Liebe Gemeinde
Herr, wir trau'n auf deine Güte,
die uns rettet wunderbar,
singen dir mit frommen Liede,
danken freudig immerdar.
So haben wir es gerade im 3. der geistlichen Lieder von Felix Mendelssohn Bartholdy gehört. In wunderbaren Worten und Tönen erklingen hier Gottvertrauen und Dankbarkeit. Sie erklingen als Antwort auf die Rettung und Bewahrung, die der oder die Betende erfahren hat.
Nun könnten wir natürlich sagen, dass es leicht ist, von Gottvertrauen und Dankbarkeit zu singen, wenn wir spüren, dass wir geführt und bewahrt worden sind. Dann, wenn unser Leben auf Kurs ist, wieder in geordneten Bahnen verläuft und wir etwas erreicht oder ein erstrebenswertes Ziel vor Augen haben.
Selbstverständlich ist es auch dann nicht. „Glück gehabt“ wäre ja auch eine Erklärung (und bestimmt nicht die seltenste). Oder wir könnten das gute Ende unserem Einsatz, unserer Beharrlichkeit, unserem Durchhaltevermögen zuschreiben. All dies braucht es, aber allein damit ist es oft nicht getan und die Kehrseite, wenn wir alles uns selber zuschreiben, ist die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit im Scheitern.
Herr, wir trau’n auf deine Güte, die uns rettet wunderbar. Können wir an diesem Vertrauen auch festhalten, wenn wir Schweres zu tragen haben und noch mitten drin stecken in der schwierigen und belastenden Situation? Dann, wenn eine Krankheit oder eine persönliche Krise unser Leben verdunkelt und ein gutes Ende, das Licht am Ende des Tunnels noch nicht in Sicht ist - oder wenn es sogar unerreichbar erscheint? Dankbar kann jeder sein, dem es in solchen Zeiten nicht an Gottvertrauen fehlt, der/ die sich auch dann geborgen und gehalten weiss. Aber das haben wir nicht in der Hand, das können wir nicht einfach machen.
Immer ist es ein Weg, der zu gehen ist und den wir nicht abkürzen können, so gerne wir das auch tun würden. Auch in den drei geistlichen Liedern und im 13. Psalm, den diese Lieder nachdichten, führt der Weg zuerst über die Erkenntnis, auf Hilfe angewiesen zu sein, dann über das verzweifelte Flehen und die Bitte um Erhörung. Und die ist noch weitund die Betende weiss noch nicht, wann und wie sie Wirklichkeit wird.
Wir müssen nicht immer stark sein und die Dinge im Griff haben. Aber was wir brauchen, das ist Achtsamkeit - Achtsamkeit dafür, wie es uns geht, für unsere Gefühle, auch die schwierigen und unangenehmen, und für das, was unser Herz bewegt. Und vielleicht können wir Hilfe und Halt erst dann finden, wenn wir bereit sind loszulassen und anzunehmen, dass wir Hilfe brauchen, Hilfe von Gott und von den Menschen. Ja, vielleicht gehört manchmal sogar das Eingeständnis dazu, dass es mit unserem Gottvertrauen gar nicht so weit her ist. Es könnte ja sein, dass es dann darauf ankommt, die Leere wahrzunehmen und darum zu bitten, dass Gott unsere Herzen aufs Neue fülle.
Die Psalmen beschreiben oft diesen Weg aus Not und Verzweiflung über das bittende Flehen hin zum Dank für die erfahrene Rettung und Bewahrung. Sie sind Lieder und Gebete und sie haben ihre Kraft nicht nur und nicht zuerst, wenn wir sie am guten Ende singen oder beten. Ihre Kraft liegt vor allem darin, dass sie uns in dunklen Zeiten das Vertrauen zurückgeben und stärken können, dass Gott an unserer Seite ist und uns nicht verlässt. Mitten im Dunkel verleihen sie uns Sprache. Sie verbinden uns mit anderen, die den Weg durch Enttäuschung, Leere, Schmerz oder Verzweiflung hindurch zu neuer Hoffnung und gestärktem Vertrauen gegangen sind.
Auf solchen Wegen kann unser Glaube erblühen, wenn wir erschütterbar und berührbar bleiben und zugleich offen für die Gegenwart Gottes, für die Zeichen der Hoffnung, die er uns schenkt, für die Menschen, die er uns an die Seite stellt. Dann ist unser Glaube nicht ein Standpunkt, den wir einnehmen und verteidigen, sondern eine lebendige Hoffnung.
Dann können wir hineinwachsen in diese Sorglosigkeit, die Jesus uns in der Bergpredigt ans Herz legt. “Sorget euch nicht!“ Planen, sorgen und kümmern gehören zu unserem Leben. Aber sie haben nicht das letzte Wort. Sie haben ihren von Gott bestimmten Ort und ihre Grenze. Sie sind Ausdruck der Verantwortung, die wir selber für unser Leben übernehmen dürfen und sollen. Aber sie finden ihre Grenze, wo wir das Leben selbst in unsere Hände nehmen und sichern wollen. All unsere Pläne und Vorhaben, all unser Sorgen und Kümmern, stehen unter dem Vorbehalt, dass das Leben, dass Gott andere Pläne mit uns hat. Und all unsere Sorgen sind aufgehoben bei dem, der für uns sorgt. Wie es in der Bach-Kantate heisst: „Was Gott tut, das ist wohlgetan.“
Und noch einmal: Auch dieser Satz „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ ist für sich allein nicht mehr als eine fromme Behauptung. Ja, er könnte für manche gar zynisch klingen. Jedenfalls ist es mir wichtig, dass es hier nicht um blinde Schicksalsergebenheit geht, sondern um eine Glaubensgewissheit, die wir immer nur durch Fragen und durch Zweifel hindurch suchen und erbitten können.
Beides gehört zusammen, wenn unser Glaube sich nicht in Fatalismus verkehren soll. Nur wer nicht zu allem Ja und Amen sagt, darf dann auch von Herzen singen: „Was Gott tut, das ist wohlgetan.“
Dietrich Bonhoeffer ist für mich ein Mensch, bei dem beides zusammenfindet, Widerstand und Ergebung (unter diesem treffenden Titel sind seine Gefängnisbriefe veröffentlicht worden). Er kannte die Fragen und Zweifel, warum er den Weg gehen musste, den er gegangen ist. Längst nicht immer - das bezeugen seine Briefe - war er so stark, wie er den anderen erschien. Aber immer wieder neu hat er sein Geschick in Gottes Hand gelegt. Und sein Glaube war vor allem keine Schicksalsergebenheit. Sein Glaube führte ihn in den Widerstand gegen das Unrecht seiner Zeit.
Beides gehört zusammen - Widerstand und Ergebung. Nur so können wir Salz der Erde und Licht der Welt sein. Als Menschen, die ihr Leben in Gottes Hand legen und die zugleich bereit sind, ihren Mund aufzutun für die Stummen, für Gerechtigkeit einzutreten, für die, die am Rande der Gesellschaft stehen, für Flüchtlinge, für die, die an den Rand gedrängt werden, weil sie nicht leistungsfähig und effizient genug sind und denen Lebenschancen verbaut werden. Salz der Erde und Licht der Welt können wir sein, wenn wir uns Zeit nehmen für die Einsamen, die Kranken, die Gebeugten und Sorgenvollen. Bonhoeffer hat einmal gesagt, dass Kirche immer Kirche für die Anderen sein müsse. Eine Kirche, die nicht für andere da ist und den Menschen dient, dient zu nichts.
Auch der neue Papst Franziskus hat seit seiner Wahl mehrfach daran erinnert und dazu aufgefordert, dass die Kirche - und das gilt auch für uns Reformierte und Methodisten - demütig für die Menschen dasein müsse. Bei seiner Wahl hat er vor dem päpstlichen Segen darum gebeten, die Menschen möchten für ihn beten. Er hat Häftlingen die Füsse gewaschen, darunter auch Frauen und Nichtchristen.
Salz der Erde und Licht der Welt sind wir, wenn wir beharrlich, demütig und glaubwürdig eintreten für eine menschlichere Welt und dann - aber erst dann - alles in Gottes Hand legen, weil es mit unserer Macht und Kraft nicht getan ist - weder im Blick auf unser eigenes Leben noch im Blick auf die Welt in nah und fern.
Dann bleibt uns am Ende das tiefe Vertrauen: „Was Gott tut, das ist wohlgetan.“ Amen.
Sonntag, 21. April 2013
Samstag, 12. Januar 2013
Predigt zu Johannes 1,29-34 am 1. Sonntag nach Epiphanias 13. Januar 2013
Liebe Gemeinde,
gerade erst haben wir Weihnachten gefeiert. Der Tannenbaum ist bei den meisten abgeräumt, aber die Krippe in unserer Kirche steht noch. Und doch weist uns unser heutiger Predigttext schon voraus auf die bevorstehende Passionszeit und den Karfreitag. „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt.“ sagt Johannes der Täufer von Jesus. Die Epiphaniaszeit gehört im Kirchenjahr zum Weihnachtsfestkreis und ist doch schon so etwas wie die Brücke zwischen Weihnachten und der Passionszeit.
Das Joh beginnt nicht mit einer erzählten Weihnachtsgeschichte, sondern mit den berühmten Abschnitt über das Wort, das im Anfang bei Gott und das von Gottes Wesen war und Fleisch geworden ist - mitten unter uns. Und dann kommt das Zeugnis des Täufers, der von sich selber wegweist und auf Jesus hinweist. In diesem Hinweisen auf den, der nach ihm kommt und doch schon vor ihm da war, sieht das Johannesevangelium den ganzen Auftrag des Täufers. Auf die Frage, wer er sei, wehrt Johannes der Täufer im Abschnitt vor dem Predigttext alle Zuschreibungen ab - nicht mehr als die Stimme eines Rufers in der Wüste sei er, der den Weg des Herrn bereiten soll. Gerade darin, dass er von sich selber absieht, erfüllt er seinen göttlichen Auftrag, ist er von Gottes Geist erfüllt. Das Johannesevangelium verzichtet auf alle Beschreibungen des Täufers, erzählt nicht wie die anderen Evangelien von seiner wilden Gestalt, seinem Mantel aus Kamelhaaren, seiner Nahrung aus Heuschrecken und wildem Honig. Es berichtet nicht einmal von seiner Umkehrpredigt und kein Wort hören wir davon, dass er Jesus getauft hat. Und im folgenden Abschnitt sind es zwei Täuferjünger, die zu den ersten Jüngern Jesu werden.
Schon im berühmten Prolog des Joh heisst es vom Täufer: „Es trat ein Mensch auf, von Gott gesandt, sein Name war Johannes. Dieser kam zum Zeugnis, um Zeugnis abzulegen von dem Licht, damit alle durch ihn zum Glauben kämen. Nicht er war das Licht, sondern Zeugnis sollte er ablegen von dem Licht.“ Mit seiner gesamten Existenz wird er zum Zeugen und stellt sich ganz in den Dienst des anderen, des Grösseren. Wenn das Joh so betont festhält, dass er nicht selbst das Licht war, können wir erahnen, wie bedeutsam die Täuferbewegung damals gewesen ist.
