„wo wohnt denn der liebe Gott?“ - das ist eine dieser Kinderfragen, die so naiv klingen und doch tiefgründiger sind als wir auf den ersten Blick meinen. „Der liebe Gott wohnt im Himmel“, sagen wir den Kindern dann oft. Und das ist ja auch richtig. Aber wenn das Kind dann weiterfragt, wo denn der Himmel ist, dann kommen die meisten von uns doch schon ziemlich in Verlegenheit. Das Blau über uns kann es ja wohl kaum sein, auch wenn wir beim Gedanken an den Himmel den Blick oft unwillkürlich nach oben richten und in den künstlerischen Darstellungen der Himmelfahrt Christi die Szene häufig so dargestellt wird, dass er von einem Berg oder Hügel aus auf den Wolken entschwebt. Auch die Darstellung der Apostelgeschichte verwendet ja dieses naheliegende Bild. Aber es bleibt ein Bild.
Manchmal antworten wir vielleicht: „Der liebe Gott wohnt überall.“ Es gibt dazu auch eine schöne rabbinische Geschichte. Als Rabbi Jizchak Meir ein kleiner Junge war, fragte ihn einmal jemand: „Jizchak Meir, ich gebe dir einen Gulden, wenn du mir sagst, wo Gott wohnt“. Er antwortete: „Und ich gebe dir zwei Gulden, wenn du mir sagen kannst, wo er nicht wohnt.“ In einem ähnlichen Sinn sagen viele heute, dass ihnen Gott am ehesten in der Natur begegnet, in der Schönheit der Schöpfung. Und es stimmt ja auch: wo wir staunen und dankbar sein können, da erfahren wir Gott.
Eine andere Antwort lautet: „Gott wohnt in den Herzen der Menschen. Er ist die Kraft zum Guten, die Liebe, die uns erfüllt, das Vertrauen, das wir in uns spüren.“ Zweifellos eine richtige und sehr überzeugende Antwort.
In den sogenannten Schriftreligionen sagt man auch: „Gott wohnt im Wort der Heiligen Schrift.“ Einem Kind würden wir das vermutlich kaum so sagen. Und ich weiss sehr wohl um die Gefahr eines toten Buchstabenglaubens oder einer fundamentalistischen Enge. Trotzdem ist auch diese Antwort nicht falsch. Und ich hoffe, dass zu den Geschichten, die ihr, liebe Taufeltern, ihren Kindern erzählen werdet, nicht nur Märchen und Fantasygeschichten oder ähnliche gehören, sondern auch biblische Geschichten, weil wir in diesen Geschichten verbunden sind mit Gott und mit den Menschen, die vor uns geglaubt, gehofft und geliebt haben, weil diese Geschichten Vertrauen und Lebenszuversicht wecken können.
Und wie sieht es mit der Antwort „Gott wohnt in der Kirche“ aus. Immerhin heisst die Kirche ja auch das Haus Gottes. Trotzdem ruft gerade diese Antwort besonders viel Widerspruch hervor - auch und vor allem bei Menschen, die spirituell auf der Suche sind. „Glaube ja, Kirche nein“ heisst oft der Leitspruch. Man kann doch schliesslich auch ein guter Mensch sein, ohne in die Kirche zu gehen und umgekehrt macht der Kirchgang niemand automatisch zu einem besseren Menschen. Mancher fühlt sich auf einem Berggipfel dem lieben Gott tatsächlich näher als in einer Kirche. Ich habe nicht das geringste Interesse, all dies zu bestreiten oder auch nur zu relativieren. Ich möchte nicht einmal andere davon überzeugen, dass sie eben die Kirche doch noch brauchen, um die richtigen Gotteserfahrungen zu machen. Zu lange wurde der Eindruck erweckt, ausserhalb der Kirche gebe es kein Heil.
Der heutige Predigttext ist ein Gebet, einige wenige Verse aus dem Tempelweihegebet des israelitischen Königs Salomos. Das besondere des Glaubens Israels ist, dass sie im Unterschied zu ihrer orientalischen Umwelt keine Götterbilder verehrten. Die Israeliten glaubten an einen unsichtbaren Gott, der sich nicht in Bildern festlegen lässt. Alles was sie hatten, waren die beiden Gebotstafeln, die sie in einer Holzkiste aufbewahrten. Doch der König David wollte dem Gott Israels ein Haus, einen Tempel bauen. Aber erst sein Sohn Salomo durfte diesen Plan in die Tat umsetzen. Übrigens ist die Begründung der Bibel interessant: David durfte den Tempel nicht bauen, weil an seinen Händen zu viel Blut klebte. Der Tempel Salomos war nicht zu vergleichen mit den Dombauten und Kathedralen unserer Städte. Er war etwa so gross wie unsere Oberbalmer Dorfkirche. Aber endlich hatte man ein zentrales Heiligtum, zum Gebet, zum Kult und zum Opfer, einen sichtbaren Ort der Gegenwart Gottes. Und dann fällt sich Salomo in diesem Gebet zur Einweihung des Tempels fast schon selbst ins Wort und es heisst: „Aber sollte Gott wirklich auf der Erde wohnen? Sieh, der Himmel, der höchste Himmel kann dich nicht fassen, wieviel weniger dann dieses Haus, das ich gebaut habe!“ Vermutlich ist dieses Gebet so erst im Rückblick formuliert worden, als der Tempel wieder zerstört worden war von den babylonischen Eroberern und das Volk Israel im Exil lebte.
