Freitag, 24. Dezember 2010

Predigt zu Luk 2,1-20 und Joh 3,16f. am 24. Dezember 2010 (Christnachtfeier)

Liebe Gemeinde,

wir Menschen sehnen uns danach, dass unser Leben Bedeutung hat und wir mehr sind als eine Nummer. Wir sehnen uns danach, angesehen zu werden, geliebt zu werden und möchten nicht einfach austauschbar sein. Deshalb kann es uns auch verletzen, wenn jemand unseren Namen nicht mehr kennt oder sich an Persönliches nicht mehr erinnert, das wir ihm bei unserer letzten Begegnung erzählt haben. Und vielleicht reagieren wir in dieser Beziehung so verletzlich, weil wir in vielen Bereichen eben gerade erleben, dass Menschen austauschbar und ersetzbar sind. Gerade im Berufsleben sind Abläufe meist funktional durchorganisiert. Wenn jemand ausfällt, darf das System ja nicht zusammenbrechen, müssen die Abläufe weiter funktionieren. Bis zu einem gewissen Grad ist das unumgänglich. Umso wichtiger ist es aber, dass wir darauf achten, einander nicht nur als Funktionsträger wahrzunehmen und uns selbst und andere nicht nur über unsere Funktionen zu definieren - weder im beruflichen Alltag noch in unseren privaten Beziehungen. Wer sind wir, wenn wir aller Funktionen ledig sind, nackt und bloss wie das Kind in der Krippe?
Die biblische Weihnachtsgeschichte erzählt uns von der Geburt zu Bethlehem, von dem Kind in der Krippe. Sie erzählt uns: in diesem Kind in der Krippe sieht Gott uns an - nicht von oben, vom Himmel herab, sondern von unten, so dass wir uns zu ihm herabbeugen können. In dieser Geschichte geht es um das Heil in unserem Leben, das wir bei einem anderen suchen sollen, um das Heil und den Frieden, die nach der Botschaft der Bibel bei dem Kind in der Krippe von Bethlehem, bei dem Mann aus Nazareth zu finden sind. Es geht um die Urszene der Heiligen Nacht – Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegend. Diese Szene ist ein Stück Weltliteratur – gemessen an ihrer Wirkung durch die Jahrhunderte vielleicht sogar das grösste. Aber es bleibt die Frage: Stellt diese Urszene Menschen dar oder Denkmäler? Ist es eine Widerstandskraft gegen die Austauschbarkeit des Menschen, die Verlorenheit in einem Leben, das uns so undurchschaubar scheint? Oder doch nur Stoff für ein paar romantische Stunden im Jahr, denen dann wieder ein heilloser Alltag folgt? Es kommt darauf an, wie wir die Szene heute aufnehmen. Lukas jedenfalls hat einiges getan, damit sie nicht zum Denkmal wird. Er weiss darum, wie Menschen zu austauschbaren Objekten gemacht werden. Er benennt das römische Machtsystem, die Herrschaftsstrukturen mit dem Kaiser Augustus an der Spitze und einem System von Vasallen und Statthaltern darunter, von denen Cyrenius nur einer war, und denen es auf funktionierende Untertanen und nicht auf den einzelnen Menschen ankommt. Und der Anlass ist eine grosse Volkszählung, die Untertanen als zählbare Masse, an denen primär die Fähigkeit interessiert, Steuern und Abgaben zu entrichten. Josef und die hochschwangere Maria sind ein Teil dieser Masse, zu unbedeutend, zu wenig vermögend, um in einer der Herbergen der Stadt Unterkunft zu finden. Aber Lukas gibt ihnen ein Gesicht und eine Herberge in einem Stall. Dort lässt er das himmlische Kind das Licht der Welt erblicken, dort scheint das Heil der Welt auf. Wo alle Welt geschätzt werden sollte, da war dieses eine neugeborene Kind nicht von Bedeutung. Lukas aber richtet unseren Blick auf diesen einen, dieses austauschbare, verletzliche Menschenkind. Seine Geburt bringt die Engel zum singen, setzt die Hirten in Bewegung, lässt die Sehnsucht nach Frieden auf Erden neu lebendig werden. Bei Matthäus sind es sogar Weise, die von ferne her dem Stern folgen, um das Kind zu sehen. Und im Johannesevangelium heisst es: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.“ Diese Worte sind Teil von Jesu Antwort auf die Frage des Nikodemus, wie ein Mensch denn neu geboren werden könne, wenn er schon alt ist. Sie bedeuten für mich, dass wir neu geboren werden können, wenn wir spüren, dass wir angesehen und geliebt sind. Denn wer angesehen und geliebt ist, der ist nicht mehr einfach austauschbar. Wir dürfen darauf vertrauen, dass wir von Gott angesehen sind und wir können einander ansehen und so einander ein Gesicht geben.
Diese Worte und die Geschichte aus dem Stall von Bethlehem sind für mich Urbilder der Menschlichkeit, der Liebe und Güte unseres Gottes. Sie lehren uns die Auflehnung gegen alles, was die Menschen zu austauschbarem Krempel macht. In diesem einen Kind sagt uns Gott: Du bist mir wichtig, du mit allem was zu dir gehört, mit deinen Macken, mit dem was dich bedrückt, mit allem was dich glücklich macht. Die Weihnachtsgeschichte leugnet das schreckliche Gefühl der Austauschbarkeit von Menschen nicht, aber sie setzt ihm etwas entgegen, die Liebe Gottes, die in diesem verletzlichen Kind in der Krippe lebt, mitten unter uns und von dem ein Licht ausgeht, das auch in unser Herz hineinleuchten kann. Lukas setzt nicht der idealen Kleinfamilie ein Denkmal, sondern er lässt das Heil Gottes hineintreten in das Leben ganz normaler, scheinbar austauschbarer Menschen, in einen schäbigen Stall, in einem schutzbedürftigen Kind. Gerade darum ist Weihnachten das Fest der Menschlichkeit, der gefährdeten, zerbrechlichen Menschlichkeit, der göttlichen Würde jedes einzelnen Menschen.
Dieses Licht, das uns in der Weihnachtsgeschichte aufleuchtet, soll hineinstrahlen in unseren Alltag. Möge es denen leuchten, die vor einer gesundheitlich ungewissen Zukunft stehen, damit sie spüren, dass Gott bei ihnen ist und Menschen da sind, für die sie wichtig und unersetzbar sind. Möge es denen leuchten, die sich abgeschoben und überflüssig vorkommen, damit sie erkennen, dass sie wertvoll sind. Möge es denen leuchten, die trauern um einen Freundschaft oder Partnerschaft, damit sie auch im Scheitern noch erkennen, dass der Schmerz und die Wut auch ein Zeichen dafür sind, dass Menschen nicht einfach ersetzbar sind. Möge es uns allen leuchten, da wo wir uns klein und austauschbar fühlen, damit wir wahrnehmen, wie wichtig wir füreinander, wie wichtig wir für Gott sind. Da wo wir menschlich handeln, wie unvollkommen auch immer, da wo wir einander menschlich begegnen, aneinander Anteil nehmen und einander spüren lassen, dass der andere zählt, da wird es Weihnachten, da stimmen die Engel ihren Lobgesang an: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen, an denen Gott Wohlgefallen hat“. Amen.

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