Darin liegt die Kraft der Botschaft des Joh, dass in ihm Jesus ganz im Zentrum steht. Natürlich steht er auch in den anderen Evangelien im Zentrum, aber nur das Joh beginnt mit einem Prolog über das fleischgewordene Wort Gottes, betont die Unabhängigkeit Jesu vom Täufer und gliedert sein Evangelium geradezu durch die Ich-bin-Worte. Die Gefahr des Joh möchte ich aber auch nicht verschweigen. In ihm erscheint die Geschichte Jesu manchmal wie „nicht ganz von dieser Welt“, sein Menschsein eher wie ein Gewand. Dieses Evangelium denkt stark in Gegensätzen von Licht und Finsternis und der exklusive Anspruch der Ich-bin-Worte verführt dazu, zu sehr in den Kategorien „Wahr und Falsch“ zu denken und andere Glaubensweisen und andere Religionen nicht wahr- und ernstzunehmen, sondern sie als Irrwege abzutun. Diese Gefahr müssen wir in unserer zunehmend interreligiösen Welt beachten.
Wenn ich überlege, worin für mich die tiefe Überzeugungskraft des christlichen Glaubens besteht, dann könnte ich vieles benennen: die ethischen Werte und Überzeugungen, die in der Bibel wurzeln, die Entdeckung, dass Gott mit den Menschen mitgeht, an ihrem Leben Anteil nimmt, die Botschaft von der Versöhnung, die Sicht der Welt als einer guten Schöpfung und viele andere Dinge. Aber zu den ganz wichtigen Dingen gehören für mich zweifellos die Anfänge der Evangelien. Und so sehr ich vorhin die Besonderheit des Joh betont habe, so sehr zeigt sich hier auch etwas Verbindendes, Gemeinsames: Dass Gott in menschlicher Gestalt sich uns an die Seite stellt und unser Geschick teilt, dass diese Geschichte beginnt bei Lukas mit der Geburt eines schutzbedürftigen und verletzlichen Kindes in der Armut eines Stalles und bei Johannes mit diesem Hinweis auf das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt. Ein verletzliches Kind, ein Lamm, das sich hingibt und auf sein Leben verzichtet, damit die Vielen Leben finden und das vorausweist auf den Mann am Kreuz, der den Menschen in die Hände gefallen ist und an dem Gott seine Lebensmacht erweist. Das stellt unsere Grössenphantasien, unsere eingebildeten Gottesvorstellungen vom Kopf auf die Füsse. Hier auf dem Boden, wo Menschen ihr Leben zu bewältigen haben, da ist Gott zu finden. Er ist an der Seite derer, die Opfer zu bringen haben und mit ihrer Unvollkommenheit leben müssen. Er ist uns nahe, wenn wir schuldig werden und Vergebung brauchen, wenn wir streiten und der Versöhnung bedürfen. Wo Menschen weh getan wird und sie zu Opfern gemacht werden, wo Menschen leiden und um Erlösung flehen, da ist Gott zu finden oder er ist nur ein eingebildeter Götze, eine Projektion unserer Allmachtsphantasien. Das Kleine, das Verletzliche ist der Ort, wo Gott uns begegnet. Unsere alltäglichen Sorgen, unsere kleinen Freuden, unsere Bedürftigkeit nach Liebe, nach Vergebung, nach Versöhnung, nach dem Gefühl wertvoll zu sein und gebraucht zu werden, in alledem will Gott bei uns sein, will er sich uns zeigen.
Und dann kommt in unserem Predigttext noch etwas ganz Wichtiges hinzu, nämlich das Vorbild Johannes des Täufers, der von sich selber weg weist und hinweist auf Jesus. Ich denke, dass es im Glauben ganz entscheidend auf diese Fähigkeit ankommt, dass wir von uns selber absehen können und hinsehen auf Jesus, den Anfänger und Vollender unseres Glaubens. Es kommt nicht alles auf uns selber an und es liegt nicht alles in unserer Hand – im Guten wie im Bösen. Diese Einsicht und Erkenntnis kann uns grosszügiger machen mit uns selber und mit anderen, sie kann uns bescheidener werden lassen und vor allem auch lernfähiger und offener. Wer von sich wegsehen kann, der wird auch neue Wege und Möglichkeiten entdecken, der bleibt nicht gefangen in seinen eigenen Vorstellungen und Gedanken. Wenn wir uns von Johannes dem Täufer zum Hinsehen auf Jesus einladen lassen, dann kann uns das davor bewahren, uns zu wichtig zu nehmen und zugleich kann es uns davor bewahren uns als unwichtig anzusehen. Denn wer auf diesen Jesus schaut, der wird angesehen und erfährt, dass er in seinen Augen wichtig und wertvoll ist. Und der Wert und die Wichtigkeit, die jedes einzelne von uns in Jesu Augen besitzt, die haben eine ganz andere befreiende Kraft, als der Wert und die Wichtigkeit, die wir anderen und uns selbst immer erst aus eigener Kraft beweisen müssen. Hinsehen auf Jesus entlastet und befreit. Johannes der Täufer bezeugt: auf diesem Jesus ruht Gottes Geist. Und er kann uns diesen Geist schenken.
Was aber bedeutet und bewirkt dieses Hinsehen auf Jesus in unserem ganz alltäglichen Leben? Martin Niemöller, einer der führenden Pfarrer der Bekennenden Kirche, die im Widerstand gegen Hitler tätig war, hat einmal einen Aufsatz überschrieben mit der Frage: „Was würde Jesus heute dazu sagen?“ Diese Frage war für ihn so etwas wie ein Leitmotiv, ein Schlüssel zu verantwortlichem christlichem Handeln. Manchem mag diese Frage allzu fromm in den Ohren klingen, andere werden sie vielleicht für viel zu naiv halten. Aber damit machen wir es uns zu einfach. Denn es geht ja nicht darum, dass es auf alles eine einfache Antwort geben würde oder dass wir mit wörtlichen Bibel- oder Jesuszitaten die Fragen unserer Zeit beantworten könnten. So einfach geht es in der Tat nicht. Was Niemöller meinte und worauf es mir ankommt ist dies, dass wir uns in unseren Haltungen und Handlungen vom Geist Jesu leiten lassen sollten. Das nimmt uns nicht ab, eine eigene Position, eine eigene Haltung zu entwickeln, für die wir dann in eigener Verantwortung auch einzutreten haben und es enthebt uns auch nicht der Vielfalt von möglichen christlichen Haltungen, die manchmal gar nicht leicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Unsere Antworten bleiben menschliche Antworten. Aber ich denke doch, dass diese Frage - Was würde Jesus heute dazu sagen? - uns eine wertvolle Orientierungshilfe sein kann.
Was würde Jesus sagen zu den Prioritäten, die wir setzen? Woran hätte er wohl Freude und was würde ihn traurig machen? Für wen würde er sich einsetzen und wem würde er widersprechen? Was würde Jesus dazu sagen, wenn er unsere kirchlichen Aktivitäten und Strukturen, unsere Budgets und Verlautbarungen kommentieren müsste? Wie würde er wohl die grossen politischen Fragen unserer Zeit betrachten? Um nur ein Beispiel zu nennen: Zusammen mit den Gewerkschaften haben sich Kirchenvertreter, u.a. der Einsiedler Abt Martin Werlen, in der vergangenen Woche gegen die Liberalisierung der Öffnungszeiten von Tankstellenshops ausgesprochen, weil sie einen generellen Dammbruch bei den Ladenöffnungszeiten befürchten und für den Schutz des Sonntags und der betroffenen Angestellten eintreten. Man kann in dieser Frage sicher auch anderer Meinung sein, aber es macht mich betroffen, wie viel Häme und Spott diesem Anliegen teilweise entgegenschlug und wie den Kirchen das Recht zur Einmischung in dieser Frage schlichtweg abgesprochen wurde. Es gibt in dieser und vielen anderen Fragen nicht die einzig richtige Antwort. Aber ich denke, dass die Frage, was Jesus wohl dazu sagen würde, in manchen Dingen den Blick verändern und zu weiseren Entscheidungen führen könnte.
Man kann diese Frage auch als Richtschwert benutzen, um zu demonstrieren, wie schlecht doch die anderen, die Politiker, die Wirtschaftsführer, die Kirchenoberen, die Pfarrer, usw. handeln. Das wäre dann genau das Gegenteil dessen, was ich mit dieser Frage im Geiste Jesu meine. Es geht nicht um ein Verurteilen, für das wir Jesus einspannen könnten, sondern darum, dass wir den Geist Jesu einfliessen lassen in unsere Urteile und unser Handeln. Es gibt wohl manche Bereiche, in denen diese Frage uns unsicher machen kann, ob wir wirklich auf dem richtigen Weg sind. Dann lohnt es sich, diese Unsicherheit nicht schnell beiseite zu schieben, sondern innezuhalten und noch einmal neu nachzudenken, ob es nicht andere Wege gibt, die dem Geist Jesu besser entsprechen.
Aber die Frage „Was würde Jesus heute dazu sagen?“ kann uns nicht nur bei ethischen Entscheidungen helfen. Sie kann uns auch neue Kraft geben, wenn wir in einer schwierigen Situation sind, wenn äussere oder innere Not, Krankheit oder Tod uns aus der Bahn werfen, wenn das Dunkel der Depression, das Gefühl der Ohnmacht und Verzweiflung sich unserer Seele bemächtigen, wenn Schuld auf uns lastet oder wenn wir uns verletzt und erniedrigt fühlen. Dann, so glaube ich, kann es uns schon viel helfen, wenn wir uns nicht völlig gefangen nehmen lassen von der Situation, die uns bedrückt, sondern dieses „Seht“ unseres Predigttextes wahrnehmen und einen Moment von uns absehen können. Und nichts anders bedeutet es ja, die Frage zu stellen, was Jesus dazu sagen würde. Wenn unser eigenes Fragen und Grübeln uns nur immer tiefer hinabzieht, dann kann es not-wendig, not-wendend sein, den Blick auf den zu richten, von dem der Täufer sagt: „Seht, das Lamm Gottes.“ Dann kann der Blick auf diesen verletzlichen Menschen, auf dem der Geist Gottes ruht, helfen - sei es als fragender oder hilfesuchender Blick oder sogar nur als stummer Vorwurf: Warum?
