Freitag, 24. Dezember 2010

Predigt zu Micha 5,1-4a am 1. Weihnachstag 25. Dezember 2010

Liebe Gemeinde,
ohne unseren heutigen Predigttext gäbe es die Weihnachtsgeschichte des Lukas nicht und wohl auch kein Weihnachtsfest. Wir wären ärmer – zweifellos. Denn es sind diese Worte des Micha, die Lukas zu seiner Geburtsgeschichte inspiriert haben. Der, der die Menschen um sich Gottes Nähe und Liebe erfahren liess, der, den die frühe Christenheit als Gottes Sohn und Heil der Welt bekannte – ihn liessen Mt und Lk in Bethlehem das Licht der Welt erblicken. War er nicht ihr Friede geworden? Hatte er nicht die Menschen in Kraft geweidet? Sie erinnerten sich an die uralten Worte des Micha. Sie vergewisserten sich – so würde man das heute wohl nennen – ihrer kulturellen Wurzeln.
Gott erwählt das Kleine und Verachtete. Diese Glaubenserkenntnis durchzieht wie ein roter Faden die heiligen Schriften der jüdischen und der christlichen Tradition. Sie ist ein Grundbestand unserer Kultur. Ohne diesen Glauben würden wir uns selbst verraten, unsere Identität aufgeben. Das ist nun nicht etwas, was wir uns stolz wie einen Orden an die Brust heften können, mit dem wir unsere kulturelle Überlegenheit demonstrieren könnten. Es ist viel mehr Auftrag und Berufung, aber auch unverbrüchliche Zusage Gottes an alle, die sich um Menschlichkeit und Güte bemühen, die das Kleine nicht verachten, die sensibel und mitfühlend sind und sich nicht gegen andere durchsetzen wollen.
Das gilt umso mehr, als die Geschichte Jesu von der Heiligen Nacht bis zu seiner Auferstehung und Himmelfahrt keine sichtbare Erfolgsgeschichte ist. War bei David die Kindheit als Hirtenjunge aus dem kleinen und unbedeutenden Bethlehem noch der Anfang späterer Grösse und Königsmacht, so ist aus dem Kind im Stall nicht mehr als ein umstrittener Wanderprediger geworden, den sie als Aufrührer ans Kreuz geschlagen haben. In dieser Geschichte bleibt das Kleine klein und doch geht von ihm eine Grösse aus, eine sanfte Macht, die Frieden schaffen kann, eine Botschaft der Menschlichkeit, die weiterwirkt. Gott erwählt das Kleine nicht zu äusserlich sichtbarer Grösse und Herrlichkeit, sondern zur Menschlichkeit, zur Versöhnung mit der eigenen Geschichte, zum Glauben, dass unsere Geschichte eine Geschichte mit Gott ist, dass Gott jedem einzelnen von uns nahe ist.
Weihnachten ist das Fest der grossen Gefühle und wir sollten uns dagegen wehren, diese grossen Gefühle lächerlich zu machen. Ohne die Sehnsucht nach himmlischem Frieden, nach Harmonie und Verständnis wären wir gewiss ärmer. Wir dürfen diese grossen Gefühle wahrnehmen, es geniessen, wenn etwas davon einströmt in unsere weihnachtliche Festlichkeit. Und was uns hilft, solche Harmonie zu empfinden, das sollten wir nicht verachten, weder die alten Lieder und Geschichten, noch die Geschenke, den festlich gedeckten Tisch, die Familienbesuche. Nur frei machen sollten wir uns von dem Druck, all das machen zu müssen, so empfinden zu müssen. Weihnachten unterbricht unseren Alltag, aber es hebt ihn nicht einfach auf. Auch an Weihnachten müssen Menschen leben mit Krankheit, mit der Ungewissheit einer lebensbedrohlichen Diagnose, oder einer bevorstehenden Operation. Auch an Weihnachten kriselt es in Ehen, machen Menschen einander das Leben schwer. Auch an Weihnachten gibt es Krieg und Gewalt, auch wenn manchmal – aber längst nicht immer - zumindest an diesen Tagen die Waffen ruhen. Auch an Weihnachten sind Menschen einsam, weil sie am Rand der Gesellschaft stehen. Und gerade an Weihnachten empfinden wir besonders schmerzlich, wenn der Tod uns einen lieben Menschen genommen hat.
„Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein grosses Licht und denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.“ So heisst es bei Jesaja. Und bei Micha: „Er wird weiden in der Kraft des Herrn und sie werden sicher wohnen.“ Dieses Licht, diese gute Nachricht lässt sich nicht erzwingen oder aufdrängen. Vielleicht aber leuchtet im Herzen eines Trauernden auf, was er an dem verstorbenen Menschen gehabt hat und es tröstet ihn über den Verlust und lässt ihn die Kraft finden, den Blick auch wieder nach vorne zu richten. Vielleicht kann dieses Licht im Herzen eines Kranken aufleuchten und ihm das Gefühl geben, dass es sich lohnt zu kämpfen, sich zu freuen über die Menschen, die für ihn da sind, zu vertrauen auf die Gegenwart Gottes auch im Leid. Vielleicht kann es sogar helfen, sich mit dem eignen Sterben zu versöhnen. Vielleicht kann dieses Licht der Weihnacht Menschen miteinander versöhnen oder doch den Schmerz über das, was zerbrochen ist, wahrzunehmen, ohne allein den anderen dafür verantwortlich zu machen. Vielleicht kann das Licht der Weihnachten Menschen die Gewissheit schenken, dass sie wichtig sind, dass sie dazugehören, dass es auch auf sie ankommt. An uns selber ist es, wahrzunehmen, wo wir das weihnachtliche Licht nötig haben. Erzwingen können wir es nicht, aber aufmerksam dafür sein und empfänglich, indem wir nicht das grosse vollkommene Glück erwarten, sondern die kleinen Zeichen, die unscheinbaren Dinge beachten. Gott schafft uns nicht eine vollkommene und heile Welt. Aber er will uns helfen, dass wir in den Bruchstücken unseres Lebens, dass wir in unserer Geschichte heimisch werden und sicher wohnen können. Es kommt nicht darauf an ein anderer zu werden, sondern der andere zu sein, der wir in Gottes Augen schon sind, sein geliebtes Kind. Denn er erwählt das Kleine, uns Kleine. Und niemand ist zu klein um Menschlichkeit zu erfahren und andere Menschlichkeit erfahren zu lassen.
Wenn wir Weihnachten feiern, dann spüren wir hoffentlich etwas von dieser Sehnsucht nach Frieden, die in uns steckt, von dem Bedürfnis, zuhause zu sein in unserem Leben, sich versöhnen zu können mit der eigenen Geschichte und hoffentlich können wir glauben, dass Gott das Kleine und Zerbrechliche erwählt und auch uns seine Nähe zuspricht. Und er ermutigt uns, die vielen Gelegenheiten zur Menschlichkeit zu erkennen und sie zu ergreifen. Amen.

