Liebe Mitchristen,
sie war 48 Jahre alt, als plötzlich die Schmerzen im Kopf auftauchten. Das geht schon vorüber dachte sie zuerst und kümmerte sich weiter um ihre Familie und ging ihrer Arbeit nach. Aber die Schmerzen blieben und schliesslich ging sie doch zum Arzt. Sie war am Boden zerstört, als sie die Diagnose erfuhr. Ein Gehirntumor hatte sich in ihrem Kopf eingenistet. Eine Operation war unumgänglich, die Heilungschancen völlig offen. In ihrem Leben hatte sie schon manche Herausforderung gemeistert. sie war es gewohnt, sich mit Schwierigkeiten auseinanderzusetzen und sie zu bewältigen. Aber jetzt nützten ihr all ihre erlernten Fähigkeiten und ihre zupackende Art nur wenig. Wie würde sie damit zurechtkommen? Würde sie die Kraft finden, den vor ihr liegenden Weg zu gehen? Wer würde ihr beistehen, den Weg mit ihr gehen? Würde sie die Hilflosigkeit der anderen und ihre eigene Hilflosigkeit ertragen?
Die nächste Zeit war ein Wechselbad der Gefühle. Es gab Tage, da war sie felsenfest überzeugt, dass sie das Leben geniessen und sich selber treu bleiben würde. Sie fühlte sich stark und dem gewachsen, was auf sie zukommen sollte. Aber dann gab es auch Tage tiefster Verzweiflung. Sie fühlte sich von allen guten Geistern verlassen, war müde und kraftlos. Manchmal haderte sie damit, dass sie ihren Liebsten zur Last falle mit ihren Launen und eine Zumutung für die anderen sei. Und manchmal haderte sie damit, dass niemand begreife, wie ihr zumute sei. Es gab Tage, da lebte sie in der tiefen Gewissheit, dass ihr Glaube sie auch durch diese schwere Zeit hindurchtragen würde. Aber dann gab es auch die Momente, in denen sie das Gefühl hatte, völlig allein und von Gott verlassen zu sein. Dann konnte weder sie selbst noch irgendjemand anderes sie davon überzeugen, dass Gott doch immer noch für sie da sei. Da versank sie ganz und gar in ihrem Elend.
Die Geschichte dieser Frau habe ich erfunden, aber es gibt tagtäglich solche Geschichten. Eine niederschmetternde Arztdiagnose, ein berufliches oder privates Ereignis, durch das ein Leben aus dem Gleichgewicht gerät und heftige Stürme einen Menschen ins Wanken bringen. Und so dürfen wir den Sturm, in den die Jünger Jesu auf dem See Genezareth geraten, als ein Bild sehen für die Stürme, in die unser Leben geraten kann. Dann sitzen wir mit den Jüngern im Boot und versuchen, den Wellen zu trotzen. Den Jüngern auf dem See Genezareth erscheint eine Gestalt, die sie zunächst für ein Gespenst halten und ihre Angst wird noch grösser. Es ist Jesus. Sie erkennen ihn an seinen Worten: „Seid getrost, ich bin es. Fürchtet euch nicht!“ Sie erkennen die vertraute Stimme und wissen nun, dass sie keine Gespenster fürchten müssen. In der Gegenwart Jesu gewinnen sie neuen Mut und mit neuer Zuversicht trotzen sie den Wellen.
Wenn wir mit den Stürmen unseres Lebens zu kämpfen haben, sehnen wir uns da nicht manchmal auch nach dieser Stimme Jesu, die uns sagt: „Seid getrost, ich bin es. Fürchtet euch nicht!“, nach einer inneren Gewissheit, dass wir nicht allein und verloren sind, sondern auf göttliche Hilfe und Kraft vertrauen dürfen? Eine Stimme, die uns mit Zuversicht erfüllt und in uns das Vertrauen weckt, dass wir in den Stürmen nicht untergehen werden. Unser heutiger Predigttext will uns dazu ermutigen, immer wieder neu auf die Stimme Jesu zu hören, diese Stimme, die uns Lebensmut schenkt und die Angst von uns nimmt. Sie will uns stärken in dem Vertrauen, dass Gott uns in den Stürmen und Wellen unseres Lebens nicht im Stich lässt.
Wieviel Vertrauen, ja wieviel Wagemut diese Stimme wecken kann, zeigt die Geschichte an Petrus. Er verliert nicht nur die Angst, das Schiff könnte kentern. Er wird geradezu tollkühn und sagt zu Jesus: „Wenn du es bist, so heisse mich über das Wasser zu dir kommen.“ Und Jesus bringt ihn nicht von dieser verrückten Idee ab, sondern sagt einfach „Komm!“Und tatsächlich - das Wasser trägt ihn.