Er würde wohl sagen: Ich bin bei dir. Ich kenne, was dich belastet. Ich helfe dir, deine Last zu tragen. Er würde uns wohl ermutigen, auf die kleinen Zeichen der Hoffnung zu achten, die sich uns zeigen, würde uns helfen zu Geduld und uns aufmerksam machen auf die Menschen, die für uns da sind. Er würde uns darauf aufmerksam machen, dass Schuld vergeben werden kann und Verletzungen wieder heilen. Die Kraft, die wir brauchen, finden wir nicht immer in uns selbst. Da ist es gut, dass wir einen Gott haben, der nicht hoch oben im Himmel thront und Gesetze erlässt, über deren Befolgung er wacht, sondern einen Gott, der an unserer Seite ist, der uns tragen hilft, der vergibt und aufrichtet. Wir sind frei, unsere eigenen Wege zu gehen, aber ich bin überzeugt, dass es gut für uns ist, wenn wir auf Johannes den Täufer hören, der uns sagt: „Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt.“ Es gibt uns Orientierung für unser Leben, wenn wir immer wieder fragen, was Jesus wohl dazu sagen würde. Und es befreit und macht Mut, wenn wir vertrauen können, dass da einer ist der uns niemals alleine lässt. Amen.
Dienstag, 1. Januar 2013
Predigt zur Jahreslosung Hebr 13,14 im Neujahrsgottesdienst vom 1. Januar 2013
Liebe Gemeinde
„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Dieser kurze Vers aus dem Hebräerbrief ist die Jahreslosung für das Jahr 2013. Sie will uns an der Schwelle dieses neuen Jahres und durch das Jahr hindurch begleiten. In diesen Worten kommt eine christliche Lebenshaltung zum Ausdruck, die nicht bereit ist, in dem was ist, schon das Ganze zu sehen, weder stolz und selbstgerecht im Sinne eines: „Jetzt habe ich es geschafft, jetzt bin ich am Ziel“ noch resigniert in der Überzeugung, dass eh alles so bleiben wird und sich nichts mehr ändert.
Die Jahreslosung beginnt mit einer Negation: „Wir haben hier keine bleibende Stadt.“ Unser Glaube ist verbunden mit einer existentiellen Heimatlosigkeit in dieser Welt. Etwas zugespitzt gesagt: Die Klage über den Verlust von Heimat, über die verlorenen früheren Zeiten, das Jammern, dass früher alles - oder doch vieles - besser war, ist unserem christlichen Glauben zutiefst fremd. Und ich spitze diese Feststellung gerne noch einmal zu - auch wenn ich sie später relativieren muss: Unser christlicher Glaube ist im Verständnis des Hebräerbriefs in seinem Wesen zukunftsorientiert, progressiv und weit weg von einem konservativen Bewahren des Vergangenen oder des Bestehenden. Christlicher Glaube bejaht und begrüsst den Wandel und klammert sich nicht an das Bestehende.
Aber - so werden sie denken - es ist doch nicht jeder Wandel gut und als christliche Kirchen geht es uns doch um die Wahrung und Weitergabe der christlichen Tradition. Und haben nicht doch früher mehr Menschen die Gottesdienste besucht und nach dem Glauben gefragt? Ich gebe ihnen gerne recht. Es gibt keinen vernünftigen Grund, Wandel um des Wandels willen zu begrüssen und um jeden Preis Veränderung anzustreben. Wir wissen heute nur zu gut, besonders aus der Wirtschaft, wozu es führen kann, wenn ständiger Wandel propagiert wird und eine Strukturreform die andere jagt. Menschen wollen zu Recht begreifen, wozu der Wandel dient und sie wollen mitgenommen werden und mitgestalten können und nicht einfach dem scheinbar Alternativlosen ausgeliefert sein. Aber dort wo wir mitgenommen werden und mitgestalten können, braucht es auch unsere Offenheit und Bereitschaft, die Chancen des Wandels zu erkennen und uns nicht ans Alte zu klammern.
Und auch in unseren Kirchen müssen wir uns fragen, ob tatsächlich die Verlusterfahrungen darin ihren Grund haben, dass wir nicht entschieden genug am Vergangenen festgehalten haben - oder ob wir eher zu lange die alten Antworten gegeben haben, die zu den neuen Sorgen und Fragen der Menschen nicht mehr passen, die zu wenig ernst nehmen, dass Menschen heute ihre eigenen Antworten suchen wollen und nicht mehr einfach die tradtionellen übernehmen.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt.“ Unser Glaube ist verbunden mit einer existentiellen Heimatlosigkeit in dieser Welt. Das ist die Negation. Aber diese existentielle Heimatlosigkeit ist verbunden mit einer existentiellen Gewissheit. Ich möchte sie beschreiben mit den wunderbaren Worten aus dem Römerbrief: „Denn ich bin mir gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes noch irgendein anderes Geschöpf vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Röm 8,38f). Diese existentielle Gewissheit trägt uns im Wandel unserer Zeiten. Sie gibt uns die Kraft, Vergangenes loszulassen, uns einzulassen auf das Neue und es mitzugestalten, im Wissen darum, dass auch das Neue immer nur vorläufige Antwort und Durchgangsstation sein kann.
Wie sieht das zuende gegangene Jahr aus, wenn wir es in diesem Licht betrachten? Wie sieht es aus, wenn wir unser persönliches Leben und unser Umfeld in den Blick nehmen und wie, wenn wir auf die schweizerischen und weltweiten Entwicklungen und Geschehnisse schauen? Licht und Schatten, Glücksmomente und Enttäuschungen, positive Nachrichten und Schreckensmeldungen werden uns in den Sinn kommen - und vielleicht werden wir in manchem bei denselben Ereignissen zu verschiedenen Deutungen kommen. Und doch gibt es vermutlich bei jedem von uns so etwas wie ein Grundgefühl - es war ein gutes Jahr oder es war ein schwieriges Jahr. Wir sollten dieses Grundgefühl ernstnehmen und es nicht allzu schnell relativieren.
Wenn es ein gutes Jahr war, dann haben wir allen Grund, uns daran zu freuen und dafür dankbar zu sein. Auch ein gutes Jahr können wir nicht einfach festhalten. Wir müssen es zurücklassen und Abschied nehmen. Aber wenn wir es dankbar wahrnehmen und annehmen, kann es uns zu einer Kraftquelle werden, die uns auch in schwierigeren Zeiten trägt. Die Fähigkeit zur Dankbarkeit ist einer der kostbarsten Schätze und eine der grössten Kraftquellen in unserem Leben.
Doch auch wenn es ein schwieriges Jahr war, können und sollen wir zu diesem Grundgefühl stehen. Es ist nicht notwendig, dass wir den schwierigen Erfahrungen gleich wieder die guten entgegensetzen, die es doch zweifellos auch gegeben hat oder die anderen Schicksale, die noch schwerer sind. Denn dann würden wir unsere innere Unruhe und unsere Sehnsucht nach Veränderung nicht ernst nehmen und verkennen, wieviel Zeit es braucht, um schwierige Erfahrungen und Verletzungen, Enttäuschungen und eigene Fehler zu heilen, zu verändern und Neues daraus hervorwachsen zu lassen oder auch sie ruhen zu lassen und anzunehmen. Nur eines sollten wir niemals sagen: dass es ein Jahr zum Vergessen war. Denn es war und bleibt ein Jahr unseres Lebens, ein Teil dessen, was wir sind und oft sind es gerade die schwierigen und schmerzlichen Jahre, aus denen etwas Neues und Kostbares hervorwachsen kann, so wie Perlen nur dort entstehen wo es auch Verletzungen gibt. Wir können und wir müssen das nicht jetzt schon sehen oder einander davon überzeugen. Aber wir dürfen hoffen, dass wir das in der zukünftigen Stadt erkennen dürfen, dass Schmerz sich in Segen verwandelt und Schwieriges der Beginn neuen Lebens sein kann.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Die Worte der Jahreslosung weisen uns auf ein Ziel hin, das jenseits dieser Welt und dieses Lebens liegt. Aber sie sind keine Vertröstung auf das Jenseits. Und die zukünftige Stadt ist auch keine Glaubenswahrheit, auf die wir einfach zurückgreifen, keine Position, die wir einnehmen könnten. Suchen ist in unserer Jahreslosung das entscheidende Wort.
Als Suchende sind wir unterwegs - nicht als die, die schon gefunden haben. Aber als Suchende sind wir getragen von einer Verheissung, von dem Versprechen Gottes, dass bei ihm nichts und niemand verloren ist und in der zukünftigen Stadt alles Leid und alle Tränen abgewischt sein werden und sogar der Tod nicht mehr sein wird. Wir haben das Versprechen, dass all die Bruchstücke unseres Lebens, die für uns vielleicht noch keinen Sinn ergeben, von Gott heil und ganz gemacht werden. Wir sind getragen von dem Suchen und den Antwortversuchen derer, die vor uns gesucht, geglaubt und gehofft haben. Ihnen schulden wir Dank, denn wenn wir nicht mehr wissen, woher wir kommen und was andere vor uns bewegt hat, werden wir in unserem Suchen orientierungslos. Und unser Suchen leitet sich ab aus unsern eigenen Erfahrungen und aus der Achtsamkeit für die Erfahrungen der Menschen um uns.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Der Hebräerbrief weist uns auch die Richtung für unser Suchen. Draussen vor dem Tor sollen wir die zukünftige Stadt suchen, jenseits des Gewohnten und Vertrauten, bei denen die Zuwendung nötig haben, bei denen, die unsere Zeit und unsere Hilfe brauchen, bei denen, die am Rande stehen, dort wo Jesus sein Kreuz getragen hat und wo Menschen heute ihr Kreuz tragen
In einem Zeitungsartikel hat in diesen Tagen eine Journalistin über „die falsche Rückkehr zur Religion“ geschrieben. Vieles daran hat mich zum Widerspruch gereizt. Aber einem Satz kann ich nur zustimmen: „Was derzeit fehlt, ist ein Plädoyer für den Zweifler und den Suchenden. Der Zweifler, der Suchende bleibt menschlich.“ Nur dass ich bezweifle, dass der Agnostiker der einzige Zweifler und Suchende ist, wie die Autorin suggeriert. Als Zweifelnde und Suchende sind wir als Christinnen und Christen unterwegs, die sich an der Botschaft Jesu und an der Botschaft unserer Jahreslosung orientieren. Wir zweifeln an allen irdischen Heilsversprechen, aber auch an vermeintlich ewigen Glaubenswahrheiten. Wir suchen Antwort auf unsere Fragen und nach Sinn. Und wir werden in unserem Suchen getragen von der Zusage, dass unser Suchen ein Ziel hat und von einer existentiellen Gewissheit.
Suchende sind wir. „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Aber als Suchende trägt uns die existentielle Gewissheit: „Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes noch irgendein anderes Geschöpf vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ Daraus dürfen wir Kraft und Zuversicht schöpfen - auch in diesem neuen Jahr. Amen.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Dieser kurze Vers aus dem Hebräerbrief ist die Jahreslosung für das Jahr 2013. Sie will uns an der Schwelle dieses neuen Jahres und durch das Jahr hindurch begleiten. In diesen Worten kommt eine christliche Lebenshaltung zum Ausdruck, die nicht bereit ist, in dem was ist, schon das Ganze zu sehen, weder stolz und selbstgerecht im Sinne eines: „Jetzt habe ich es geschafft, jetzt bin ich am Ziel“ noch resigniert in der Überzeugung, dass eh alles so bleiben wird und sich nichts mehr ändert.