Predigt zu Luk 2,1-20 und Joh 3,16f. am 24. Dezember 2010 (Christnachtfeier)

Liebe Gemeinde,

wir Menschen sehnen uns danach, dass unser Leben Bedeutung hat und wir mehr sind als eine Nummer. Wir sehnen uns danach, angesehen zu werden, geliebt zu werden und möchten nicht einfach austauschbar sein. Deshalb kann es uns auch verletzen, wenn jemand unseren Namen nicht mehr kennt oder sich an Persönliches nicht mehr erinnert, das wir ihm bei unserer letzten Begegnung erzählt haben. Und vielleicht reagieren wir in dieser Beziehung so verletzlich, weil wir in vielen Bereichen eben gerade erleben, dass Menschen austauschbar und ersetzbar sind. Gerade im Berufsleben sind Abläufe meist funktional durchorganisiert. Wenn jemand ausfällt, darf das System ja nicht zusammenbrechen, müssen die Abläufe weiter funktionieren. Bis zu einem gewissen Grad ist das unumgänglich. Umso wichtiger ist es aber, dass wir darauf achten, einander nicht nur als Funktionsträger wahrzunehmen und uns selbst und andere nicht nur über unsere Funktionen zu definieren - weder im beruflichen Alltag noch in unseren privaten Beziehungen. Wer sind wir, wenn wir aller Funktionen ledig sind, nackt und bloss wie das Kind in der Krippe?
Die biblische Weihnachtsgeschichte erzählt uns von der Geburt zu Bethlehem, von dem Kind in der Krippe. Sie erzählt uns: in diesem Kind in der Krippe sieht Gott uns an - nicht von oben, vom Himmel herab, sondern von unten, so dass wir uns zu ihm herabbeugen können. In dieser Geschichte geht es um das Heil in unserem Leben, das wir bei einem anderen suchen sollen, um das Heil und den Frieden, die nach der Botschaft der Bibel bei dem Kind in der Krippe von Bethlehem, bei dem Mann aus Nazareth zu finden sind. Es geht um die Urszene der Heiligen Nacht – Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegend. Diese Szene ist ein Stück Weltliteratur – gemessen an ihrer Wirkung durch die Jahrhunderte vielleicht sogar das grösste. Aber es bleibt die Frage: Stellt diese Urszene Menschen dar oder Denkmäler? Ist es eine Widerstandskraft gegen die Austauschbarkeit des Menschen, die Verlorenheit in einem Leben, das uns so undurchschaubar scheint? Oder doch nur Stoff für ein paar romantische Stunden im Jahr, denen dann wieder ein heilloser Alltag folgt? Es kommt darauf an, wie wir die Szene heute aufnehmen. Lukas jedenfalls hat einiges getan, damit sie nicht zum Denkmal wird. Er weiss darum, wie Menschen zu austauschbaren Objekten gemacht werden. Er benennt das römische Machtsystem, die Herrschaftsstrukturen mit dem Kaiser Augustus an der Spitze und einem System von Vasallen und Statthaltern darunter, von denen Cyrenius nur einer war, und denen es auf funktionierende Untertanen und nicht auf den einzelnen Menschen ankommt. Und der Anlass ist eine grosse Volkszählung, die Untertanen als zählbare Masse, an denen primär die Fähigkeit interessiert, Steuern und Abgaben zu entrichten. Josef und die hochschwangere Maria sind ein Teil dieser Masse, zu unbedeutend, zu wenig vermögend, um in einer der Herbergen der Stadt Unterkunft zu finden. Aber Lukas gibt ihnen ein Gesicht und eine Herberge in einem Stall. Dort lässt er das himmlische Kind das Licht der Welt erblicken, dort scheint das Heil der Welt auf. Wo alle Welt geschätzt werden sollte, da war dieses eine neugeborene Kind nicht von Bedeutung. Lukas aber richtet unseren Blick auf diesen einen, dieses austauschbare, verletzliche Menschenkind. Seine Geburt bringt die Engel zum singen, setzt die Hirten in Bewegung, lässt die Sehnsucht nach Frieden auf Erden neu lebendig werden. Bei Matthäus sind es sogar Weise, die von ferne her dem Stern folgen, um das Kind zu sehen. Und im Johannesevangelium heisst es: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.“ Diese Worte sind Teil von Jesu Antwort auf die Frage des Nikodemus, wie ein Mensch denn neu geboren werden könne, wenn er schon alt ist. Sie bedeuten für mich, dass wir neu geboren werden können, wenn wir spüren, dass wir angesehen und geliebt sind. Denn wer angesehen und geliebt ist, der ist nicht mehr einfach austauschbar. Wir dürfen darauf vertrauen, dass wir von Gott angesehen sind und wir können einander ansehen und so einander ein Gesicht geben.
Diese Worte und die Geschichte aus dem Stall von Bethlehem sind für mich Urbilder der Menschlichkeit, der Liebe und Güte unseres Gottes. Sie lehren uns die Auflehnung gegen alles, was die Menschen zu austauschbarem Krempel macht. In diesem einen Kind sagt uns Gott: Du bist mir wichtig, du mit allem was zu dir gehört, mit deinen Macken, mit dem was dich bedrückt, mit allem was dich glücklich macht. Die Weihnachtsgeschichte leugnet das schreckliche Gefühl der Austauschbarkeit von Menschen nicht, aber sie setzt ihm etwas entgegen, die Liebe Gottes, die in diesem verletzlichen Kind in der Krippe lebt, mitten unter uns und von dem ein Licht ausgeht, das auch in unser Herz hineinleuchten kann. Lukas setzt nicht der idealen Kleinfamilie ein Denkmal, sondern er lässt das Heil Gottes hineintreten in das Leben ganz normaler, scheinbar austauschbarer Menschen, in einen schäbigen Stall, in einem schutzbedürftigen Kind. Gerade darum ist Weihnachten das Fest der Menschlichkeit, der gefährdeten, zerbrechlichen Menschlichkeit, der göttlichen Würde jedes einzelnen Menschen.
Dieses Licht, das uns in der Weihnachtsgeschichte aufleuchtet, soll hineinstrahlen in unseren Alltag. Möge es denen leuchten, die vor einer gesundheitlich ungewissen Zukunft stehen, damit sie spüren, dass Gott bei ihnen ist und Menschen da sind, für die sie wichtig und unersetzbar sind. Möge es denen leuchten, die sich abgeschoben und überflüssig vorkommen, damit sie erkennen, dass sie wertvoll sind. Möge es denen leuchten, die trauern um einen Freundschaft oder Partnerschaft, damit sie auch im Scheitern noch erkennen, dass der Schmerz und die Wut auch ein Zeichen dafür sind, dass Menschen nicht einfach ersetzbar sind. Möge es uns allen leuchten, da wo wir uns klein und austauschbar fühlen, damit wir wahrnehmen, wie wichtig wir füreinander, wie wichtig wir für Gott sind. Da wo wir menschlich handeln, wie unvollkommen auch immer, da wo wir einander menschlich begegnen, aneinander Anteil nehmen und einander spüren lassen, dass der andere zählt, da wird es Weihnachten, da stimmen die Engel ihren Lobgesang an: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen, an denen Gott Wohlgefallen hat“. Amen.

