Samstag, 5. Mai 2012
Predigt über Jesaja 12,1-6 am 6. Mai 2012
Liebe Gemeinde!
Wenn es uns gut geht und wir glücklich sind, dann singt es sich leicht, dann wird vielen Menschen die Freude zum Lied, zu einer fröhlichen Melodie. Aber wenn es nichts zu lachen gibt, wenn trübe Gedanken unsere Seele belasten, wenn Not und Trauer unser Leben verdunkeln? Dann ist vielen von uns nicht zum Singen zumute. Aber käme es nicht gerade in solch schweren und dunklen Zeiten unseres Lebens darauf an, dass wir wieder ein neues, ein besseres Lied singen können als das ewige Lied des Jammerns und Klagens – oder uns hineinbegeben in die Gemeinschaft derer, die Lob- und Danklieder singen können? Ich denke, die Kraft der biblischen Botschaft hat nicht zuletzt etwas damit zu tun, dass hier auch im tiefsten Dunkel das Lob Gottes nicht verstummt. Gerade die Psalmen, dieses Gesangbuch der Bibel macht uns das immer wieder bewusst. Wie tief das Dunkel auch sein mag, wie sehr die Beterinnen und Beter in ihrer Not auch am Rande der Verzweiflung sind, vielleicht gar erfüllt von tiefen Hass- und Rachegefühlen – immer münden die Psalmen am Ende in eine andere Melodie, eine Melodie, die Gott preist für seine Güte und ihn zugleich bittet, ja geradezu beschwört, sein Angesicht wieder zuzuwenden, das eigene Schicksal zu wenden.
Auch unser heutiger Predigttext ist ein solches Loblied in dunkler Zeit:
Lesung Jes 12
Ein wahrhaft kühner Vorgriff auf eine glückliche und heilvolle Zukunft ist dieses Danklied der Erlösten aus dem Jes – ein kühner Vorgriff in der dunkelsten Stunde des Volkes Israel. Wo die meisten ihr trauriges Schicksal beweinen und Mut und Hoffnungslosigkeit sich breit machen, wagt da einer ein neues Lied anzustimmen, nicht schicksalsergeben oder hadernd, sondern hoffnungsvoll und zuversichtlich.
Israel befindet sich in der babylonischen Gefangenschaft. Wird es je wieder eine glückliche Zukunft, eine Rückkehr in die Heimat geben? War das bittere Exil die gerechte Strafe Gottes, weil die Israeliten so oft von den Weisungen und Wegen ihres Gottes abgewichen waren? Oder war es vielmehr der Beweis der Ohnmacht dieses Gottes? Haben wir es nicht besser verdient oder hat Gott uns im Stich gelassen? Der Verfasser unseres Predigttextes findet sich nicht ab mit dieser trostlosen Alternative. Er kennt die alten Worte des Propheten Jesaja, die etwa 150 Jahre früher gesprochen wurden. Er weiss wie sehr der Prophet sein Volk gewarnt hat, sich nicht allein auf eigene Macht und Stärke zu verlassen, sondern den Weisungen seines Gottes zu folgen. Hat er nicht angeprangert, wie die Grossen und Mächtigen die Armen und Kleinen bedrücken? Hat er sie nicht gewarnt vor dem Vertrauen auf militärische Stärke und sie dazu aufgerufen den Weg des Glaubens, des Friedens und der Gerechtigkeit zu gehen? Ja, das Exil ist wohl wirklich die logische Konsequenz der Irrwege seines Volkes. Und doch ist es für ihn nicht das Ende der Wege Gottes. Denn er weiss auch um Gottes Verheissungen, um seine Treue und Verlässlichkeit. Und so schreibt er die alten Prophetenworte fort und stimmt ein neues Lied an, schreibt und singt an gegen die Resignation und Hoffnungslosigkeit. Er wagt es, von einer Zeit zu reden, in der die Menschen zuversichtlich ans Werk gehen, mit Freuden Wasser schöpfen und erkennen, dass Gott mit ihnen geht. Die Zeit der Vorwürfe, der Anklagen und des Selbstmitleids ist vorbei. Jetzt gilt es, über die gegenwärtige Misere hinauszuschauen und wieder zu träumen von einer guten und heilvollen Zukunft. Erst wenn wir das wieder wagen, kann es auch gelingen, phantasievoll und zuversichtlich vorwärts zu gehen und neue Energien zu entwickeln. Nicht, weil wir Träumer oder billige Optimisten sind, sondern weil wir die Verheissungen unseres Gottes haben.
