Samstag, 24. November 2012

Predigt zu Jes 65,17-19.23-25 am Ewigkeitssonntag 25. November 2012

Liebe Gemeinde, ist das nicht ein wunderschöner Traum, eine grossartige Vision, die uns das Jesajabuch vor Augen führt. Ein neuer Himmel und eine neue Erde. Kein Leid, kein Schmerz, keine Tränen mehr. Niemand soll mehr vorzeitig sterben, kein Leben unter der Last der Sinnlosigkeit zerbrechen, kein Mensch sich vergeblich bemühen. Ein Leben in Fülle und in Gerechtigkeit, erfüllt von einem alles umfassenden Frieden. Ja, es ist ein wunderschöner Traum, eine grossartige Verheissung – aber manchem von uns mag es auf der Zunge liegen: „Ist das nicht zu schön, um wahr zu sein?“ Da blickt jemand nach vorn, voller Hoffnung und Zuversicht, dass Gott es gut mit seinem Volk meint und dass er ihm eine heilvolle und erfüllte Zukunft schenken wird. Und wir? Wohin blicken wir? Wir begehen heute den Toten- und Ewigkeitssonntag. Wir erinnern uns an unsere Verstorbenen. Unter uns sind Menschen, die im vergangenen Kirchenjahr von einem lieben Menschen Abschied nehmen mussten. Wir denken zurück an Menschen, die in hohem Alter gestorben sind, für die der Tod vielleicht auch eine Erlösung gewesen ist. Trotzdem fehlen sie uns, spüren wir, dass da etwas zu Ende gegangen ist - und das schmerzt. Wir denken aber auch zurück an Menschen, die uns viel zu früh oder auf tragische Weise entrissen wurden, an Abschiede, die uns ohnmächtig und hilflos machen. Da sind die Fragen nicht so leicht loszuwerden, warum denn Gott manchen Menschen so viel Leid und so viel Schweres zumuten muss. Und es ist nicht leicht, diese Fragen auszuhalten. Es ist nicht leicht zu akzeptieren, dass es wohl keine andere Antwort gibt als die, dass wir den langen und oft schmerzhaften Weg der Trauer gehen, der es uns möglich macht, das anzunehmen, was wir nicht ändern können. Und zu vertrauen, dass wir mit Gottes Hilfe und durch die Menschen, die uns tragen und begleiten, auf diesem Weg wieder frei werden für das Leben, das vor uns liegt. Und es Gott zu überlassen, dass er uns dereinst in hellem Licht zeigen wird, was wir nicht verstehen können. Aber der Weg kann lang und steinig sein und da helfen keine Patentrezepte, keine Vertröstungen und Verharmlosungen. Was hilft, ist allein, diesen Weg zu gehen und dabei zu achten auf die kleinen Hoffnungszeichen am Wegrand, auf die Menschen, die für uns da sind, auf die Spuren der heilsamen Gegenwart Gottes auf unserem Weg. Wohin blicken wir? – so habe ich vorhin gefragt. Und die erste Antwort am Toten- und Ewigkeitssonntag heisst: Wir blicken zurück. Wir gedenken des Vergangenen. Und ich bin überzeugt: Das ist auch gut so. Das Vergangene, unsere Verstorbenen, die gemeinsame Geschichte mit all ihren schönen und kostbaren Seiten, aber auch mit den Schmerzen und Missverständnissen – all das gehört zu uns und unserem Leben. Wir sind es unseren Verstorbenen schuldig, dass wir ihrer gedenken und sie in unseren Herzen wohnen lassen. Und unser Blick zurück soll aufrichtig und zugleich liebevoll sein. Aber – und das ist die entscheidende Botschaft unseres Textes: Der Blick zurück darf nicht das Einzige sein. Wir dürfen und brauchen uns von diesem Blick zurück nicht gefangen nehmen lassen. Wir leben und für uns steht noch etwas aus. Wir haben ein Leben, das wir in der Gegenwart und auf Zukunft hin leben dürfen. Die Zeit, in der unser Text geschrieben wurde, war eine schwierige Zeit. Nach der Eroberung und Zerstörung Jerusalems musste das Volk Israel 70 Jahre im Exil leben. Und als endlich die lang ersehnte Rückkehr in die Heimat Wirklichkeit wurde, fanden die Menschen sich wieder in einer Trümmerlandschaft, die nur wenig Verheissungsvolles an sich hatte. In diese entmutigende und trostlose Situation hinein redet unser Text. Er wendet sich an die, die nur noch die Trümmer ihres Lebens vor Augen haben und resigniert und mutlos darauf starren und einfach keine Kraft mehr haben, etwas anzupacken und von der Zukunft zu erwarten, sich auf etwas Neues einzulassen. Ihnen sagt er: Gott hat noch etwas mit uns vor. Er wendet sich an die, die meinen, früher sei alles besser gewesen es werde alles immer nur