Samstag, 11. Dezember 2010

Predigt zu Luk 1,26-33.38 am 12. Dezember 2010

Liebe Gemeinde,
wie oft ist diese biblische Szene aus dem Lukasevangelium in der Kunst dargestellt worden: der Engel Gabriel kündigt Maria die Geburt Jesu an. Viele Künstler hat die Verkündigungsszene zu Bildern von bezaubernder Schönheit und anrührender Zärtlichkeit inspiriert. Es ist eine berührende Szene, eine Szene, die sich nicht in der Öffentlichkeit, sondern in der Kammer eines jungen Mädchens abspielt. Nur sie und der Engel sind beteiligt – aber für Lukas kündigt sich in dieser intimen Szene, in dieser Stille und Abgeschiedenheit etwas an, was die Welt verändern und prägen wird. Hier wird intoniert, was der Engel dann den Hirten auf den Feldern von Bethlehem verkündet: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch grosse Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist heute der Heiland geboren.“ Hier beginnt, was die Engelchöre jubilieren lässt: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“

In der Verkündigungsszene geht es nicht nur um die Botschaft, die damals Maria sich zu Herzen genommen hat. Sie ist überliefert und in der Kunst tradiert worden, weil sie auch für uns eine existentielle Botschaft trägt. Mit Blick auf die Weihnachtsgeschichte hat das der Mystiker Angelus Silesius einmal wunderbar formuliert: "Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren // und nicht in dir; du bleibst noch ewiglich verlorn." Es geht nicht allein darum, was damals zwischen Nazareth und Bethlehem geschah. Maria ist unsere Schwester im Glauben und der Engel redet auch zu uns. Welche Botschaft hat er uns zu sagen? Was sagt er uns, wenn wir spüren, dass die Routinen unseres Alltags uns manchmal abstumpfen lassen und uns alle Lebendigkeit und Kraft nehmen? Womit richtet er uns auf, wenn wir traurig oder gar verzweifelt sind? Was vernehmen wir, wenn wir den Weg nicht mehr sehen und in Sackgassen gefangen sind? Welche Worte ermutigen uns, wenn wir uns nur wenig zutrauen oder wenn wir gebeugt sind durch schwere Lasten oder auch durch Fehler und Schuld? Können wir dann wie Maria den Besuch des Engels wahrnehmen, und uns aufmerksam machen lassen auf das, was in uns geboren werden will, auf das Heilsame und Tröstende, das in unseren Herzen heranwächst? Haben wir Augen und Ohren für die Menschen, die Gott uns dann als seine Engel sendet, um uns zu trösten, aufzurichten, vielleicht auch zur besinnung zu bringen?

