Donnerstag, 21. April 2011

Karfreitagspredigt zu Luk 23,33-49 am 22. April 2011

Liebe Gemeinde,
stellen sie sich vor, eine junge Frau aus unserer Zeit, nennen wir sie Ruth, hätte die Gelegenheit, den Evangelisten Lukas zu seiner Passionsgeschichte zu befragen. Welche Fragen hätte sie wohl und was würde sie Lukas über unsere Zeit erzählen? Ich möchte es einfach einmal ausprobieren:

Ruth: Lukas, ich habe die Passionsgeschichte schon oft gehört. Aber immer noch erschrecke ich darüber, was sie Jesus angetan haben. Wie grausam Menschen doch sein können. Er hat ja niemand etwas zuleide getan. Im Gegenteil, er hat den Menschen geholfen und Mut gemacht. Und dann ist er in die Mühlen der Politik geraten, ein unschuldiges Opfer.

Lukas: Es ist gut, Ruth, wenn du darüber erschrickst. Denn viele gewöhnen sich erschreckend schnell an den Anblick des Leides. Zahllose Menschen sind ja zu meiner Zeit gefoltert und getötet worden, Schuldige und Unschuldige. Ich möchte, dass Menschen sich berühren lassen von diesem Leiden Jesu, dass sie hinsehen und Mitgefühl haben und zwar nicht nur weil es Jesus ist, sondern weil da ein Gerechter leidet. Wer auf Jesu Kreuz ehrfürchtig blickt, weil es Jesus ist, der da leidet, aber an den Kreuzen der anderen Menschen achtlos vorbeigeht, der hat nicht begriffen, was Gott uns sagen will.

Ruth: Bist du deshalb so zurückhaltend mit den Ehrentiteln für Jesus und nennst ihn kaum einmal Sohn Gottes oder Christus oder Auserwählter, und wenn, dann meist aus dem Munde der Spötter?

Lukas: Ja, das stimmt. Diese Titel sind ja alle nicht falsch. Im Glauben erkennen wir Jesus als Sohn Gottes, als Christus, als unseren Erlöser. Aber alles hängt für mich davon ab, dass wir in ihm zuerst einmal den Menschen sehen und auch wenn er für uns mehr ist als einfach ein Mensch, bleibt er doch auch dies, ein Mensch, ein Mensch der leidet, ein Mensch, der zu Mitgefühl und Zuwendung fähig ist und der Mitgefühl und Zuwendung braucht, ein Mensch aus Fleisch und Blut. Mit der Menschlichkeit fängt alles an und ohne Menschlichkeit, ohne die Menschlichkeit Jesu und unsere Menschlichkeit gibt es keinen christlichen Glauben.

Ruth: Und darum sagt auch der römische Hauptmann bei dir am Ende nur: dieser ist ein frommer Mensch gewesen. Bei Markus sagt er ja: dieser ist Gottes Sohn gewesen. Ist „frommer Mensch“ nicht ein bisschen wenig für Jesus?

Lukas: Weisst du, weder Markus noch ich standen damals unter dem Kreuz. Wir können nur weitererzählen, was man uns berichtet hat und was uns eingeleuchtet hat. Meine Grundüberzeugung, meine Glaubenseinsicht ist: Wer Gott erkennen will, der darf den Menschen nicht aus dem Blick verlieren. „Sohn Gottes“ aus dem Munde eines römischen Hauptmanns, das lässt mich an den Kaiser denken, der sich ja als Sohn Gottes feiern liess. Manche von uns sind dafür gestorben, dass sie sich an dieser Gotteslästerung nicht beteiligen wollten. Aber wenn wir Gott in Jesus erkennen sollen, dann steht mir das Bild des gekreuzigten Menschen vor Augen, des leidenden Gerechten. Dieser Anblick berührt mich, erfüllt mich selbst mit Mitgefühl und Anteilnahme – am Geschick Jesu, aber auch am Geschick all der Menschen, die leiden müssen, die ein Kreuz zu tragen haben. „Ein frommer Mensch“, das ist sicher nicht alles, was man über Jesus sagen kann, aber wer mit den grossen Worten beginnt, vergisst allzu leicht die kleinen, alltäglichen Dinge. Und unseren Glauben können wir gar nicht anders leben als in der kleinen Münze alltäglicher Anteilnahme, Fürsorge und Liebe.

Ruth: Das leuchtet mir ein, Lukas, und Jesus hat uns ja mit seinem ganzen Leben und noch in seinem Sterben diese Menschlichkeit vorgelebt. Wie er noch am Kreuz für die eintritt, die ihm dieses Leid zufügen: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ – das ist schon überwältigend. Ich denke, auch wir wissen manchmal nicht, was wir tun. Wir wollen das Gute und tun das Böse. Wir meinen, einfach unsere Pflicht zu tun und richten damit Unheil an. Wir machen immer wieder die gleichen Fehler, weil wir nicht aus unserer Haut können. Da tut es gut zu wissen: Jesus tritt selbst für die ein, die ihn ans Kreuz schlagen. Wie sollte er dann nicht auch für uns eintreten? Und er stellt dabei nicht einmal Vorbedingungen.