Dass Gott grösser ist als unsere religiösen Bauwerke, als unsere religiösen Lehren, als unsere Glaubensgemeinschaften, diese Einsicht ist unserem Glauben von Grund auf eingeschrieben. Diese Einsicht gilt aber auch für die Gegenwart Gottes in der Schönheit der Natur oder in unseren Herzen. Ich denke, dass die Antworten auf die Kinderfrage „Wo wohnt denn der liebe Gott“ alle ihr Recht und ihre Grenze haben. Keine macht die andere überflüssig oder falsch, aber auch keine kann die Fülle Gottes einfangen.
Wenn ich mich mit offenen Augen in der Natur bewege, kann ich tatsächlich die Gegenwart Gottes erahnen und kein Gottesdienst, keine Predigt kann mir diese Erfahrung ersetzen. Aber die Naturerfahrung ersetzt mir auch nicht das gemeinsame feiern, singen und beten im Gottesdienst, das Hören auf Gottes Wort, das Gespräch mit anderen und die Zuwendung von anderen, die ich erfahre. Das Gute, das wir im Alltag erfahren und tun, kann durch die klügsten und berührendsten Gottesdienste und Kirchenräume nicht aufgewogen werden. Aber ich brauche auch die Orte und Momente, wo ich zur Ruhe kommen und loslassen kann. Gott braucht keine monumentalen Kirchen, ja überhaupt kein Gebäude. Trotzdem werde ich, wenn ich Stille suche und Besinnung, eher in eine schöne Kirche sitzen als in eine Turnhalle.
„Aber sollte Gott wirklich auf der Erde wohnen? Sieh, der Himmel, der höchste Himmel kann dich nicht fassen, wieviel weniger dann dieses Haus, das ich gebaut habe!“ Mit diesen Worten ist all unseren Gotteserfahrungen eine heilsame Grenze gesetzt. Sie können die Fülle Gottes nicht fassen. Und doch sind es wertvolle und kostbare Gotteserfahrungen, sei es in der Natur, in einer Kirche oder in tätiger Nächstenliebe.
Der Abschnitt aus der Apostelgeschichte, den wir in der Schriftlesung gehört haben, ist ja die biblische Grundlage dafür, dass wir einen Auffahrtstag begehen und heute Gottesdienst feiern. Jesus wird den Blicken der Jünger entzogen. Er ist aufgefahren in den Himmel, wie es im apostolischen Glaubensbekenntnis heisst. In Treue zu dem, was sie mit Jesus erlebt und von ihm gelernt haben, stehen sie nun selber in der Verantwortung. Sie sind zurück gelassen und doch nicht verlassen. Denn auch hier gilt: der höchste Himmel kann dich nicht fassen. Jesus ist nicht mehr bei ihnen und doch mitten unter ihnen - da wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, weil er versprochen hat, alle Tage bei ihnen zu sein bis an der Welt Ende und weil er ihnen verheissen hat, dass sie die Kraft des heiligen Geistes empfangen werden. Selber verantwortlich für unser Leben, für diese Welt und doch nicht allein - diese Umschreibung trifft auch unsere Situation gut. Der, den der höchste Himmel nicht fassen kann, wie sollte der sich fassen lassen in unseren Religionen, Glaubenslehren oder Kirchengebäuden? Und wie sollte er uns nicht nahe sein in seiner überfliessenden Liebe und seiner Treue, auch wenn wir ihn nicht fassen können?
Im Tempelweihegebet des Salomo folgt auf die Einsicht in die Unfassbarkeit Gottes die Bitte: „Wende dich dem Gebet deines Dieners zu und seinem Flehen, HERR, mein Gott, und erhöre das Flehen und das Gebet, das dein Diener heute vor dir betet.“ Und den Jüngern sagt Jesus: „Ihr werdet die Kraft des heiligen Geistes empfangen und werdet meine Zeugen sein.“ Und als Jesus vor ihren Augen in den Himmel entschwunden war und sie immer noch wie gebannt in den Himmel starren, da weisen sie zwei Engel zurecht. Sie sollen nicht in den Himmel starren, sondern hier auf der Erde ihre Aufgabe erfüllen. Mit Gottes Hilfe. Amen.
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