So ist das erste, was ich aus dieser Geschichte mitnehme, eine Einladung zur Achtsamkeit. Achte auf die Botinnen und Boten Gottes in deinem Leben. Gott sendet seine Boten. Sie reden zu uns, in unseren Träumen, durch die innere Klarheit, die in uns wächst und vor allem auch durch die Menschen, die uns begegnen, durch alltägliche Ereignisse, die uns berühren und verändern. Achtsam sein auf die guten, die klärenden Worte, die uns gesagt sind – darauf kommt es an, und es müssen beileibe keine Männer mit Flügeln sein, die Engel. Aber die Engel Gottes begleiten auch uns – jede und jeden und sie haben uns viel zu sagen. Sie können uns die Furcht nehmen. Ja, es fällt mir immer wieder auf, dass der häufigste Satz aus Engelmund in der Bibel lautet: „Fürchte dich nicht!“ Und wer von uns hätte das nicht immer wieder nötig, dass da einer sagt: Hab keine Angst, Gott ist bei dir und er meint es gut mit dir. Die Engel können uns helfen, das Gute in unserem Leben zu entdecken, sie können uns zeigen, was in uns und durch uns neu geboren wird. Das erste ist die Achtsamkeit, damit wir die Engel, die Gott uns sendet, nicht übersehen.

Das Zweite aber ist die demütige und zugleich selbstbewusste Haltung der Maria. Was hat man alles auf dem Rücken dieser Frau abgeladen. Wie hat man sie zum Streitthema der Konfessionen gemacht. Aber wir brauchen Maria nicht als ewige Jungfrau und Himmelskönigin, als Madonna, der nach und nach alle menschlichen und fehlerhaften Züge genommen wurden. Wichtiger für uns, denke ich, ist, was uns mit ihr verbinden kann. Maria, unsere Schwester im Glauben, nimmt den Engel, der in ihr Leben tritt, wahr. Sie übersieht ihn nicht. Sie nimmt seine Botschaft ernst, auch wenn sie noch so unglaublich scheinen mag. Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Das lässt sie sich gesagt sein. Mir geschehe nach deinem Wort. Sie nimmt den Weg an, den Gott sie führt. Sie macht ihn zu ihrem eigenen Weg, den sie selbstbewusst geht.

Lassen wir uns nicht in die Irre führen von den Worten „siehe, ich bin des Herrn Magd“. Maria ist nicht unterwürfig. Ich sehe sie eher als starke Frau. Sie stellt sich unter den Willen Gottes, gewiss. Aber sie tut das nicht gebeugt, sondern in aufrechter Haltung. Ja, sie will diesem Kind das Leben schenken, das Gottes Sohn genannt werden soll. Sie nimmt diese schier unglaubliche Berufung an. Das ist für mich die zweite wichtige Botschaft dieser Szene. Wer sich unter den Willen Gottes stellt, der kann sein Schicksal annehmen. Der muss nicht beständig gegen sein Schicksal rebellieren und irgendwelchen Träumen hinterher rennen, aber der muss auch nicht gebeugt unter der Last des Schicksals gehen. Wenn ich meinen Weg als Weg Gottes verstehen kann, dann darf ich auch glauben, dass Gott auf diesem Weg etwas mit mir vorhat, dass er mir etwas zutraut und dass dieser Weg mit all seinen Umwegen und Irrwegen ein lebenswerter, ein sinnvoller Weg ist. Und darum darf ich ihn auch aufrecht gehen. Denn Demut gegenüber Gottes Weisheit verträgt sich sehr wohl mit einem aufrechten Gang. Maria, die starke, aufrechte und zugleich demütige Frau kann uns ein Vorbild sein, besonders für Frauen, aber nicht nur für sie, weil sie uns lehrt, einen Weg zu gehen, der vielleicht oft nicht einfach ist, der aber doch heilvoll und segensreich ist, wenn wir den Segen, den Gott uns auf diesem Weg schenkt, auch wahrnehmen.

Das dritte, was mir an dieser Szene wichtig ist, das ist das Kind. Dieses Kind ist mehr als ein besonderer Mensch. Darum betont Lukas die Vaterschaft Gottes, die natürlich nicht biologisch gemeint ist, ebenso wie die Jungfrauengeburt keine biologische, sondern eine theologische Aussage ist. In diesem Kind kommt Gott selbst zu uns. In diesem Kind wird Gott ganz menschlich. In diesem Kind erweist Gott seine Liebe zu allen Menschen. Gott will unser Heil und unser Leben, darum kommt er selbst zu uns. Dieses Geheimnis feiern wir in der Heiligen Nacht. Das ist der Kern von Weihnachten, die Friedensbotschaft auf den Feldern in Bethlehem, das verletzliche Kind in der Krippe, von dem ein helles Licht ausgeht. Dieses Licht, diese Friedensbotschaft will in uns und unter uns zur Welt kommen, will heute neu geboren werden, in Menschen, die ihr Glauben schenken, die das Licht weiter tragen, den Frieden suchen mit sich selbst und untereinander. Ich wünsche ihnen allen ein lichtes und friedvolles Weihnachtsfest, Engel, die ihnen unterwegs begegnen und die Kraft, auf ihrem persönlichen Weg die göttliche Berufung, den göttlichen Segen zu erkennen. Amen.

Samstag, 4. Dezember 2010

Predigt zum Adventslied "O Heiland reiss die Himmel auf" am 5. Dezember 2010

„Mit brennender Geduld“ heisst ein Roman des chilenischen Schriftstellers Antonio Skarmeta, in dem er dem Dichter Pablo Neruda und dessen Postboten ein Denkmal setzt. Ich habe den Roman nicht gelesen, aber den Titel finde ich wunderbar - und wunderbar passend zu unserem Adventslied „O Heiland reiss die Himmel auf“, das uns der Chor gerade in der Vertonung von Johannes Brahms gesungen hat.