noch schlechter. Ihnen sagt er, dass sie dem vergangenen nicht nachtrauern und es nicht verklären, sondern sich umdrehen, nach vorne blicken sollen, weil da Gott auf uns zukommt. Mit seiner grossartigen Vision eines neuen Himmels und einer neuen Erde will unser Text diesen Menschen die Hoffnung und den Lebensmut zurückgeben, die sie verlassen hatten. Auch damals werden wohl viele gesagt haben: Das ist doch zu schön um wahr zu sein. Und sie haben sich gefragt: Wann soll denn das Wirklichkeit sein? Und haben sich vielleicht selbst die Antwort gegeben: wahrscheinlich nie? Auf ihre Weise haben sie sogar Recht. Denn was uns hier verheissen wird, das lässt sich nie einfach verwirklichen, das ist nicht die Beschreibung einer realen Zukunft im Massstab 1:1. Die biblischen Visionen und Verheissungen haben immer einen Überschuss, enthalten mehr als diese Welt uns zu geben vermag. Es kommt nicht darauf an, wann das alles Wirklichkeit sein wird, sondern ob wir uns überhaupt auf diese Vision, diese Verheissung einlassen. Ob wir uns bewegen lassen, nach vorne zu schauen und uns von Gott Hoffnung und Zuversicht schenken lassen. Die Kraft dieser Verheissung liegt darin, dass sie unsere Blickrichtung verändern und uns aufrütteln kann. Nur wer vom Leben noch etwas erwartet, wer sich vorstellen kann, dass es auch noch ganz anders, dass es heil werden könnte, wird befähigt, sein Leben in die Hand zu nehmen, Bruchstücke dieser heilvollen Zukunft in seinem Leben zu entdecken, in der Gegenwart und auf Zukunft hin zu leben. Es geht nicht darum, das Vergangene zu vergessen oder gar zu verdrängen. Ich möchte das, worum es in meinen Augen geht, mit einem Bild ausdrücken: Der entscheidende Unterschied ist der, ob wir wie gebannt auf das Vergangene blicken, sei es verklärend oder erschrocken, und dem, was kommt, den Rücken zukehren oder ob wir die Vergangenheit im Rücken haben und den Blick nach vorne gerichtet, weil wir vom Leben etwas erwarten. Wer so das Vergangene im Rücken hat, der weiss darum, dass es zu ihm gehört, mit allem Kostbaren und Schönen, aber auch mit den Schatten, die es wirft. Die Menschen, die wir verloren haben, sie gehören zu uns – als kostbarer Schatz und Kraftquelle, manchmal auch als bedrückende Last. Aber mit dieser Geschichte dürfen wir weitergehen. Wir dürfen sie ruhen lassen. Denn wir leben und uns gilt die Verheissung eines neuen Himmels und einer neuen Erde. Sie gilt uns bruchstückhaft schon in dieser Welt und in diesem Leben. Wer trauert, darf sich wieder dem Leben zuwenden, sich wieder freuen, Schönes erleben und geniessen. Ja, der darf sich auf neue Menschen und neue Beziehungen einlassen. Das ist kein Verrat an dem verstorbenen Menschen. Denn der Tod eines Menschen bedeutet auch, dass wir einander wieder frei geben. Wer sich dem Leben wieder zuwendet, der bewahrt gerade darin die Treue zu dem verstorbenen Menschen und die Treue zu Gott. „Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr euch weist“, wie es in einem schönen neueren Kirchenlied heisst. Die Verheissungen Gottes haben einen Überschuss, der sich nicht einfach realisieren lässt. Sie sind gewissermassen nicht ganz von dieser Welt. Aber gerade darin zeigen sie uns, dass wir als Gottes Geschöpfe nicht einfach dieser Welt gehören. Die Schrecken, die wir erleben, der Tod der uns trifft, die Trauer, die wir zu tragen haben – sie sind nicht alles, was über uns und unser Leben zu sagen ist. Als Christen glauben wir, dass Gott das letzte Wort über unser Leben hat und nicht der Tod. Als Christen glauben wir, dass wir auf einen neuen Himmel und eine neue Erde zugehen, bruchstückhaft jetzt schon in dieser Welt, aber vollkommen erst dann, wenn wir ganz bei Gott sind, in jener Welt, in der alles Leid und selbst der Tod überwunden ist. Dann wird man des Vergangenen nicht mehr gedenken, weil dann alles aufgehoben ist in Gottes heilvoller und ewiger Gegenwart. Darum dürfen wir schon heute den Blick nach vorne richten, hoffnungsvoll und zuversichtlich, weil der, der uns entgegenkommt, uns und diese Welt liebt und uns Zukunft und Hoffnung geben will. Amen.

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