Die Jahreslosung beginnt mit einer Negation: „Wir haben hier keine bleibende Stadt.“ Unser Glaube ist verbunden mit einer existentiellen Heimatlosigkeit in dieser Welt. Etwas zugespitzt gesagt: Die Klage über den Verlust von Heimat, über die verlorenen früheren Zeiten, das Jammern, dass früher alles - oder doch vieles - besser war, ist unserem christlichen Glauben zutiefst fremd. Und ich spitze diese Feststellung gerne noch einmal zu - auch wenn ich sie später relativieren muss: Unser christlicher Glaube ist im Verständnis des Hebräerbriefs in seinem Wesen zukunftsorientiert, progressiv und weit weg von einem konservativen Bewahren des Vergangenen oder des Bestehenden. Christlicher Glaube bejaht und begrüsst den Wandel und klammert sich nicht an das Bestehende.
Aber - so werden sie denken - es ist doch nicht jeder Wandel gut und als christliche Kirchen geht es uns doch um die Wahrung und Weitergabe der christlichen Tradition. Und haben nicht doch früher mehr Menschen die Gottesdienste besucht und nach dem Glauben gefragt? Ich gebe ihnen gerne recht. Es gibt keinen vernünftigen Grund, Wandel um des Wandels willen zu begrüssen und um jeden Preis Veränderung anzustreben. Wir wissen heute nur zu gut, besonders aus der Wirtschaft, wozu es führen kann, wenn ständiger Wandel propagiert wird und eine Strukturreform die andere jagt. Menschen wollen zu Recht begreifen, wozu der Wandel dient und sie wollen mitgenommen werden und mitgestalten können und nicht einfach dem scheinbar Alternativlosen ausgeliefert sein. Aber dort wo wir mitgenommen werden und mitgestalten können, braucht es auch unsere Offenheit und Bereitschaft, die Chancen des Wandels zu erkennen und uns nicht ans Alte zu klammern.
Und auch in unseren Kirchen müssen wir uns fragen, ob tatsächlich die Verlusterfahrungen darin ihren Grund haben, dass wir nicht entschieden genug am Vergangenen festgehalten haben - oder ob wir eher zu lange die alten Antworten gegeben haben, die zu den neuen Sorgen und Fragen der Menschen nicht mehr passen, die zu wenig ernst nehmen, dass Menschen heute ihre eigenen Antworten suchen wollen und nicht mehr einfach die tradtionellen übernehmen.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt.“ Unser Glaube ist verbunden mit einer existentiellen Heimatlosigkeit in dieser Welt. Das ist die Negation. Aber diese existentielle Heimatlosigkeit ist verbunden mit einer existentiellen Gewissheit. Ich möchte sie beschreiben mit den wunderbaren Worten aus dem Römerbrief: „Denn ich bin mir gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes noch irgendein anderes Geschöpf vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Röm 8,38f). Diese existentielle Gewissheit trägt uns im Wandel unserer Zeiten. Sie gibt uns die Kraft, Vergangenes loszulassen, uns einzulassen auf das Neue und es mitzugestalten, im Wissen darum, dass auch das Neue immer nur vorläufige Antwort und Durchgangsstation sein kann.
Wie sieht das zuende gegangene Jahr aus, wenn wir es in diesem Licht betrachten? Wie sieht es aus, wenn wir unser persönliches Leben und unser Umfeld in den Blick nehmen und wie, wenn wir auf die schweizerischen und weltweiten Entwicklungen und Geschehnisse schauen? Licht und Schatten, Glücksmomente und Enttäuschungen, positive Nachrichten und Schreckensmeldungen werden uns in den Sinn kommen - und vielleicht werden wir in manchem bei denselben Ereignissen zu verschiedenen Deutungen kommen. Und doch gibt es vermutlich bei jedem von uns so etwas wie ein Grundgefühl - es war ein gutes Jahr oder es war ein schwieriges Jahr. Wir sollten dieses Grundgefühl ernstnehmen und es nicht allzu schnell relativieren.
Wenn es ein gutes Jahr war, dann haben wir allen Grund, uns daran zu freuen und dafür dankbar zu sein. Auch ein gutes Jahr können wir nicht einfach festhalten. Wir müssen es zurücklassen und Abschied nehmen. Aber wenn wir es dankbar wahrnehmen und annehmen, kann es uns zu einer Kraftquelle werden, die uns auch in schwierigeren Zeiten trägt. Die Fähigkeit zur Dankbarkeit ist einer der kostbarsten Schätze und eine der grössten Kraftquellen in unserem Leben.
Doch auch wenn es ein schwieriges Jahr war, können und sollen wir zu diesem Grundgefühl stehen. Es ist nicht notwendig, dass wir den schwierigen Erfahrungen gleich wieder die guten entgegensetzen, die es doch zweifellos auch gegeben hat oder die anderen Schicksale, die noch schwerer sind. Denn dann würden wir unsere innere Unruhe und unsere Sehnsucht nach Veränderung nicht ernst nehmen und verkennen, wieviel Zeit es braucht, um schwierige Erfahrungen und Verletzungen, Enttäuschungen und eigene Fehler zu heilen, zu verändern und Neues daraus hervorwachsen zu lassen oder auch sie ruhen zu lassen und anzunehmen. Nur eines sollten wir niemals sagen: dass es ein Jahr zum Vergessen war. Denn es war und bleibt ein Jahr unseres Lebens, ein Teil dessen, was wir sind und oft sind es gerade die schwierigen und schmerzlichen Jahre, aus denen etwas Neues und Kostbares hervorwachsen kann, so wie Perlen nur dort entstehen wo es auch Verletzungen gibt. Wir können und wir müssen das nicht jetzt schon sehen oder einander davon überzeugen. Aber wir dürfen hoffen, dass wir das in der zukünftigen Stadt erkennen dürfen, dass Schmerz sich in Segen verwandelt und Schwieriges der Beginn neuen Lebens sein kann.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Die Worte der Jahreslosung weisen uns auf ein Ziel hin, das jenseits dieser Welt und dieses Lebens liegt. Aber sie sind keine Vertröstung auf das Jenseits. Und die zukünftige Stadt ist auch keine Glaubenswahrheit, auf die wir einfach zurückgreifen, keine Position, die wir einnehmen könnten. Suchen ist in unserer Jahreslosung das entscheidende Wort.
Als Suchende sind wir unterwegs - nicht als die, die schon gefunden haben. Aber als Suchende sind wir getragen von einer Verheissung, von dem Versprechen Gottes, dass bei ihm nichts und niemand verloren ist und in der zukünftigen Stadt alles Leid und alle Tränen abgewischt sein werden und sogar der Tod nicht mehr sein wird. Wir haben das Versprechen, dass all die Bruchstücke unseres Lebens, die für uns vielleicht noch keinen Sinn ergeben, von Gott heil und ganz gemacht werden. Wir sind getragen von dem Suchen und den Antwortversuchen derer, die vor uns gesucht, geglaubt und gehofft haben. Ihnen schulden wir Dank, denn wenn wir nicht mehr wissen, woher wir kommen und was andere vor uns bewegt hat, werden wir in unserem Suchen orientierungslos. Und unser Suchen leitet sich ab aus unsern eigenen Erfahrungen und aus der Achtsamkeit für die Erfahrungen der Menschen um uns.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Der Hebräerbrief weist uns auch die Richtung für unser Suchen. Draussen vor dem Tor sollen wir die zukünftige Stadt suchen, jenseits des Gewohnten und Vertrauten, bei denen die Zuwendung nötig haben, bei denen, die unsere Zeit und unsere Hilfe brauchen, bei denen, die am Rande stehen, dort wo Jesus sein Kreuz getragen hat und wo Menschen heute ihr Kreuz tragen
In einem Zeitungsartikel hat in diesen Tagen eine Journalistin über „die falsche Rückkehr zur Religion“ geschrieben. Vieles daran hat mich zum Widerspruch gereizt. Aber einem Satz kann ich nur zustimmen: „Was derzeit fehlt, ist ein Plädoyer für den Zweifler und den Suchenden. Der Zweifler, der Suchende bleibt menschlich.“ Nur dass ich bezweifle, dass der Agnostiker der einzige Zweifler und Suchende ist, wie die Autorin suggeriert. Als Zweifelnde und Suchende sind wir als Christinnen und Christen unterwegs, die sich an der Botschaft Jesu und an der Botschaft unserer Jahreslosung orientieren. Wir zweifeln an allen irdischen Heilsversprechen, aber auch an vermeintlich ewigen Glaubenswahrheiten. Wir suchen Antwort auf unsere Fragen und nach Sinn. Und wir werden in unserem Suchen getragen von der Zusage, dass unser Suchen ein Ziel hat und von einer existentiellen Gewissheit.
Suchende sind wir. „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Aber als Suchende trägt uns die existentielle Gewissheit: „Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes noch irgendein anderes Geschöpf vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ Daraus dürfen wir Kraft und Zuversicht schöpfen - auch in diesem neuen Jahr. Amen.
Montag, 24. Dezember 2012
Predigt zur Christnachtfeier am 24. Dezember 2012
Liebe Gemeinde,
„Weihnachten ist das Fest der Liebe und des Friedens“, meinte einmal eine Konfirmandin beim Anblick von Kerze, Tannenzweig, Nüssli und Weihnachtsgüetzi im Unterrichtszimmer. Sie sagte es in einem speziellen Ton, der mich veranlasste, nachzufragen, ob sie das nun ernst oder ironisch meine. Es war – da hatte ich mich nicht verhört – ironisch gemeint. Vielleicht braucht es diese Spur von Ironie, wenn Jugendliche erst einmal dem kindlichen Zauber des Weihnachtsfestes entwachsen sind. Wenn sie auf der Suche nach sich selbst sind, vermutlich voller Fragen und in manchem auch desillusioniert, dann braucht es diese Distanzierung. Denn sie haben längst erfahren, dass eben nicht alles heil ist und Frieden ein langer und schwieriger Prozess und nicht nur eine Stimmung über die Festtage. Und auch wir Erwachsene schützen uns ja manches Mal mit solch ironischer Distanz vor überhöhten Erwartungen an das Fest oder tun uns schwer mit den Enttäuschungen, zu denen unsere überhöhten Erwartungen führen.
Trotzdem feiern wir alle Jahre wieder Weihnachten, schmücken unsere Häuser, machen einander Geschenke, hören oder singen weihnachtliche Lieder und mehr Menschen als sonst kommen zu Gottesdiensten. Bei aller ironischen Distanz sehnen wir uns danach, dass eben Weihnachten doch das Fest der Liebe und des Friedens sein möge und wir ahnen vielleicht zutiefst, dass die Botschaft von Weihnachten die Kraft hat, Liebe und Frieden in Menschenherzen zu wecken. Nur, dass sich das nicht einfach machen lässt – weder durch die aufwendigste Dekoration noch durch die kostbarsten Geschenke, weder durch grösste Anstrengungen noch durch das reinste Glaubensbekenntnis.