Dieses Adventslied ist anders als die meisten anderen. Es fehlt ihm der freudig-gewisse Klang eines „Macht hoch die Tür“, der bescheiden-demütige Ton von „Wie soll ich dich empfangen“ oder das beschreibende Lob von „Nun komm, der Heiden Heiland“, das wir am Ende unseres Gottesdienstes singen werden. Und es ist auch so ganz anders wie der Lutherchoral „Gelobet seist du Jesus Christ“, den wir nachher im Wechsel mit dem Chor noch singen werden und in dem ja auch vom Jammertal die Rede ist, aus dem der Sohn uns herausführt.

Was dieses Adventslied in meinen Augen von den meisten anderen unterscheidet, das sind die vielen O’s und Ach’s, dieser drängende, fast ungeduldige Ton. Da beschreibt nicht einer selbstsicher und in tiefer Gewissheit, was Gott für uns tut, sondern sehnt herbei, dass Gott endlich handelt. Nicht öffnen soll er den Himmel, sondern aufreissen; nicht herabkommen, sondern herablaufen. Der Tau soll nicht vom Himmel träufeln, sondern fliessen. Darf man den Heiland so bedrängen? So möchte man fast fragen.

Der Text dieses Adventsliedes ist im Jahr 1622 entstanden. Es waren die Anfangsjahre des 30-jährigen Krieges. Geschrieben hat es der Jesuitenpater Friedrich Spee. Er hat nicht nur die Schrecken dieses Krieges erlebt, er hat auch als Beichtvater den Hexenwahn miterlebt und schon früh begriffen, wie ausweglos die Situation für Frauen war, die der Hexerei beschuldigt wurden und denen Leugnen als Halsstarrigkeit und ein Geständnis als Anerkennung ihrer Schuld ausgelegt wurde. Spee hat gegen den Hexenwahn gekämpft. Und er wurde dafür selbst zu einem Opfer der Verfolgung. Er wurde ins Kriegsgebiet nach Trier geschickt, wo er bei der Pflege der Kranken und Verletzten an einer Seuche starb. Das war 1635. Spee war 44 Jahre alt.

Ja, so drängend bitten und sehnsuchtsvoll erwarten kann vermutlich nur jemand, der sich vom Leid und von der Ungerechtigkeit anrühren lässt, dem es keine Ruhe lässt, dass die Dinge sind, wie sie nun einmal sind und der von seinem Gott noch etwas erwartet. In diesem drängenden Bitten verbindet sich eine tiefe Menschlichkeit mit einem ebenso tiefen Glauben. Und genau das ist für mich das Beeindruckende und Ermutigende an diesem Adventslied und an Friedrich Spee.

In diesem drängenden Bitten höre ich aber auch eine wichtige Anfrage an uns. Sind wir nicht oft viel zu nüchtern und abgeklärt? Wir kennen die Sachzwänge und beherrschen die Kunst des Möglichen. Wir finden uns ab und suchen gute Gründe. Wir sind bescheiden und erwarten nicht zuviel. Wir haben gelernt, dass sich manche Dinge eben nicht ändern lassen, warum wir nicht viel machen können, wenn Menschen verhungern oder von unserem Wohlstand ausgeschlossen sind. Wir rechnen nicht mehr mit Gott in unserem durchorganisierten Leben - oder wenn, dann benutzen wir ihn zum Auffüllen unserer Defizite und der Lücken unseres Weltgebäudes oder zur Abgrenzung von den Andersgläubigen oder den Ungläubigen. Was erwarten wir eigentlich vom Leben, von Gott? Welche Sehnsüchte erfüllen uns? Was ist uns so wichtig, dass es uns in unserem Innersten berührt und mit brennender Geduld erfüllt? Gibt es in unserem Leben etwas, das uns dazu drängt zu rufen: O Heiland reiss die Himmel auf? Wenn wir immer nur mit dem Möglichen rechnen, haben wir vermutlich vom Advent noch wenig begriffen.

Ruhe und Abgeklärtheit sind im Leben gewiss wertvolle Qualitäten und es gibt wohl für jedes von uns Momente, wo wir uns mehr davon wünschen. Aber - und daran erinnert uns das Adventslied „O Heiland reiss die Himmel auf“ - die vorwärtsdrängende Sehnsucht, das erwartungsvolle Hoffen und das hoffnungsvolle Erwarten sind ebenso wichtig. Und das Lied drückt diese Sehnsucht in wunderbaren, kräftigen poetischen Bildern aus, in Bildern, die alles andere sind als ein Weltverbesserungsprogramm, weil sie alles von Gott erwarten. In Bildern aber auch, die uns in Bewegung bringen, weil sie darauf hoffen und darum bitten, dass Gott uns in Bewegung bringt. Wenn Schloss und Riegel weg sind und der Himmel offen, dann sind wir frei, einzutreten und hinauszutreten in den weiten Raum des Lebens, das Gott uns schenkt. Gott öffnet uns diesen Raum und er stärkt uns den Rücken. Den Weg gehen aber müssen und dürfen wir selber. Wenn Tau und Regen vom Himmel fliessen, dann wird der Boden fruchtbar. Der Boden aber sind wir und es braucht unsere Bereitschaft, Neues wachsen zu lassen.

