäuscht wird, wir uns verurteilt oder zurückgewiesen fühlen, dann droht der Rückzug in die Sprachlosigkeit oder der Machtkampf. Sagen können, was uns verletzt und wieder neu Vertrauen wagen, darauf kommt es dann entscheidend an. Und darauf, dass wir erkennen, dass es zum £Weg des Vertrauens letztlich keine Alternative gibt.
Und noch etwas ist mir wichtig: Es geht nicht in erster Linie darum, Vergangenes wieder gut zu machen. Es geht darum, in der Einsicht, dass wir Vergangenes nicht ungeschehen machen können und auch nicht müssen, frei zu werden für einen Weg, der in die Zukunft führt. Und dazu muss Vergangenes ruhen, müssen wir lernen, mit dem, was sich nicht mehr ändern lässt, zu leben und zu verzeihen.
Die Erkenntnis Martin Luthers, dass Gott gnädig ist und wir ihn nicht erst gnädig stimmen müssen, seine Einsicht, dass wir vor Gott weder Recht behalten noch gute Leistungen erbringen müssen – sie waren für ihn eine grosse Befreiung. Und ich denke, dass sie nicht nur im Mittelalter aktuell waren. Auch für uns heute kann das Vertrauen auf einen gnädigen und barmherzigen Gott eine Befreiung sein, dann wenn wir spüren, dass Schuld, Fehler und Unvollkommenheit uns belasten. Denn darin liegt die Zusage, dass wir so sein dürfen wie wir sind und von Gott nicht an unseren Leistungen gemessen und klassiert werden. Und wenn Gott ruhen lässt, was zwischen uns und ihm steht, dann dürfen auch wir den Blick nach vorne richten. Mit unserer Geschichte, mit unseren Fehlern dürfen wir weitergehen, brauchen uns nicht lähmen zu lassen.
Was wir in der Beziehung zu Gott erfahren dürfen, das können wir dann auch in unserem menschlichen Zusammenleben üben. Vertrauen wagen, einander Vertrauen entgegenbringen, miteinander reden, Vergangenes ruhen lassen und miteinander in die Zukunft zu blicken.
Für Paulus gilt: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ Amen.

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