Im Zentrum des Weihnachtsfestes steht das göttliche Kind in der Krippe, geboren in einem Stall, arm, verletzlich und der Zuwendung bedürftig. In ihm ist Gott gegenwärtig. Dieses Kind soll der Welt Heil und Frieden bringen. Die Geburt dieses göttlichen Kindes bringt die Engel zum Singen. Die Geburt dieses Kindes bringt die Hirten in Bewegung. Göttliches und Menschliches, Himmel und Erde berühren sich im Stall von Bethlehem.
Das ist nun nicht einfach die Feststellung historischer Begebenheiten, die man Fürwahrhalten oder bezweifeln könnte. Da geht es um eine tiefere Wahrheit, die wir bei den christlichen Mystikern auf wunderbare Weise ausgedrückt finden. Sie reden von der Gottesgeburt in der menschlichen Seele. In der Geburt Jesu feiern wir die Gottesgeburt in unseren Herzen. Wenn Gott nicht in uns geboren wird, so bleibt das Geschehen von Bethlehem uns fern, dann bleiben wir uns auch selber fremd. Der christliche Mystiker Angelus Silesius hat es so ausgedrückt: „Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du bleibst doch ewiglich verloren.“ Und für Meister Eckhart vollzieht sich die Gottesgeburt so: „Im innersten Wesen der Seele, im Fünklein der Vernunft, geschieht die Gottesgeburt. In dem Reinsten, Edelsten und Zartesten muss es sein: in jenem tiefen Schweigen, dahin nie gelangte eine Kreatur noch irgendein Bild.“
Diese Mystiker lehren uns: Die Gottesgeburt in unseren Herzen, auf die es wirklich ankommt, die können wir nicht bewirken oder machen. Wir können sie höchstens zulassen, geduldig erwarten und mit Gottes Hilfe wahrnehmen, sie einlassen in unser alltägliches Leben.
Sich in Geduld üben und loslassen können, das sind die Tugenden, die hier gefragt sind. Nur so können Liebe und Frieden gedeihen. Wenn sie nicht in unseren Herzen Wurzel schlagen können, dann werden wir sie auch ausserhalb von uns und unter uns nicht finden. Und das zweite ist: wir sollen lernen, mit anderen Augen zu sehen. Nur mit den Augen des Herzens konnten die Hirten die Engel wahrnehmen und im Kind in der Krippe in diesem ärmlichen Stall das göttliche Kind erkennen. So brauchen auch wir die Augen des Herzens, um das Neue zu erkennen, das mit diesem Kind in uns geboren werden will.
Wir können nicht den Frieden in der ganzen Welt schaffen, aber wir können den Frieden in uns selber suchen. Wir können nicht einmal den Nächsten zum Frieden zwingen, aber wir können ihm die Hand zum Frieden reichen. Wir können Liebe nicht fordern, aber wir können Liebe schenken ohne Bedingungen und Erwartungen. Wir können nicht verhindern, dass wir von anderen verletzt werden, aber wir können auch in dem, der uns verletzt, den verletzlichen und der Liebe und Zuwendung bedürftigen Menschen sehen. Wir können vielleicht eine Krankheit oder ein schweres Schicksal nicht einfach abschütteln, aber wir können es annehmen und damit leben lernen ohne bitter und hart zu werden. Solange wir danach suchen, wer an unserer Unruhe und unserem Unfrieden schuld ist, werden wir keinen Frieden finden. Wir können nicht alle anderen verändern, aber vielleicht gelingt es uns, mit Gottes Hilfe uns selbst zu verändern und uns berühren zu lassen von diesem weihnachtlichen Frieden. Gott selbst hat diesen Weg gewählt. Er hat nicht mit Feuer und Schwert die Welt verändert, sondern sich selbst. Er hat sich uns gleich gemacht, uns ausgeliefert. Bethlehem und Golgotha stehen für diese Botschaft, dass Gott sich wehrlos in unsere Hände begibt. Es ist an uns, ob wir ihn aus unserem Leben verdrängen oder ob wir ihn in unser Herz einlassen wollen.
Ich wünsche uns allen, dass wir uns berühren lassen von dem Kind in der Krippe, dass wir lernen loszulassen und der Gottesgeburt in unseren Herzen Raum gewähren. Weihnachtlicher Friede möge in unseren Herzen und in unseren Häusern einziehen oder doch die Sehnsucht danach wach bleiben und die Geduld, ihn zu erwarten und unseren Mitmenschen mit offenen Armen zu begegnen. Amen
„Weihnachten ist das Fest der Liebe und des Friedens“, meinte einmal eine Konfirmandin beim Anblick von Kerze, Tannenzweig, Nüssli und Weihnachtsgüetzi im Unterrichtszimmer. Sie sagte es in einem speziellen Ton, der mich veranlasste, nachzufragen, ob sie das nun ernst oder ironisch meine. Es war – da hatte ich mich nicht verhört – ironisch gemeint. Vielleicht braucht es diese Spur von Ironie, wenn Jugendliche erst einmal dem kindlichen Zauber des Weihnachtsfestes entwachsen sind. Wenn sie auf der Suche nach sich selbst sind, vermutlich voller Fragen und in manchem auch desillusioniert, dann braucht es diese Distanzierung. Denn sie haben längst erfahren, dass eben nicht alles heil ist und Frieden ein langer und schwieriger Prozess und nicht nur eine Stimmung über die Festtage. Und auch wir Erwachsene schützen uns ja manches Mal mit solch ironischer Distanz vor überhöhten Erwartungen an das Fest oder tun uns schwer mit den Enttäuschungen, zu denen unsere überhöhten Erwartungen führen.
Trotzdem feiern wir alle Jahre wieder Weihnachten, schmücken unsere Häuser, machen einander Geschenke, hören oder singen weihnachtliche Lieder und mehr Menschen als sonst kommen zu Gottesdiensten. Bei aller ironischen Distanz sehnen wir uns danach, dass eben Weihnachten doch das Fest der Liebe und des Friedens sein möge und wir ahnen vielleicht zutiefst, dass die Botschaft von Weihnachten die Kraft hat, Liebe und Frieden in Menschenherzen zu wecken. Nur, dass sich das nicht einfach machen lässt – weder durch die aufwendigste Dekoration noch durch die kostbarsten Geschenke, weder durch grösste Anstrengungen noch durch das reinste Glaubensbekenntnis.
Im Zentrum des Weihnachtsfestes steht das göttliche Kind in der Krippe, geboren in einem Stall, arm, verletzlich und der Zuwendung bedürftig. In ihm ist Gott gegenwärtig. Dieses Kind soll der Welt Heil und Frieden bringen. Die Geburt dieses göttlichen Kindes bringt die Engel zum Singen. Die Geburt dieses Kindes bringt die Hirten in Bewegung. Göttliches und Menschliches, Himmel und Erde berühren sich im Stall von Bethlehem.
Das ist nun nicht einfach die Feststellung historischer Begebenheiten, die man Fürwahrhalten oder bezweifeln könnte. Da geht es um eine tiefere Wahrheit, die wir bei den christlichen Mystikern auf wunderbare Weise ausgedrückt finden. Sie reden von der Gottesgeburt in der menschlichen Seele. In der Geburt Jesu feiern wir die Gottesgeburt in unseren Herzen. Wenn Gott nicht in uns geboren wird, so bleibt das Geschehen von Bethlehem uns fern, dann bleiben wir uns auch selber fremd. Der christliche Mystiker Angelus Silesius hat es so ausgedrückt: „Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du bleibst doch ewiglich verloren.“ Und für Meister Eckhart vollzieht sich die Gottesgeburt so: „Im innersten Wesen der Seele, im Fünklein der Vernunft, geschieht die Gottesgeburt. In dem Reinsten, Edelsten und Zartesten muss es sein: in jenem tiefen Schweigen, dahin nie gelangte eine Kreatur noch irgendein Bild.“
Diese Mystiker lehren uns: Die Gottesgeburt in unseren Herzen, auf die es wirklich ankommt, die können wir nicht bewirken oder machen. Wir können sie höchstens zulassen, geduldig erwarten und mit Gottes Hilfe wahrnehmen, sie einlassen in unser alltägliches Leben.
Sich in Geduld üben und loslassen können, das sind die Tugenden, die hier gefragt sind. Nur so können Liebe und Frieden gedeihen. Wenn sie nicht in unseren Herzen Wurzel schlagen können, dann werden wir sie auch ausserhalb von uns und unter uns nicht finden. Und das zweite ist: wir sollen lernen, mit anderen Augen zu sehen. Nur mit den Augen des Herzens konnten die Hirten die Engel wahrnehmen und im Kind in der Krippe in diesem ärmlichen Stall das göttliche Kind erkennen. So brauchen auch wir die Augen des Herzens, um das Neue zu erkennen, das mit diesem Kind in uns geboren werden will.
Wir können nicht den Frieden in der ganzen Welt schaffen, aber wir können den Frieden in uns selber suchen. Wir können nicht einmal den Nächsten zum Frieden zwingen, aber wir können ihm die Hand zum Frieden reichen. Wir können Liebe nicht fordern, aber wir können Liebe schenken ohne Bedingungen und Erwartungen. Wir können nicht verhindern, dass wir von anderen verletzt werden, aber wir können auch in dem, der uns verletzt, den verletzlichen und der Liebe und Zuwendung bedürftigen Menschen sehen. Wir können vielleicht eine Krankheit oder ein schweres Schicksal nicht einfach abschütteln, aber wir können es annehmen und damit leben lernen ohne bitter und hart zu werden. Solange wir danach suchen, wer an unserer Unruhe und unserem Unfrieden schuld ist, werden wir keinen Frieden finden. Wir können nicht alle anderen verändern, aber vielleicht gelingt es uns, mit Gottes Hilfe uns selbst zu verändern und uns berühren zu lassen von diesem weihnachtlichen Frieden. Gott selbst hat diesen Weg gewählt. Er hat nicht mit Feuer und Schwert die Welt verändert, sondern sich selbst. Er hat sich uns gleich gemacht, uns ausgeliefert. Bethlehem und Golgotha stehen für diese Botschaft, dass Gott sich wehrlos in unsere Hände begibt. Es ist an uns, ob wir ihn aus unserem Leben verdrängen oder ob wir ihn in unser Herz einlassen wollen.
Ich wünsche uns allen, dass wir uns berühren lassen von dem Kind in der Krippe, dass wir lernen loszulassen und der Gottesgeburt in unseren Herzen Raum gewähren. Weihnachtlicher Friede möge in unseren Herzen und in unseren Häusern einziehen oder doch die Sehnsucht danach wach bleiben und die Geduld, ihn zu erwarten und unseren Mitmenschen mit offenen Armen zu begegnen. Amen
Sonntag, 9. Dezember 2012
Predigt zum Magnificat Luk 1,46-55 am 2. Adventssonntag, 9. Dezember 2012
Liebe Gemeinde
Das Magnificat, der Lobgesang der Maria, den wir gerade in Wort und Gesang gehört haben, ist zweifellos eine Perle und einer der bekanntesten Texte der Bibel. In der katholischen Tradition ist Maria zu einer zentralen Glaubensgestalt und zum Gegenstand der Verehrung geworden. In unserer reformierten Tradition hingegen ist Maria lange Zeit eine Randfigur geblieben, nicht zuletzt in Abgrenzung zur katholischen Marienverehrung. Erst in den letzten Jahrzehnten, nicht zuletzt durch die Suche von Frauen nach Vorbildern und Identifikationsfiguren in der biblischen Tradition, ist Maria gewissermassen zu einer ökumenischen Gestalt geworden.