Wenn wir am liebsten hätten, dass alles so bleibt wie es ist, dann wird uns diese adventliche Sehnsucht fremd bleiben. Wenn wir nicht mehr erwarten als die Geschenke zum Fest (und ich will damit überhaupt nichts gegen Geschenke sagen), dann wird uns die Weihnachtsbotschaft ein Märchen aus uralten Zeiten bleiben. Wenn wir aber uns anstecken lassen von dieser adventlichen Sehnsucht, dann dürfen wir unseren Gott auch bedrängen, ihn herausfordern. Dann müssen wir nichts mehr verdrängen von unseren Sorgen und Ängsten. Dann müssen wir uns nicht abfinden mit dem, was anders werden muss. Sehnen wir uns nach dieser göttlichen Lebensenergie? Sind wir bereit, uns bewegen und überraschen zu lassen? Wollen wir uns berühren lassen und uns öffnen? Wollen wir leben mit brennender Geduld? Dann können die Worte dieses Adventslieds wirklich zu unseren eigenen werden, aus tiefstem Herzen gesungen:

O Heiland, reiss die Himmel auf,
herab, herab vom Himmel lauf,
reiss ab vom Himmel Tor und Tür,
reiss ab, wo Schloss und Riegel für.

O Gott, ein’ Tau vom Himmel giess,
im Tau herab, o Heiland, fliess.
Ihr Wolken, brecht und regnet aus
den König über Jakobs Haus.

O Erd, schlag aus, schlag aus, o Erd,
dass Berg und Tal grün alles werd.
O Erd, herfür dies Blümlein bring,
o Heiland, aus der Erden spring.

Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt,
Darauf sie all’ ihr’ Hoffnung stellt?
O komm, ach komm vom höchsten Saal,
Komm tröst uns hier im Jammertal.

O klare Sonn, du schöner Stern,
dich wollten wir anschauen gern;
o Sonn, geh auf, ohn deinen Schein
in Finsternis wir alle sein.

Wir dürfen Gott mehr zutrauen als unsere kleinen Wünsche und Pläne. Die überfliessende Fülle dieser Bilder erinnert uns an die göttliche Lebenskraft, die wir uns niemals selber geben können und die mehr und anders ist als unsere Träume. Advent ist die Zeit der Erwartung. Erwarten dürfen wir nicht weniger als das Kommen Gottes, den herabfliessenden Tau göttlichen Segens in unserem Leben. Erwarten dürfen wir mit brennender Geduld. Amen.