Lukas: Ja, Ruth, das ist das Grossartige und Befreiende. Jesus liebt die Menschen, bedingungslos, und diese Liebe kann Menschen verändern, weil sie befreit sind von dem Druck, sich ständig zu rechtfertigen, ihre Schuld, ihre Fehler zu verbergen. Das sehen wir an dem einen Mitgekreuzigten und an dem Hauptmann. Einer der Mitgekreuzigten erkennt und bekennt, dass er schuldig ist, aber er versinkt nicht in Gram über seine Schuld, sondern traut sich, Jesus um Beistand zu bitten. Er glaubt, dass der, der im Sterben bitten kann „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, auch ihm beistehen und vergeben kann. Und er irrt sich nicht. „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein“, antwortet Jesus ihm. Und auch der Hauptmann kommt zu seiner Einsicht, weil er die Grösse und Menschlichkeit Jesu wahrnimmt und sich davon berühren lässt.

Ruth: Die beiden Mitgekreuzigten reagieren ja grundverschieden. Der eine erkennt seine Schuld und wendet sich hilfesuchend an Jesus, der andere flüchtet sich in Zynismus und Spott. Er schlägt sich auf die Seite derer, die immer einen brauchen, den sie klein machen und demütigen können. Für ihn scheint das eigene Leid erträglicher, wenn er es spottend und zynisch übertünchen kann. Ganz anders der andere. Er spürt, dass ihm da ein barmherziger Mensch begegnet, einer demgegenüber er nicht den Starken spielen muss, einer, der ein Herz für ihn hat, der auch ihm Erbarmen schenkt. Jesus strahlt noch in seinem Leiden Liebe aus, grenzenlose Liebe. Wie gerne wäre ich auch zu solcher Liebe fähig, im Kleinen, in meinem Alltag. Denn ich weiss ja, dass die Liebe menschlicher macht. Es ist mir schon manchmal passiert, dass meine Kinder etwas angestellt haben und ich wütend und aufgeregt gefragt habe: „Wer war das schon wieder.“ und entweder betretenes Schweigen geerntet habe oder das alte Spiel: Der war’s. Nein die war’s.“ Und fast jedes Mal, wenn es mir gelungen ist, erst einmal tief durchzuatmen und ich meine Kinder in den Arm genommen habe und ihnen ehrlich sagen konnte: „Ich habe euch ganz fest lieb.“ Dann hat wie von selbst eines gesagt: „Es tut mir leid. Ich war’s.“ Weil dann das Vertrauen da ist: es mag zwar schlimm sein, was ich angestellt habe, aber nichts ist so schlimm, dass mich Mama nicht mehr lieb hat. Und dieser Jesus, der noch am Kreuz sagt: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, dieser Jesus kann in uns dieses kindliche Vertrauen wecken, dass wir uns nicht mehr verstecken müssen, sondern zu unserer Verantwortung stehen können, für das, was wir tun und unterlassen. Und dieses Vertrauen ist eine grosse Befreiung. Ich glaube, Erlösung ist dafür kein zu grosses Wort.

Lukas: Dein Beispiel finde ich schön. Es trifft für mich gut, was Jesus für uns getan hat. Er liebt uns und er ist dieser Liebe treu – treu bis in seinen Tod. Diese Liebe macht uns frei. Sie macht uns frei, uns selber im Licht seiner Liebe zu sehen, so wie wir sind und doch geliebt. Und dann können wir auch unsere Mitmenschen in diesem Licht sehen und die Barmherzigkeit, die wir erfahren haben, weitergeben.

Ruth: Ich habe mich immer schwer getan damit, dass Gott seinen Sohn geopfert haben soll für unsere Schuld. Jetzt merke ich, dass es nicht darum geht, dass Gott ein blutiges Opfer braucht, sondern dass wir Menschen auf diese bedingungslose Liebe angewiesen sind, die Jesus uns gezeigt hat und an der er festgehalten hat auch dann noch, als sie ihn ans Kreuz geführt hat. Gott fordert nicht diesen Tod, er erduldet ihn eher – aus Liebe. Und er überwindet ihn an Ostern. Wir sollen auf das Kreuz blicken und uns zur Menschlichkeit bewegen lassen. Wir können Verantwortung übernehmen und müssen Schuld nicht verdrängen. Aber wir dürfen uns auch Gottes Erbarmen gefallen lassen und unseren Mitmenschen Güte und Barmherzigkeit erweisen. Und wir dürfen an das Leben glauben, daran, dass Gott Leben schenkt, das den Tod überwindet.

Lukas: Ja, Ruth, aus diesem Vertrauen dürfen wir leben. Dieses Vertrauen spricht auch aus Jesu letzten Worten: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Wer Gottes Liebe vertraut im Leben, im Leiden und im Sterben, der hat auf keinen Sand gebaut, der kann menschlich leben und Menschlichkeit weitergeben. In Jesu Kreuz steht uns vor Augen, zu welcher Unmenschlichkeit wir fähig sind, sehen wir all die Kreuze auf dieser Welt. Aber in Jesu Kreuz erkennen wir Gottes befreiende Liebe und Menschlichkeit. Amen.

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