Maria galt lange Zeit als Inbegriff der demütigen, sich ganz in Gottes Willen ergebenden Frau. „Ja, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast“, lässt das Lukasevangelium sie auf die Ankündigung der Geburt durch den Engel antworten. Und die Niedrigkeit der Magd kehrt wieder in ihrem Lobgesang. Sie erscheint als eine Frau, die sich ganz zum Gefäss des göttlichen Willens und Wirkens machen lässt. Wir sind heute geneigt, darin ein ideologisch geprägtes Frauenbild zu sehen - und zu kritisieren, mit guten Gründen. Trotzdem enthält dieses Marienbild etwas ganz Entscheidendes: die reine Empfänglichkeit dieser Frau, die sich dem Wirken und der Gegenwart Gottes öffnet und austrägt und wachsen lässt, was Gott in ihr zum Leben erweckt. Solche Empfänglichkeit gehört zu unserem Menschsein - und nicht nur zum Frausein - in Beziehung zu Gott. Achtsamkeit für all das, was in unserem Leben wachsen und sich entfalten möchte, was in uns und durch uns das Licht der Welt erblicken kann. Ein Gespür, eine Sensibilität für die Möglichkeiten, die in uns hineingelegt, die in uns angelegt sind. Ja, auch ein Selbstvertrauen, dass Grosses durch uns wachsen kann. Und gleichzeitig unser Leben so anzunehmen, wie es geworden ist, auch zu den schmerzlichen und schwierigen Seiten Ja zu sagen, selbst wenn der Weg dazu lang sein kann und vielleicht viel Zeit braucht. In den Worten Marias: „Mir geschehe, wie du gesagt hast.“
Diese Empfänglichkeit und Passivität, die Bereitschaft, Ja zu sagen, gehören unverzichtbar zu dem, was von Maria zu erzählen ist. Es ist aber nur die eine Seite der Gestalt der Maria. Denn zugleich ist sie eine starke Frau und das Magnificat hat so gar nichts Bescheidenes und Demütiges an sich - auch wenn von der „Niedrigkeit seiner Magd“ die Rede ist. Es ist ein selbstbewusstes und rebellisches Lied. „Grosses hat der Mächtige an mir getan.“ Diese junge Frau soll seliggepriesen werden von allen Geschlechtern. „Mächtige hat er vom Thron gestürzt und Niedrige erhöht, Hungrige hat er gesättigt und Reiche leer ausgehen lassen.“ Diese Frau schweigt nicht und sie sagt mehr als nur Ja. Und so kann sie Frauen, aber auch Männern, Mut machen, Mut zu einem aufrechten Gang und zu selbstbewusstem Handeln. So ist Maria zu einer wichtigen Identifikationsfigur feministischer Theologie geworden - eine Frau, die mutig und selbstbewusst das Wort ergreift und sich nicht einfach abfindet mit den Verhältnissen, so wie sie sind. Und das Magnificat ist mit seiner Hoffnung auf einen Umsturz aller Verhältnisse zu einer Inspirationsquelle einer politischen Theologie geworden, die uns daran erinnert, dass sich das Evangelium niemals auf reine Innerlichkeit und persönliche Frömmigkeit reduzieren lässt, sondern auch im Einsatz für soziale Gerechtigkeit, Humanität und die Bewahrung der Schöpfung Gestalt gewinnen muss.
Nur wenn Beides zur Geltung kommt - die Empfänglichkeit und Passivität und das Selbstbewusst-Rebellische, fängt das Magnificat an zu leuchten. Und diese Verbindung, dieses Leuchten will ich an zwei Dingen festmachen. „Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter, denn hingesehen hat er auf die Niedrigkeit seiner Magd.“ (oder in der Lutherübersetzung: angesehen hat er die Niedrigkeit seiner Magd) So heisst es am Beginn des Magnificat. Es ist klar, dass es hier nicht um ein durch Leistung erworbenes Ansehen oder ein Ansehen aufgrund von Herkunft und Geburt geht. Dieses Ansehen ist nichts als frei geschenkte Zuwendung und Liebe. Solches Ansehen, solche Beachtung richtet einen Menschen auf, lässt ihn wachsen und selbstbewusst werden. Soches Ansehen und solche Beachtung können wir nur empfangen und annehmen. Und wo wir sie empfangen und in uns dankbar aufnehmen, können wir wachsen, kann Neues in uns geboren werden und das was in uns steckt, kann sich entfalten. Beachtung erfahren wir durch Gott, Ansehen schenkt uns Gott und wir können einander Ansehen und Beachtung schenken, einander aufrichten und zum Blühen bringen. Dazu kann uns das Magnificat ermutigen. Wer angesehen wird, blüht auf, gewinnt an Kraft und Mut, kann sich selbst und Gott etwas zutrauen und muss sich auch mit den Verhältnissen nicht mehr einfach abfinden.
Dass Maria angesehen und so aufgerichtet und gross gemacht wird, ist das Eine, das ich hervorheben will. Das Andere möchte ich mit einem Begriff der Philosophin Hannah Arendt in Verbindung bringen. Für sie war »Geburtlichkeit« ein Schlüsselbegriff ihres Denkens. Wo ihr Lehrer Martin Heidegger das Dasein als »Vorlauf zum Tode« begriff, dachte sie vom Beginn her, von der »Geburtlichkeit«: Jeder Mensch, so dachte sie, ist ein neuer Anfang, begabt mit der Freiheit zum gemeinsamen Handeln. In der Weihnachtsgeschichte des Lukasevangeliums kommt das Göttliche durch eine menschliche Geburt in die Welt, als ein Kind, von einer Frau geboren. Diese Frau hat einen Namen, Maria, und von ihr soll erzählt, sie soll seliggepriesen werden von allen Geschlechtern. Sie ist mehr als nur ein namenloses Gefäss göttlichen Wirkens. Dieses Kind wird - wie jedes Kind - angewiesen sein auf Liebe und Fürsorge. Mit dieser einen Geburt setzt Gott einen neuen Anfang und zugleich erinnert er uns an die Anfänglichkeit allen Lebens. Dass wir angesehen sind und auch durch uns Neues in diese Welt kommen kann, diese Botschaft des Magnificat gilt nicht nur der Maria, sie gilt uns allen. Jeder Mensch ist ein neuer Anfang, den Gott schenkt. Durch jeden Menschen kann etwas Göttliches in diese Welt kommen.
Gott setzt einen neuen Anfang, damit wir anfänglich leben können, empfänglich werden für die Neuanfänge in unserem Leben, für das, was durch uns geboren werden möchte. Dankbar empfangen und mutig ins Leben treten lassen - das will uns Gott schenken und dazu will er uns ermutigen. Amen.
Das Magnificat, der Lobgesang der Maria, den wir gerade in Wort und Gesang gehört haben, ist zweifellos eine Perle und einer der bekanntesten Texte der Bibel. In der katholischen Tradition ist Maria zu einer zentralen Glaubensgestalt und zum Gegenstand der Verehrung geworden. In unserer reformierten Tradition hingegen ist Maria lange Zeit eine Randfigur geblieben, nicht zuletzt in Abgrenzung zur katholischen Marienverehrung. Erst in den letzten Jahrzehnten, nicht zuletzt durch die Suche von Frauen nach Vorbildern und Identifikationsfiguren in der biblischen Tradition, ist Maria gewissermassen zu einer ökumenischen Gestalt geworden.
Maria galt lange Zeit als Inbegriff der demütigen, sich ganz in Gottes Willen ergebenden Frau. „Ja, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast“, lässt das Lukasevangelium sie auf die Ankündigung der Geburt durch den Engel antworten. Und die Niedrigkeit der Magd kehrt wieder in ihrem Lobgesang. Sie erscheint als eine Frau, die sich ganz zum Gefäss des göttlichen Willens und Wirkens machen lässt. Wir sind heute geneigt, darin ein ideologisch geprägtes Frauenbild zu sehen - und zu kritisieren, mit guten Gründen. Trotzdem enthält dieses Marienbild etwas ganz Entscheidendes: die reine Empfänglichkeit dieser Frau, die sich dem Wirken und der Gegenwart Gottes öffnet und austrägt und wachsen lässt, was Gott in ihr zum Leben erweckt. Solche Empfänglichkeit gehört zu unserem Menschsein - und nicht nur zum Frausein - in Beziehung zu Gott. Achtsamkeit für all das, was in unserem Leben wachsen und sich entfalten möchte, was in uns und durch uns das Licht der Welt erblicken kann. Ein Gespür, eine Sensibilität für die Möglichkeiten, die in uns hineingelegt, die in uns angelegt sind. Ja, auch ein Selbstvertrauen, dass Grosses durch uns wachsen kann. Und gleichzeitig unser Leben so anzunehmen, wie es geworden ist, auch zu den schmerzlichen und schwierigen Seiten Ja zu sagen, selbst wenn der Weg dazu lang sein kann und vielleicht viel Zeit braucht. In den Worten Marias: „Mir geschehe, wie du gesagt hast.“
Diese Empfänglichkeit und Passivität, die Bereitschaft, Ja zu sagen, gehören unverzichtbar zu dem, was von Maria zu erzählen ist. Es ist aber nur die eine Seite der Gestalt der Maria. Denn zugleich ist sie eine starke Frau und das Magnificat hat so gar nichts Bescheidenes und Demütiges an sich - auch wenn von der „Niedrigkeit seiner Magd“ die Rede ist. Es ist ein selbstbewusstes und rebellisches Lied. „Grosses hat der Mächtige an mir getan.“ Diese junge Frau soll seliggepriesen werden von allen Geschlechtern. „Mächtige hat er vom Thron gestürzt und Niedrige erhöht, Hungrige hat er gesättigt und Reiche leer ausgehen lassen.“ Diese Frau schweigt nicht und sie sagt mehr als nur Ja. Und so kann sie Frauen, aber auch Männern, Mut machen, Mut zu einem aufrechten Gang und zu selbstbewusstem Handeln. So ist Maria zu einer wichtigen Identifikationsfigur feministischer Theologie geworden - eine Frau, die mutig und selbstbewusst das Wort ergreift und sich nicht einfach abfindet mit den Verhältnissen, so wie sie sind. Und das Magnificat ist mit seiner Hoffnung auf einen Umsturz aller Verhältnisse zu einer Inspirationsquelle einer politischen Theologie geworden, die uns daran erinnert, dass sich das Evangelium niemals auf reine Innerlichkeit und persönliche Frömmigkeit reduzieren lässt, sondern auch im Einsatz für soziale Gerechtigkeit, Humanität und die Bewahrung der Schöpfung Gestalt gewinnen muss.
