Liebe Gemeinde,
Jakobs Ringen mit Gott am Fluss Jabbok gehört zu den faszinierendsten Geschichten des Alten Testaments. Dieser Jakob ist auf der Flucht vor seinem Bruder und wohl auch auf der Flucht vor sich selbst. Seinen Bruder hat er betrogen, dass väterliche Erbe hat er sich erschlichen. Später ist er selbst zum betrogenen Betrüger geworden, überlistet von seinem Onkel und Schwiegervater Laban. Mit Geduld und Ausdauer kann er schliesslich doch noch die Frau heiraten, die er liebt. Und mit List und Geschick bringt er es zu einer ansehnlichen Herde. Vorbildlich können wir diesen Jakob in moralischer Hinsicht wohl kaum nennen, mit all seinen Listen und Betrügereien. Vorbildlich ist er höchstens in seiner Beharrlichkeit und darin, dass er versucht, aus seinem Leben das Beste zu machen und auch nach Niederlagen und Rückschlägen immer wieder aufsteht. Ausgerechnet diesen Jakob aber macht Gott zum Stammvater Israels.
Nach Jahren in der Fremde steht er nun vor der Rückkehr in die Heimat und zugleich vor der Wiederbegegnung mit seinem Bruder. An einem Fluss, den er zu überqueren hat - ein uraltes mythologisches Bild für Übergangs- und Schwellensituationen im Leben - bekommt er es in einem nächtlichen Traum mit einem geheimnisvollen Widersacher zu tun. Ohne zu ahnen, mit wem er ringt, hält er seinem Widersacher stand bis zur Morgenröte. „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Mit diesen Worten ringt er seinem Gegenüber den Segen ab. Bis zum Ende der Geschichte weiss Jakob nicht, mit wem er da ringt. Da ist kein unerschütterliches Gottvertrauen, keiner, der von Anfang an weiss, dass es mit Gottes Hilfe nur gut ausgehen kann. Das weiss und darauf vertraut er erst am Ende. Zuerst einmal ist da einer, der weiss, dass es um sein Leben geht, der ringt und kämpft und nicht aufgibt.
Für mich verdichtet sich in diesem nächtlichen Traum das ganze Leben Jakobs. Hat er nicht in seinem ganzen Leben um Segen und Gelingen gerungen? Er wollte das Zwei, das er bei seiner Geburt am Rücken trug, unbedingt loswerden. Und es ist ihm gelungen - aber um welchen Preis? War es das wert? Konnte er sein eigenes Vorgehen nocht gutheissen? Hat es sich gelohnt, dafür mit Jahren in der Fremde und der Feindschaft seines Bruders Esau zu bezahlen? Unbedingt wollte er die schöne Rahel zur Frau haben. Er bezahlte dafür mit Geduld und Warten und jahrelangem Dienst. Er hat sein Ziel erreicht, aber es hat ihn etwas gekostet. Und welchen Preis bezahlte Lea, die Ungeliebte - und Rahel, die lange Kinderlose? Und hat er sich mit seiner List, die ihm zulasten seines Onkels und Schwiegervaters Laban eine ansehnliche Herde einbrachte, sich nicht auch noch dessen Feindschaft zugezogen?
Doch mehr als all das wog wohl die Angst vor der Wiederbegegnung mit seinem Bruder Esau. Der Betrug und die daraus entstandene Feindschaft der Brüder, das ist der entscheidende Bruch im Leben des Jakob. Nur wenn es gelingt, diesen Bruch zu heilen, kann sein ganzes Leben heil werden. Und nur wenn er sich dieser Wiederbegegnung stellt, kann er das herausfinden.
Gibt es in unserem Leben nicht auch Situationen, in denen wir ringen und kämpfen müssen und nicht wissen, mit wem wir es zu tun haben. Ich denke dabei an Menschen, die plötzlich mit einer bedrohlichen ärztlichen Diagnose konfrontiert sind und all die Fragen aushalten müssen, was wohl auf sie zukommt, ob sie kämpfen oder loslassen sollen, ob ihre Kräfte reichen, welchen Sinn das alles haben mag. Ich denke aber auch an jene, die durch den Tod eines geliebten Menschen, eine enttäuschte Liebe, materielle Sorgen oder psychische Ängste, den Glauben an das Leben verloren haben und nicht wissen wie es weitergehen soll, die damit ringen, dem Leben einen Sinn abzugewinnen und etwas zu finden, wofür es sich zu leben lohnt. Ich denke an Menschen, die in ihrem Beruf oder in der Familie schleichend oder plötzlich den Sinn verlieren und ausgebrannt sind. Wie können sie darum kämpfen, dass ihr Tun für sie wieder Sinn macht, das Feuer wieder brennt? Wo müssen sie loslassen und vielleicht völlig neue Wege gehen? Ich denke, wir alle kennen solche Situationen, in denen wir mit dem Leben, in denen wir mit Gott ringen, auch wenn sie längst nicht immer so dramatisch sind.
Auch wenn wir unseren Halt im Glauben gefunden haben, erspart uns das dieses Ringen nicht. Nicht ungebrochenes und unerschütterliches Gottvertrauen sollen wir uns erhoffen, aber den Mut des Jakob, zu ringen und zu kämpfen, wo es nötig ist, nicht aufzugeben, unseren Glauben nicht loszulassen.
Für mich enthält die Jakobsgeschichte eine grossartige Zusage. Auch in dem für uns vielleicht sinnlosen Ringen, in dem was wir nicht begreifen, haben wir es letztlich mit Gott zu tun. Und wenn wir wie Jakob standhalten, uns nicht entmutigen lassen, die Hoffnung nicht aufgeben, dann lässt Gott sich seinen Segen abringen. Jakob ist am Ende des Kampfes gezeichnet, er hinkt an der Hüfte, aber er ist nicht überwunden. Auch für uns gilt: wir sind wohl von den Erfahrungen unseres Lebens gezeichnet, tragen Verletzungen davon. Aber auch wir dürfen sagen: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“
Diese Worte Jakobs nimmt auch die Motette von Johann Sebastian Bach auf, die wir nach der Predigt vom Chor hören werden. In dieser Motette hat der Angeredete aber einen Namen. Es ist Jesus. In seinem Geschick können wir unser Leben bergen, denn Jesus ist nicht nur vom Leben, sondern sogar vom Tode gezeichnet und hat standgehalten. Darauf gründen wir unser Vertrauen, von dem der Sopran singt: „Weil du mein Gott und Vater bist, dein Kind wirst du verlassen nicht, du väterliches Herz.“
Seinen Segen schenkt uns Gott. Verdienen können wir ihn nicht. Aber beharrlich daran festhalten, dass er uns seinen Segen verheissen hat und niemals resigniert aufgeben. Wir können nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Und auch wenn wir mit Gott ringen müssen in unserem Leben: er will uns nicht besiegen, sondern uns segnen.
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