Samstag, 20. November 2010

Predigt über Offenbarung 21,1-7 am Ewigkeitssonntag, 21 November 2010

Liebe Gemeinde,
heute ist der Toten- oder Ewigkeitssonntag. Viele von ihnen werden heute die Gräber ihrer Lieben besuchen, vielleicht auch eine Kerze aufs Grab stellen. Wir werden nachher im Gottesdienst die Namen der Verstorbenen unserer Kirchgemeinde aus dem zu Ende gegangenen Kirchenjahr verlesen und die Kerzen für sie anzünden, die die KonfirmandInnen für sie gestaltet haben.
„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde“ heisst es in der Offenbarung. „Und Gott selbst wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein und er wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Siehe, ich mache alles neu!“
Was für eine wunderbare und tröstliche Vision: eine neue Welt ohne Leid, ohne Tränen, ohne Tod. Eine Welt, in der alles, was hier zerbrochen und unvollendet bleibt, heil und ganz ist, wo aller Streit überwunden ist, alle Schuld vergeben, aller Hader und Groll abgelegt. Eine Welt, in der uns nicht mehr genommen wird, was uns so lieb und kostbar ist, wo Krankheit und Leid nicht mehr erbarmungslos zuschlagen. Eine Welt auch, in der Menschen einander nicht mehr Leid zufügen, wo niemand mehr das Leid anderer zur Schau stellen kann, wo die Gier nach Macht, der Hass, die Intoleranz, die Zerstörung im Namen vermeintlicher Ideale keinen Raum mehr haben. Eine wunderbare Vision – oder doch nur ein schöner Traum?
Können uns die Worte des heutigen Predigttextes ermutigen, aufrichten, Hoffnung machen, wenn Trauer und Verzweiflung uns überwältigen beim Abschied von einem lieben Menschen oder dann, wenn beim Abschied so vieles ungesagt und ungelöst bleibt? Können wir leben und uns trösten mit der Hoffnung auf den neuen Himmel und die neue Erde oder sind das für uns nur leere, belanglose Worte – eben nur ein schöner Traum angesichts unserer Trauer, zu schön um wahr zu sein?
Jedenfalls ist es eine Utopie, eine Utopie im eigentlichen Sinn des Wortes – etwas, das in dieser Welt keinen Ort hat, etwas das wir nicht durch unser Planen und Machen erreichen und verwirklichen können. Ein neuer Himmel und eine neue Erde. Kein Fortschritt, keine kontinuierliche Entwicklung, schon gar nicht die Überwindung von Leid, Krankheit und Tod durch medizinische Forschung. „Der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen“, heisst es in der Offenbarung. Es gibt keinen Weg von hier nach dort. Solange diese Erde besteht, werden Menschen ihre Toten beweinen, werden Krankheiten und Schicksalsschläge Menschen treffen, werden Menschen einander Leid zufügen, wird es Kriege, Hass, Neid und Gewalt geben. Diesen Realismus lehrt uns die Bibel – von Kain und Abel bis hin zu den bedrückenden Bildern der Offenbarung. Und der Tod mag zwar gerecht sein, weil, wie das Sprichwort sagt, das letzte Hemd keine Taschen hat, aber er ist furchtbar ungerecht in der Auswahl seiner Opfer und er ist fast immer ungerecht für den, dem ein lieber Mensch genommen wird. Aber – noch einmal – was kann uns dann die biblische Utopie vom neuen Himmel und der neuen Erde helfen, wenn sie doch nicht von dieser Welt ist?
Wenn einem die Decke auf den Kopf fällt, dann tut es gut, wenn man aus dem Haus geht, hinaus an die frische Luft. Wenn man sich in den immer gleichen ausweglosen Grübeleien verheddert, tut es gut, wenn jemand einem auf andere Gedanken bringt, die Dinge in ein anderes Licht rückt. Ich glaube, dass die Utopie des heutigen Predigttextes genau diese Funktion hat, frische Luft in das Haus unserer Trauer hineinzubringen, die lähmenden Gedanken, die uns plagen in das Licht einer anderen Wirklichkeit zu stellen. Stell dir vor wie das wäre: eine Welt ohne Leid und Tod. Stell dir vor, keine deiner Tränen ist vor Gott vergessen, er wird sie abwischen. Stell dir vor, der Tod, die Verzweiflung, die Trauer – sie haben nicht das letzte Wort. Jenseits dieser Grenze, die für uns so unwiderruflich, so bitter und schmerzhaft ist, da ist noch etwas, oder besser gesagt, da ist noch einer, der uns erwartet, der uns trägt, der uns tröstet und hält und dessen Liebe zu uns stärker ist als der Tod. Das dürfen wir hoffen, das dürfen wir glauben. Ob es uns die Trauer leichter macht? Ob es uns geschenkt ist, die Welt und unser Leben gerade auch in dunklen Stunden in diesem Licht einer neuen Welt zu sehen, das weiss Gott allein. Erzwingen können wir es nicht, nicht bei uns selbst und nicht bei anderen. Aber wenn Gott uns dieses Licht, diese Sicht schenkt, dann verändert sich etwas, dann kann der Dank für das Gewesene stärker werden als die Trauer über das Verlorene, dann können wir loslassen, den schmerzlichen Verlust, die unüberwindbare Grenze akzeptieren, weil jenseits dieser Grenze nicht das Nichts ist, sondern die grenzenlose Liebe Gottes. In diesem Licht können auch unausgeräumte Missverständnisse, Schuld, Groll oder Hader ihre lähmende Macht verlieren, weil wir uns dem anvertrauen können, der unser Leben heil und ganz macht – nicht in dieser Welt, nicht in diesem Leben, aber dann, wenn unser Leben heimkehrt zu Gott. Wo der neue Himmel und die neue Erde in unser Hoffen und Denken einziehen, da empfangen wir die Kraft zum Loslassen, da kann neue Hoffnung und neuer Lebensmut in unseren Herzen aufkeimen und wachsen.
Den Tod können wir nicht überwinden, wir können nicht einmal diesseits der Todesgrenze eine friedliche Welt schaffen, ja oft nicht einmal in unseren engsten Beziehungen. Aber im Licht des neuen Himmels und der neuen Erde, die Gott uns verheisst, können wir mit unseren Möglichkeiten Tränen abwischen, denen die Kummer haben, verständnisvoll zuhören, einander in den Arm nehmen und trösten. Wir können das Leid nicht überwinden, aber wir können einander helfen, Schweres zu tragen, auszuhalten und behutsam wieder neue Hoffnung zu wagen. Und das ist schon ungeheuer viel. Und wir können einander vergeben und verzeihen, können Vergangenes ruhen lassen, weil wir es in Gottes Hand legen dürfen.
Siehe, ich mache alles neu, sagt der auf dem Thron. Gott macht alles neu, nicht wir. Aber er tut es. Er schenkt uns hier und jetzt neue Kraft. Und er heilt und vollendet das Ganze unseres Lebens. Darauf hoffen wir. Daran glauben wir. Davon leben wir. Amen.