Nur wenn Beides zur Geltung kommt - die Empfänglichkeit und Passivität und das Selbstbewusst-Rebellische, fängt das Magnificat an zu leuchten. Und diese Verbindung, dieses Leuchten will ich an zwei Dingen festmachen. „Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter, denn hingesehen hat er auf die Niedrigkeit seiner Magd.“ (oder in der Lutherübersetzung: angesehen hat er die Niedrigkeit seiner Magd) So heisst es am Beginn des Magnificat. Es ist klar, dass es hier nicht um ein durch Leistung erworbenes Ansehen oder ein Ansehen aufgrund von Herkunft und Geburt geht. Dieses Ansehen ist nichts als frei geschenkte Zuwendung und Liebe. Solches Ansehen, solche Beachtung richtet einen Menschen auf, lässt ihn wachsen und selbstbewusst werden. Soches Ansehen und solche Beachtung können wir nur empfangen und annehmen. Und wo wir sie empfangen und in uns dankbar aufnehmen, können wir wachsen, kann Neues in uns geboren werden und das was in uns steckt, kann sich entfalten. Beachtung erfahren wir durch Gott, Ansehen schenkt uns Gott und wir können einander Ansehen und Beachtung schenken, einander aufrichten und zum Blühen bringen. Dazu kann uns das Magnificat ermutigen. Wer angesehen wird, blüht auf, gewinnt an Kraft und Mut, kann sich selbst und Gott etwas zutrauen und muss sich auch mit den Verhältnissen nicht mehr einfach abfinden.
Dass Maria angesehen und so aufgerichtet und gross gemacht wird, ist das Eine, das ich hervorheben will. Das Andere möchte ich mit einem Begriff der Philosophin Hannah Arendt in Verbindung bringen. Für sie war »Geburtlichkeit« ein Schlüsselbegriff ihres Denkens. Wo ihr Lehrer Martin Heidegger das Dasein als »Vorlauf zum Tode« begriff, dachte sie vom Beginn her, von der »Geburtlichkeit«: Jeder Mensch, so dachte sie, ist ein neuer Anfang, begabt mit der Freiheit zum gemeinsamen Handeln. In der Weihnachtsgeschichte des Lukasevangeliums kommt das Göttliche durch eine menschliche Geburt in die Welt, als ein Kind, von einer Frau geboren. Diese Frau hat einen Namen, Maria, und von ihr soll erzählt, sie soll seliggepriesen werden von allen Geschlechtern. Sie ist mehr als nur ein namenloses Gefäss göttlichen Wirkens. Dieses Kind wird - wie jedes Kind - angewiesen sein auf Liebe und Fürsorge. Mit dieser einen Geburt setzt Gott einen neuen Anfang und zugleich erinnert er uns an die Anfänglichkeit allen Lebens. Dass wir angesehen sind und auch durch uns Neues in diese Welt kommen kann, diese Botschaft des Magnificat gilt nicht nur der Maria, sie gilt uns allen. Jeder Mensch ist ein neuer Anfang, den Gott schenkt. Durch jeden Menschen kann etwas Göttliches in diese Welt kommen.
Gott setzt einen neuen Anfang, damit wir anfänglich leben können, empfänglich werden für die Neuanfänge in unserem Leben, für das, was durch uns geboren werden möchte. Dankbar empfangen und mutig ins Leben treten lassen - das will uns Gott schenken und dazu will er uns ermutigen. Amen.
Samstag, 24. November 2012
Predigt zu Jes 65,17-19.23-25 am Ewigkeitssonntag 25. November 2012
Liebe Gemeinde,
ist das nicht ein wunderschöner Traum, eine grossartige Vision, die uns das Jesajabuch vor Augen führt. Ein neuer Himmel und eine neue Erde. Kein Leid, kein Schmerz, keine Tränen mehr. Niemand soll mehr vorzeitig sterben, kein Leben unter der Last der Sinnlosigkeit zerbrechen, kein Mensch sich vergeblich bemühen. Ein Leben in Fülle und in Gerechtigkeit, erfüllt von einem alles umfassenden Frieden. Ja, es ist ein wunderschöner Traum, eine grossartige Verheissung – aber manchem von uns mag es auf der Zunge liegen: „Ist das nicht zu schön, um wahr zu sein?“ Da blickt jemand nach vorn, voller Hoffnung und Zuversicht, dass Gott es gut mit seinem Volk meint und dass er ihm eine heilvolle und erfüllte Zukunft schenken wird. Und wir? Wohin blicken wir?
Wir begehen heute den Toten- und Ewigkeitssonntag. Wir erinnern uns an unsere Verstorbenen. Unter uns sind Menschen, die im vergangenen Kirchenjahr von einem lieben Menschen Abschied nehmen mussten. Wir denken zurück an Menschen, die in hohem Alter gestorben sind, für die der Tod vielleicht auch eine Erlösung gewesen ist. Trotzdem fehlen sie uns, spüren wir, dass da etwas zu Ende gegangen ist - und das schmerzt.
Wir denken aber auch zurück an Menschen, die uns viel zu früh oder auf tragische Weise entrissen wurden, an Abschiede, die uns ohnmächtig und hilflos machen. Da sind die Fragen nicht so leicht loszuwerden, warum denn Gott manchen Menschen so viel Leid und so viel Schweres zumuten muss. Und es ist nicht leicht, diese Fragen auszuhalten. Es ist nicht leicht zu akzeptieren, dass es wohl keine andere Antwort gibt als die, dass wir den langen und oft schmerzhaften Weg der Trauer gehen, der es uns möglich macht, das anzunehmen, was wir nicht ändern können. Und zu vertrauen, dass wir mit Gottes Hilfe und durch die Menschen, die uns tragen und begleiten, auf diesem Weg wieder frei werden für das Leben, das vor uns liegt. Und es Gott zu überlassen, dass er uns dereinst in hellem Licht zeigen wird, was wir nicht verstehen können.
Aber der Weg kann lang und steinig sein und da helfen keine Patentrezepte, keine Vertröstungen und Verharmlosungen. Was hilft, ist allein, diesen Weg zu gehen und dabei zu achten auf die kleinen Hoffnungszeichen am Wegrand, auf die Menschen, die für uns da sind, auf die Spuren der heilsamen Gegenwart Gottes auf unserem Weg.
Wohin blicken wir? – so habe ich vorhin gefragt. Und die erste Antwort am Toten- und Ewigkeitssonntag heisst: Wir blicken zurück. Wir gedenken des Vergangenen. Und ich bin überzeugt: Das ist auch gut so. Das Vergangene, unsere Verstorbenen, die gemeinsame Geschichte mit all ihren schönen und kostbaren Seiten, aber auch mit den Schmerzen und Missverständnissen – all das gehört zu uns und unserem Leben. Wir sind es unseren Verstorbenen schuldig, dass wir ihrer gedenken und sie in unseren Herzen wohnen lassen. Und unser Blick zurück soll aufrichtig und zugleich liebevoll sein. Aber – und das ist die entscheidende Botschaft unseres Textes: Der Blick zurück darf nicht das Einzige sein. Wir dürfen und brauchen uns von diesem Blick zurück nicht gefangen nehmen lassen. Wir leben und für uns steht noch etwas aus. Wir haben ein Leben, das wir in der Gegenwart und auf Zukunft hin leben dürfen.
Die Zeit, in der unser Text geschrieben wurde, war eine schwierige Zeit. Nach der Eroberung und Zerstörung Jerusalems musste das Volk Israel 70 Jahre im Exil leben. Und als endlich die lang ersehnte Rückkehr in die Heimat Wirklichkeit wurde, fanden die Menschen sich wieder in einer Trümmerlandschaft, die nur wenig Verheissungsvolles an sich hatte. In diese entmutigende und trostlose Situation hinein redet unser Text. Er wendet sich an die, die nur noch die Trümmer ihres Lebens vor Augen haben und resigniert und mutlos darauf starren und einfach keine Kraft mehr haben, etwas anzupacken und von der Zukunft zu erwarten, sich auf etwas Neues einzulassen. Ihnen sagt er: Gott hat noch etwas mit uns vor. Er wendet sich an die, die meinen, früher sei alles besser gewesen es werde alles immer nur noch schlechter.
Ihnen sagt er, dass sie dem vergangenen nicht nachtrauern und es nicht verklären, sondern sich umdrehen, nach vorne blicken sollen, weil da Gott auf uns zukommt. Mit seiner grossartigen Vision eines neuen Himmels und einer neuen Erde will unser Text diesen Menschen die Hoffnung und den Lebensmut zurückgeben, die sie verlassen hatten.
Auch damals werden wohl viele gesagt haben: Das ist doch zu schön um wahr zu sein. Und sie haben sich gefragt: Wann soll denn das Wirklichkeit sein? Und haben sich vielleicht selbst die Antwort gegeben: wahrscheinlich nie? Auf ihre Weise haben sie sogar Recht. Denn was uns hier verheissen wird, das lässt sich nie einfach verwirklichen, das ist nicht die Beschreibung einer realen Zukunft im Massstab 1:1. Die biblischen Visionen und Verheissungen haben immer einen Überschuss, enthalten mehr als diese Welt uns zu geben vermag. Es kommt nicht darauf an, wann das alles Wirklichkeit sein wird, sondern ob wir uns überhaupt auf diese Vision, diese Verheissung einlassen. Ob wir uns bewegen lassen, nach vorne zu schauen und uns von Gott Hoffnung und Zuversicht schenken lassen.
Die Kraft dieser Verheissung liegt darin, dass sie unsere Blickrichtung verändern und uns aufrütteln kann. Nur wer vom Leben noch etwas erwartet, wer sich vorstellen kann, dass es auch noch ganz anders, dass es heil werden könnte, wird befähigt, sein Leben in die Hand zu nehmen, Bruchstücke dieser heilvollen Zukunft in seinem Leben zu entdecken, in der Gegenwart und auf Zukunft hin zu leben.
Es geht nicht darum, das Vergangene zu vergessen oder gar zu verdrängen. Ich möchte das, worum es in meinen Augen geht, mit einem Bild ausdrücken: Der entscheidende Unterschied ist der, ob wir wie gebannt auf das Vergangene blicken, sei es verklärend oder erschrocken, und dem, was kommt, den Rücken zukehren oder ob wir die Vergangenheit im Rücken haben und den Blick nach vorne gerichtet, weil wir vom Leben etwas erwarten. Wer so das Vergangene im Rücken hat, der weiss darum, dass es zu ihm gehört, mit allem Kostbaren und Schönen, aber auch mit den Schatten, die es wirft.
