Liebe Gemeinde,
ohne unseren heutigen Predigttext gäbe es die Weihnachtsgeschichte des Lukas nicht und wohl auch kein Weihnachtsfest. Wir wären ärmer – zweifellos. Denn es sind diese Worte des Micha, die Lukas zu seiner Geburtsgeschichte inspiriert haben. Der, der die Menschen um sich Gottes Nähe und Liebe erfahren liess, der, den die frühe Christenheit als Gottes Sohn und Heil der Welt bekannte – ihn liessen Mt und Lk in Bethlehem das Licht der Welt erblicken. War er nicht ihr Friede geworden? Hatte er nicht die Menschen in Kraft geweidet? Sie erinnerten sich an die uralten Worte des Micha. Sie vergewisserten sich – so würde man das heute wohl nennen – ihrer kulturellen Wurzeln.
Gott erwählt das Kleine und Verachtete. Diese Glaubenserkenntnis durchzieht wie ein roter Faden die heiligen Schriften der jüdischen und der christlichen Tradition. Sie ist ein Grundbestand unserer Kultur. Ohne diesen Glauben würden wir uns selbst verraten, unsere Identität aufgeben. Das ist nun nicht etwas, was wir uns stolz wie einen Orden an die Brust heften können, mit dem wir unsere kulturelle Überlegenheit demonstrieren könnten. Es ist viel mehr Auftrag und Berufung, aber auch unverbrüchliche Zusage Gottes an alle, die sich um Menschlichkeit und Güte bemühen, die das Kleine nicht verachten, die sensibel und mitfühlend sind und sich nicht gegen andere durchsetzen wollen.
Das gilt umso mehr, als die Geschichte Jesu von der Heiligen Nacht bis zu seiner Auferstehung und Himmelfahrt keine sichtbare Erfolgsgeschichte ist. War bei David die Kindheit als Hirtenjunge aus dem kleinen und unbedeutenden Bethlehem noch der Anfang späterer Grösse und Königsmacht, so ist aus dem Kind im Stall nicht mehr als ein umstrittener Wanderprediger geworden, den sie als Aufrührer ans Kreuz geschlagen haben. In dieser Geschichte bleibt das Kleine klein und doch geht von ihm eine Grösse aus, eine sanfte Macht, die Frieden schaffen kann, eine Botschaft der Menschlichkeit, die weiterwirkt. Gott erwählt das Kleine nicht zu äusserlich sichtbarer Grösse und Herrlichkeit, sondern zur Menschlichkeit, zur Versöhnung mit der eigenen Geschichte, zum Glauben, dass unsere Geschichte eine Geschichte mit Gott ist, dass Gott jedem einzelnen von uns nahe ist.
Weihnachten ist das Fest der grossen Gefühle und wir sollten uns dagegen wehren, diese grossen Gefühle lächerlich zu machen. Ohne die Sehnsucht nach himmlischem Frieden, nach Harmonie und Verständnis wären wir gewiss ärmer. Wir dürfen diese grossen Gefühle wahrnehmen, es geniessen, wenn etwas davon einströmt in unsere weihnachtliche Festlichkeit. Und was uns hilft, solche Harmonie zu empfinden, das sollten wir nicht verachten, weder die alten Lieder und Geschichten, noch die Geschenke, den festlich gedeckten Tisch, die Familienbesuche. Nur frei machen sollten wir uns von dem Druck, all das machen zu müssen, so empfinden zu müssen. Weihnachten unterbricht unseren Alltag, aber es hebt ihn nicht einfach auf. Auch an Weihnachten müssen Menschen leben mit Krankheit, mit der Ungewissheit einer lebensbedrohlichen Diagnose, oder einer bevorstehenden Operation. Auch an Weihnachten kriselt es in Ehen, machen Menschen einander das Leben schwer. Auch an Weihnachten gibt es Krieg und Gewalt, auch wenn manchmal – aber längst nicht immer - zumindest an diesen Tagen die Waffen ruhen. Auch an Weihnachten sind Menschen einsam, weil sie am Rand der Gesellschaft stehen. Und gerade an Weihnachten empfinden wir besonders schmerzlich, wenn der Tod uns einen lieben Menschen genommen hat.
„Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein grosses Licht und denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.“ So heisst es bei Jesaja. Und bei Micha: „Er wird weiden in der Kraft des Herrn und sie werden sicher wohnen.“ Dieses Licht, diese gute Nachricht lässt sich nicht erzwingen oder aufdrängen. Vielleicht aber leuchtet im Herzen eines Trauernden auf, was er an dem verstorbenen Menschen gehabt hat und es tröstet ihn über den Verlust und lässt ihn die Kraft finden, den Blick auch wieder nach vorne zu richten. Vielleicht kann dieses Licht im Herzen eines Kranken aufleuchten und ihm das Gefühl geben, dass es sich lohnt zu kämpfen, sich zu freuen über die Menschen, die für ihn da sind, zu vertrauen auf die Gegenwart Gottes auch im Leid. Vielleicht kann es sogar helfen, sich mit dem eignen Sterben zu versöhnen. Vielleicht kann dieses Licht der Weihnacht Menschen miteinander versöhnen oder doch den Schmerz über das, was zerbrochen ist, wahrzunehmen, ohne allein den anderen dafür verantwortlich zu machen. Vielleicht kann das Licht der Weihnachten Menschen die Gewissheit schenken, dass sie wichtig sind, dass sie dazugehören, dass es auch auf sie ankommt. An uns selber ist es, wahrzunehmen, wo wir das weihnachtliche Licht nötig haben. Erzwingen können wir es nicht, aber aufmerksam dafür sein und empfänglich, indem wir nicht das grosse vollkommene Glück erwarten, sondern die kleinen Zeichen, die unscheinbaren Dinge beachten. Gott schafft uns nicht eine vollkommene und heile Welt. Aber er will uns helfen, dass wir in den Bruchstücken unseres Lebens, dass wir in unserer Geschichte heimisch werden und sicher wohnen können. Es kommt nicht darauf an ein anderer zu werden, sondern der andere zu sein, der wir in Gottes Augen schon sind, sein geliebtes Kind. Denn er erwählt das Kleine, uns Kleine. Und niemand ist zu klein um Menschlichkeit zu erfahren und andere Menschlichkeit erfahren zu lassen.
Wenn wir Weihnachten feiern, dann spüren wir hoffentlich etwas von dieser Sehnsucht nach Frieden, die in uns steckt, von dem Bedürfnis, zuhause zu sein in unserem Leben, sich versöhnen zu können mit der eigenen Geschichte und hoffentlich können wir glauben, dass Gott das Kleine und Zerbrechliche erwählt und auch uns seine Nähe zuspricht. Und er ermutigt uns, die vielen Gelegenheiten zur Menschlichkeit zu erkennen und sie zu ergreifen. Amen.
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