Sollten wir uns nicht gelegentlich von diesem Wagemut des Petrus anstecken lassen, es einfach wagen mit solchem Gottvertrauen und daraus erwachsendem Selbstvertrauen? Sind wir nicht allzu oft viel zu ängstlich und bewegen uns auf abgesicherten Wegen - oder bewegen uns gar nicht mehr, wenn wir keinen gebahnten Weg, keine sichere Strasse mehr sehen? Statt über die Grenzen zu klagen, mit denen wir zu kämpfen haben oder die Gefahren an die Wand zu malen, einfach losgehen, etwas Neues wagen, sich mit Gottes Hilfe etwas zutrauen …
Petrus geht los, den Blick fest auf Jesus gerichtet - und tatsächlich, das Wasser trägt ihn. Es trägt ihn, bis er wieder den Wind beachtet - und augenblicklich bricht sein Vertrauen ein. Er bekommt es mit der Angst zu tun und beginnt zu sinken. Wo vorher noch grenzenloser Wagemut und grenzenloses Vertrauen war, da ist plötzlich nur noch Panik und nackte Angst.
Vielleicht kennen sie auch solche Situationen, wo der Mut und das Vertrauen sie plötzlich verlassen haben. Sobald wir den Wind und die Wellen sehen und uns davon verunsichern lassen, schmilzt unser Vertrauen wie Wachs in der Sonne dahin. Dagegen sind wir oft ziemlich machtlos. Hätte Petrus nicht einfach den Blick fest auf Jesus richten müssen? Dann wäre er wohl nicht untergegangen - so könnten wir sagen. Und manchmal bekommen ja auch wir das zu hören. Du musst den Blick nur fest auf Jesus gerichtet haben, du musst nur Gottvertrauen haben, dann lässt er dich auch nicht im Stich. Das ist im Grunde nicht falsch - und doch stimmt es einfach nicht. Denn Gottvertrauen ist keine Vernunftentscheidung, keine Willensleistung. Petrus kann einfach nicht anders. Der Wind und die Wellen haben sein Denken und Fühlen in Besitz genommen. Das hat er nicht im Griff.
Dramatisch ist der Vertrauensverlust, den Petrus hier erlebt. Aber er vermag noch zu rufen: „Herr, rette mich.“ Und Jesus streckt seine Hand aus und hält ihn. So wie er zuvor den Wagemut und das Vertrauen bei Petrus geweckt hat, so rettet er ihn nun davor, in den Wellen zu versinken.
Es gibt auch bei uns diese Momente, wo aller Wagemut uns verlässt und alle Gewissheit, alles Vertrauen dahinschwinden. Solche Erfahrungen bleiben uns nicht erspart. Aber wie Petrus bleibt uns dann der Ruf nach der Hand, die uns zu halten vermag, wenn wir den Halt verloren haben.
Wie ein Freund nimmt Jesus den Petrus bei der Hand. „Du Kleingläubiger“, sagt er zu ihm, „warum hast du gezweifelt.“ Aber ich stelle mir die Stimme Jesu dabei nicht vorwurfsvoll, sondern eher wohlwollend und mitfühlend vor. Er weiss um die Ängste und die Ohnmacht des Petrus in seiner Lage. Als ob er ihm sagen wollte: „Ich verstehe, dass dich der Mut verlassen hat und du angefangen hast zu zweifeln. Aber du sollst wissen, dass du eigentlich keinen Grund dazu hast, weil ich da bin und dich niemals im Stich lasse.
Jesus macht Petrus und auch uns unsere Ängste und Zweifel nicht zum Vorwurf. Aber er erinnert uns daran, dass wir keine Angst haben müssen, weil seine Hand uns hält. Und er zeigt uns, dass wir nicht nur auf seine rettende Hand vertrauen dürfen, sondern auch auf die Kraft und den Mut, die er in uns freizusetzen vermag. Jesus möchte nicht nur, dass Petrus ihm zutraut, ihn vor dem Versinken zu retten. Er möchte auch, dass er sich zutraut - aus der Kraft, die Jesus in ihm geweckt hat - selber über das Wasser zu gehen.
Auch in uns möchte Jesus nicht nur Vertrauen in seine rettende Hand, sondern auch ein Selbstvertrauen wecken, dass uns die kraft gibt, auch in schwierigen Situationen unseren Weg zu gehen und uns nicht zu schnell von den Wellen und Stürmen entmutigen zu lassen. Wenn ihr sinkt, dann bin ich da - das ist Jesu Botschaft an uns -, aber ich traue euch zu, auf eigenen Füssen zu stehen und euren Weg kraftvoll zu gehen.
Und wie könnten wir die Geschichte nun der krebskranken Frau erzählen, die am Beginn der Predigt stand? Vielleicht wird sie sich verstanden fühlen im Wechselbad ihrer Gefühle, in den Anfällen von Ohnmacht und Verzweiflung, die nicht ausbleiben. Aber hoffentlich wird sie ihr auch Mut machen, sich aufs Wasser hinauszuwagen, nicht nur die Dinge zu sehen, die sie verliert, sondern die Möglichkeiten zu nutzen, die ihr zur Verfügung stehen. Hoffentlich wird sie nicht nur befürchten anderen zur Last zu fallen, sondern auch Hilfe dankbar annehmen und sich freuen können an dem, was sie den anderen geben kann. Ich würde ihr wünschen, dass sie ihr Zusammensein mit anderen nicht immer unter dem Schatten ihrer Krankheit sieht und manchmal die Krankheit sogar ganz vergessen kann. Aber ich würde ihr auch wünschen, dass sie in den Momenten, wo sie alle Kraft und aller Mut verlassen, sich tragen und fallen lassen kann - in die Hände ihrer Mitmenschen und in die Hände Gottes.
Amen.
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