Die Menschen, die wir verloren haben, sie gehören zu uns – als kostbarer Schatz und Kraftquelle, manchmal auch als bedrückende Last. Aber mit dieser Geschichte dürfen wir weitergehen. Wir dürfen sie ruhen lassen. Denn wir leben und uns gilt die Verheissung eines neuen Himmels und einer neuen Erde. Sie gilt uns bruchstückhaft schon in dieser Welt und in diesem Leben. Wer trauert, darf sich wieder dem Leben zuwenden, sich wieder freuen, Schönes erleben und geniessen. Ja, der darf sich auf neue Menschen und neue Beziehungen einlassen. Das ist kein Verrat an dem verstorbenen Menschen. Denn der Tod eines Menschen bedeutet auch, dass wir einander wieder frei geben. Wer sich dem Leben wieder zuwendet, der bewahrt gerade darin die Treue zu dem verstorbenen Menschen und die Treue zu Gott. „Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr euch weist“, wie es in einem schönen neueren Kirchenlied heisst.
Die Verheissungen Gottes haben einen Überschuss, der sich nicht einfach realisieren lässt. Sie sind gewissermassen nicht ganz von dieser Welt. Aber gerade darin zeigen sie uns, dass wir als Gottes Geschöpfe nicht einfach dieser Welt gehören. Die Schrecken, die wir erleben, der Tod der uns trifft, die Trauer, die wir zu tragen haben – sie sind nicht alles, was über uns und unser Leben zu sagen ist.
Als Christen glauben wir, dass Gott das letzte Wort über unser Leben hat und nicht der Tod. Als Christen glauben wir, dass wir auf einen neuen Himmel und eine neue Erde zugehen, bruchstückhaft jetzt schon in dieser Welt, aber vollkommen erst dann, wenn wir ganz bei Gott sind, in jener Welt, in der alles Leid und selbst der Tod überwunden ist. Dann wird man des Vergangenen nicht mehr gedenken, weil dann alles aufgehoben ist in Gottes heilvoller und ewiger Gegenwart. Darum dürfen wir schon heute den Blick nach vorne richten, hoffnungsvoll und zuversichtlich, weil der, der uns entgegenkommt, uns und diese Welt liebt und uns Zukunft und Hoffnung geben will. Amen.
Sonntag, 4. November 2012
Predigt zu Gal 5,1-6 am Reformationssonntag 4. November 2012
Liebe Gemeinde!
Von dem Dramatiker Eugène Ionescu gibt es ein Theaterstück mit dem Titel „Die Nashörner“. Darin versinnbildlicht die allmähliche Verwandlung der Menschen in Nashörner die Bereitschaft, sich bereitwillig anzupassen, wenn es für einen selber nützlich erscheint. Die Versuchung, aus Bequemlichkeit die eigene Freiheit aufzugeben, ist gross. Es ist leichter, mit der Masse mitzulaufen als dagegenzuhalten. Selber zu denken, eine eigene Meinung zu vertreten, das kann anstrengender sein, als sich schön der Menge anzupassen.
Aber es gibt auch das fatale Missverständnis, das Freiheit mit Rücksichtslosigkeit verwechselt. Wer sich nur frei fühlt, wenn er auf nichts oder niemanden Rücksicht nehmen muss, der kreist letztlich nur um sich selber, in einer Selbstverliebtheit, die für andere, für Gemeinsamkeit keinen Raum lässt. Die Reformatoren haben vom „in sich selbst verkrümmten Menschen“ geredet und darin den Inbegriff von Sünde gesehen, während heute eine solche Haltung oft als Freiheit und Unabhängigkeit gefeiert wird. Für die Reformatoren war es wichtig, dass für einen Menschen, der aus dem Glauben an Jesus Christus lebt, beides zusammengehört: eine eigenständige Person zu sein, eine eigene Meinung zu haben, sich frei zu entfalten und dabei und zugleich das Wohl anderer Menschen im Sinn zu behalten. In seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ hat Luther geschrieben: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan.“ „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ Und: „ Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Wir müssen von Kindesbeinen an lernen, wann es dem eigenen Gewissen entspricht, auf Freiheit zu pochen oder in Freiheit auf sie zu verzichten.
Unser Predigttext liefert uns dafür kein einfaches Rezept, aber eine ganz wichtige Richtschnur: „In Christus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.“ Denn damit gewinnt die christliche Freiheit Konturen. Da wird klar, dass diese Freiheit nicht zu verwechseln ist mit den einsamen Helden der Zigarettenwerbung oder einem Wirtschaftsliberalismus, der sich am liebsten von allen sozialen Rücksichten befreit sähe.
Man kann diesen ganz entscheidenden Unterschied vielleicht am Besten so deutlich machen: Während viele heute Freiheit in erster Linie als „Freiheit von“ verstehen, ist Freiheit im evangelischen Sinn „Freiheit zu“. Und diese Freiheit zu ist die Freiheit zum Glauben, der durch die Liebe tätig ist. Und das lässt sich nun auf unzählige Bereiche unseres Lebens beziehen. Bin ich frei, wenn ich ohne Rücksicht auf andere Menschen leben kann oder bin ich dann frei, wenn ich in einer Partnerschaft oder im Zusammenleben mit Kindern aus freien Stücken immer wieder darauf verzichte, meine eigenen Interessen durchzusetzen? Bin ich frei, wenn ich so schnell und so viel fahren kann, wie ich will oder wenn ich aus Rücksicht auf die Natur und die Mitmenschen meine Mobilität sinnvoll beschränke? Ist ein Unternehmer frei, wenn er rücksichtslos seinen Profit verfolgen kann oder dann, wenn er Rahmenbedingungen akzeptiert, die dem sozialen und ökologischen Frieden dienen? Bin ich frei, wenn ich jeder Mode nachlaufe, die Spuren des Alterns verdecken, mich in ein gutes Licht stellen kann oder eher dann, wenn ich zu mir selbst ja sagen kann, so wie ich geworden bin, auch mit den Spuren des Alters, den Unzulänglichkeiten, meinem Anderssein? Es geht immer um den rechten Gebrauch der Freiheit, darum dass wir unsere Freiheit so gebrauchen, dass sie andere einbezieht und Zuwendung und Gemeinschaft ermöglicht.
Es liegt mir sehr viel an dieser Unterscheidung einer Freiheit von, die uns von unseren Mitmenschen trennt und allzu leicht zu einem Deckmantel der Rücksichtslosigkeit werden kann, und der Freiheit zu, die Freiheit zur Liebe, zur Rücksichtnahme und zur Gemeinschaft ist. Aber in einem Punkt beharrt dann Paulus doch ganz entschieden auf einer Freiheit von. Als Christen sind wir frei davon, vor Gott etwas aus uns machen zu müssen. Es gibt keine Bedingungen, die wir zuerst zu erfüllen hätten, damit Gott uns wohl gesonnen ist. Zur Zeit des Paulus hat es geheissen: Es stimmt schon, dass Christus uns befreit hat, aber es gehört sich doch, dass man sich zumindest beschneiden lässt. Aber hier sagt Paulus ganz entschieden nein. Die Beschneidung an sich ist für Paulus weder nützlich noch schädlich. Aber wenn sie zur Bedingung des Christseins gemacht wird, dann wird die Freiheit verspielt. Denn wenn ein Mensch meint oder sich einreden lässt, dass er Vorschriften erfüllen muss, um Gott genehm zu sein oder auch nur der Welt zu gefallen, dann setzt er seine Freiheit aufs Spiel. Wer sich so in seiner Freiheit beschneiden lässt, der kommt ein Leben lang nicht mehr aus dem Zwang heraus, allen möglichen Bedingungen zu gehorchen. Ob es dann der Zwang ist, irgendwelchen Moden hinterherzulaufen oder sich der jeweils herrschenden Meinung anzupassen oder möglichst fromm zu sein, ist gar nicht so entscheidend. Entscheidend ist, ob wir uns irgendwelchen auferlegten Gesetzen unterwerfen oder ob wir aus Freiheit uns entscheiden, weil wir wissen, dass wir von Gott geliebt und angenommen sind und darum zur Liebe und Mitmenschlichkeit befähigt.
Deshalb möchte ich sie ermutigen: Geben sie ihre Freiheit nicht auf. Sie ist ein kostbares Geschenk. Sie müssen sich nicht rechtfertigen – nicht vor Gott und nicht vor den anderen. Sie müssen und sie können es nicht allen recht machen. Es ist ja auch ein Stück Lebensklugheit, wenn wir begreifen, dass Beziehungen nur dann gelingen können, wenn es ein Gegenüber gibt und nicht eines im Anderen nur das Echo seiner Wünsche und Vorstellungen erkennt. Wer es allen recht machen will, der verliert sich selbst und oft auch den Respekt der Anderen. In Gottes Augen aber sind wir alle einzigartige und wertvolle Geschöpfe. Darum hat er uns Freiheit geschenkt, damit wir sie auch gebrauchen. Darum bittet er uns aber auch, dass wir einander nicht ständig dem Zwang unterwerfen, uns zu rechtfertigen. All unsere Fragen, warum der Andere dies oder das getan oder unterlassen hat, sollten getragen sein vom ehrlichen Interesse an den Beweggründen des Anderen. Dann sind sie auch wertvoll. Aber sie verkehren sich ins Gegenteil, wenn sie denn anderen zwingen, sich zu rechtfertigen und eigentlich nichts als Vorwürfe sind. Das ungute Wechselspiel von Vorwürfen und Rechtfertigungen tut keinem der Beteiligten gut.
Ich möchte sie aber auch ermutigen, ihre christliche Freiheit so zu gebrauchen, dass sie die Zuwendung zu den Mitmenschen einschliesst und in einem Glauben Gestalt gewinnt, der in der Liebe tätig ist. Vergessen sie nicht, dass wahre Freiheit nicht darin besteht, dass wir ohne Rücksicht tun und lassen können, was wir wollen, sondern sich manchmal gerade darin zeigen kann, dass wir freiwillig darauf verzichten, unsere Interessen durchzusetzen. Lassen sie sich nicht von anderen vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben, aber lassen sie sich auch nicht einreden, dass nur der frei ist, der auf niemand Rücksicht nehmen muss und sich alles leisten kann. Es könnte ja sein, dass wir unsere Freiheit gerade darin verwirklichen, dass wir aus freien Stücken einen kranken Menschen pflegen, manche Dinge zum Wohl unserer Familie zurückstellen, wirtschaftlichen Nutzen zum Wohl der Menschen zurückstellen oder die freie Verfügung über unsere Zeit einschränken zugunsten der Verpflichtungen in einem Ehrenamt oder einer freiwilligen Tätigkeit. Erst wenn wir uns entscheiden und uns damit auch binden, verwirklichen wir unsere Freiheit.
Dass gilt auch für unseren Glauben. Frei sind wir nicht, wenn wir glauben oder auch nicht glauben können. Frei sind wir, wenn wir im Glauben annehmen können, dass wir durch Christus befreit sind und nicht mehr dem Zwang zur Leistung und Rechtfertigung unterworfen. Das macht unabhängig. Darum müssen wir uns auch nicht anpassen, sondern dürfen den Mut zur eigenen Meinung, zum eigenen Lebensstil haben. Und wir können darauf bauen, dass eines gewiss ist: Ich bin ohne mein Zutun, ohne Vorbedingungen von Gott geliebt und angenommen.
Abonnieren
Posts (Atom)