Singt dem Herrn ein neues Lied – diese Aufforderung steht über dem Sonntag Kantate. Sie ist eine Einladung, das Lob Gottes auch dann nicht verstummen zu lassen, wenn die Erfahrungen unseres Lebens uns ein solches Lob nicht unbedingt nahe legen. Gerade in dunklen Zeiten ist es wichtig für uns, dass wir in den Raum des Gotteslobs eintreten können. Ich habe das ganz bewusst so formuliert. Denn Gott zu loben in schwerer Zeit, das ist mehr als wir eigentlich können. Wenn wir bei einer Trauerfeier, bei der der Abschied fast nicht auszuhalten ist, die Worte Dietrich Bonhoeffers singen: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag“, dann können wir das wohl nur, weil wir uns diese Worte leihen dürfen und sie nicht selber finden müssen. Und ich denke, dass es leichter ist, diese zu singen, als sie einfach zu sprechen. Dieses Lied ist wie ein Raum, in den wir eintreten dürfen, der einfach da ist für uns. Wenn wir dieses Lied singen, dann probieren wir aus, wie das ist, sich in diesem Raum zu bewegen. Und vielleicht können wir ein wenig heimisch darin werden, uns darin bergen in unserer Trauer und spüren, dass da noch eine Kraft ist, die über unsere Trauer hinausweist.
Manche von ihnen haben wohl auch schon die Erfahrung gemacht, wie sich ein tiefer Friede ausbreiten kann, wenn sie am Bett eines schwer kranken oder sterbenden Menschen ein Lied gesungen haben. Oder es ist für mich immer wieder beeindruckend, wie sich das Gesicht eines Menschen verändern kann, wenn ich mit ihm oder für ihn die Worte des 23. Psalms spreche. Und ich denke daran, wie viel gerade älteren Menschen das Lied „So nimm denn meine Hände bedeutet“ – und nicht nur den besonders Frommen. Viele Menschen spüren, dass solche Worte und vor allem solche Lieder ein Raum sind, in dem sie sich bergen können. Sie sind uns geschenkt und wir müssen sie nicht erst machen. Aber entdecken müssen wir diese Räume und wir müssen es wagen, in sie einzutreten. Es sind einladende Räume und niemand darf hineingezwungen werden. Zum Glauben und zum Gottvertrauen kann niemand aufgefordert werden. Das ist nichts was wir machen oder erzwingen können. Und es kann vielleicht besser sein, anderen erst einmal beim Singen zuzuhören, wahrzunehmen wie das tönt und wie die Töne und die Worte in mir anklingen. Aber es ist wichtig für uns, dass wir wissen: wir dürfen die Worte und Melodien ausprobieren. Es kommt nicht darauf an, dass wir jedes einzelne aus vollem Herzen mitsprechen und mitsingen können. Ich möchte sie viel eher einladen, die alten Worte und Melodien einfach einmal auszuprobieren. Das mag durchaus in der Haltung sein: Wie wäre das, wenn wir wirklich von guten Mächten wunderbar geborgen wären – auch wenn ich das momentan kaum glauben kann. Wie wäre das, wenn ich tatsächlich mit Freuden Wasser schöpfen dürfte aus den Quellen der Rettung, auch wenn ich um mich nur Wüste sehe. Ich stelle mir einmal vor, dass da einer ist, der sich um mich sorgt, damit ich keinen Mangel leide und der meinen Tisch reichlich füllt.
Vielleicht denken sie jetzt, dass das alles ein bisschen wenig ist und dass uns das alles und viel mehr in der Bibel zugesagt ist und wir das nicht nur ausprobieren, sondern wirklich glauben sollen. Das stimmt natürlich. Trotzdem denke ich, dass Messlatten und feste Vorschriften im Glauben nicht weiterhelfen. Deshalb möchte ich zum Ausprobieren einladen. Deshalb ist mir das Bild von den Worten und Melodien, die wir uns leihen können, von den Räumen, die wir betreten dürfen so wichtig. Ich denke, dass es Menschen leichter fällt, sich auf den Glauben einzulassen, wenn sie wissen, dass sie nicht dieses oder jenes glauben müssen, sondern ihnen auch Räume fremd bleiben dürfen und sie sich auch eingestehen dürfen, dass ihnen Glaubenssätze und Hoffnungen anderer im Moment fremd bleiben und nicht zugänglich sind. Vielleicht sind es ja Räume, Melodien und Worte, die ihnen zu einer anderen Zeit ihres Lebens wichtig werden. Solche Offenheit und Experimentierfreude wünsche ich mir für unseren Glauben.
Dann können wir auch die Einladung unseres Predigttextes hören, unserem Gott Loblieder zu singen, weil wir nicht vergessen, wie viel Gutes er uns bis hierher getan hat und weil wir glauben, dass er uns auch durch das Dunkel begleitet und unser Dunkel wieder hell machen kann. Mit den Worten unseres Predigtliedes:
„Sollt ich meinem Gott nicht singen! Sollt ich ihm nicht dankbar sein?
Denn ich seh in allen Dingen, wie so gut er’s mit mir mein.
Ist doch nichts als lauter Lieben, das sein treues Herz bewegt,
das ohn Ende hebt und trägt, die in seinem Dienst sich üben.
Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit.“ Amen.
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