Samstag, 6. November 2010

Predigt am Reformationssonntag 7. November 2010 über Römer 3,21-28

Liebe Mitchristen!
Vor fast 500 Jahren hat ein junger Mönch namens Martin Luther immer wieder mit der selben Frage gerungen: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Die Höllenangst, die Angst vor ewigen Qualen setzte den Menschen seiner Zeit sehr zu. Die katholische Kirche seiner Zeit sah sich als einzige Heilsmittlerin, deren ordinierte Priester allein die Menschen von ihren Verfehlungen lossprechen konnten. Die Beichte, die verbunden war mit tätiger Reue, war der Weg um Gott gnädig zu stimmen. Weil die Kirche Geld brauchte, machte sie aus diesem Monopol ein Geschäft. Die Reue konnte in Geldleistungen bestehen, die Vergebung wurde käuflich – man spricht von Ablasshandel. Dieser Weg war Luther zutiefst zuwider. Die Beichte als solche, den Weg der Umkehr und Reue, hat Luther nie für falsch gehalten, aber das Monopol der Kirche, die Käuflichkeit und die Idee, man könne – sei es durch Geld oder auch durch gute Taten ein Anrecht auf Gottes Vergebung erwerben.
Aber auch den anderen Weg hielt Luther für nicht gangbar, den Weg hin zu immer grösserer Vollkommenheit, wie er vor allem im Mönchtum angestrebt wurde. Sich heraushalten aus dieser Welt, verzichten auf Besitz, auf Sexualität, auf ein bürgerliches oder adliges Leben – auch das war für Luther keine Möglichkeit, um sich die Gnade Gottes zu verdienen. Es war vor allem der Römerbrief und gerade auch der heutige Predigttext, der ihn zu seiner Erkenntnis führte: Die Gnade Gottes können wir uns nicht verdienen durch eigene Leistungen, weder durch Geld noch durch gute Taten oder den Versuch eines heiligen Lebens.
„Denn die Menschen sind allzumal Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten.“ – so schreibt es Paulus. Und dann: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“
Gott allein vergibt, macht Menschen gerecht, befreit sie von der Last ihrer Fehler, ihrer Schuld, ihres Scheiterns, ihrer Unvollkommenheit. Diese Gnade können wir uns nicht verdienen, darauf können wir nur vertrauen, das können wir nur glauben. Mit dieser Einsicht sind wir aber auch befreit davon, ruhelos einem Ideal unserer selbst nachzurennen und dem doch nie genügen zu können.
Aber – so fragen vielleicht manche – sind das nicht Fragen des Mittelalters? Wer sorgt sich heute noch um einen gnädigen Gott? Wer fürchtet heute noch die Hölle oder die ewige Verdammnis? Und feiern nicht heute auch viele Katholiken lieber eine Bussfeier als eine Einzelbeichte abzulegen. Und doch: auch heute noch werden Menschen schuldig, auch heute noch verletzen Menschen einander, auch heute noch leiden Menschen unter Fehlern, die sie schier erdrücken können. Da hilft kein leichtfertiges „Schwamm drüber, jeder macht mal Fehler“; da können tiefe Wunden bleiben. Wir neigen heute dazu, solche Erfahrungen zu verdrängen oder zu verharmlosen oder denken, dass wir halt selber damit fertig werden müssen. Aber lehrt uns nicht die psychologische Forschung, lehrt uns nicht unsere eigene Erfahrung, dass Verdrängtes immer wieder an die Oberfläche zurückkehrt, uns behindert und lähmt. Dinge aussprechen können, die uns belasten, Fehler einzugestehen – das ist heilsam und befreiend, wenn wir darauf vertrauen können, dass wir auf Vergebung, auf Liebe und Verständnis stossen, sei es in der Beichte, im seelsorgerlichen Gespräch, im Gebet oder in der Aussprache von Mensch zu Mensch. Ich weiss, dass sich das leichter sagt als es ist. Denn in vielen von uns ist die Haltung tief verwurzelt, Dinge mit sich selber auszumachen, nur keine Schwächen zu zeigen oder aber sich selbst für jeden Fehler so sehr zu verurteilen, dass es uns schwer fällt, auf einen gnädigen Gott oder einen gnädigen Mitmenschen zu vertrauen. Wenn wir aber auf einen gnädigen Gott vertrauen dürfen, wenn wir glauben dürfen, dass nichts, wirklich gar nichts uns endgültig von Gottes Liebe trennen kann, dann brauchen wir - zumindest vor Gott – nichts zu verstecken, brauchen wir nicht vor uns selber davonzulaufen oder uns unserer eigenen Unwürdigkeit zu grämen.
Solcher Glaube kann uns bewahren vor dem schleichenden Gift der Sprachlosigkeit in unserer Beziehung zu Gott und in unseren menschlichen Beziehungen. Wir können das ganz einfach an unseren alltäglichen Beziehungen überprüfen: Wo fällt ein klärendes Gespräch leichter: Da, wo die Frage im Vordergrund steht, wer denn nun recht hat und wer schuld ist? Oder da, wo einer sich fragt, wie er den anderen gnädig stimmen kann? Oder da, wo wir einander vertrauen können, dass eines dem anderen Verständnis entgegenbringt und verzeihen kann? Im ersten Fall ist es das alte Spiel von Sieger und Verlierer, das den Verlierer sprachlos und hilflos macht. Im zweiten Fall kommt es zur Unterwerfung oder zur Sprachlosigkeit, weil nie der richtige Zeitpunkt da ist, man nie die richtigen Worte findet oder es kommt zur Unterwerfung des einen unter den anderen. Nur wo wir Schwäche zeigen können ohne Stärke zu provozieren, werden wir wirklich geliebt. Die meisten wissen wohl ganz gut, wie schwer es manchmal ist, diesen dritten Weg zu gehen. Und wie viele Beziehungen, Freundschaften und Partnerschaften sind schon an den Machtkämpfen, an Sprachlosigkeit oder an Unterwerfung gescheitert. Aber im Vertrauen müssen wir uns üben und Vertrauen macht verletzlich, braucht immer wieder neue Nahrung. Wenn unser Vertrauen enttäuscht wird, wir uns verurteilt oder zurückgewiesen fühlen, dann droht der Rückzug in die Sprachlosigkeit oder der Machtkampf. Sagen können, was uns verletzt und wieder neu Vertrauen wagen, darauf kommt es dann entscheidend an. Und darauf, dass wir erkennen, dass es zum £Weg des Vertrauens letztlich keine Alternative gibt.
Und noch etwas ist mir wichtig: Es geht nicht in erster Linie darum, Vergangenes wieder gut zu machen. Es geht darum, in der Einsicht, dass wir Vergangenes nicht ungeschehen machen können und auch nicht müssen, frei zu werden für einen Weg, der in die Zukunft führt. Und dazu muss Vergangenes ruhen, müssen wir lernen, mit dem, was sich nicht mehr ändern lässt, zu leben und zu verzeihen.
Die Erkenntnis Martin Luthers, dass Gott gnädig ist und wir ihn nicht erst gnädig stimmen müssen, seine Einsicht, dass wir vor Gott weder Recht behalten noch gute Leistungen erbringen müssen – sie waren für ihn eine grosse Befreiung. Und ich denke, dass sie nicht nur im Mittelalter aktuell waren. Auch für uns heute kann das Vertrauen auf einen gnädigen und barmherzigen Gott eine Befreiung sein, dann wenn wir spüren, dass Schuld, Fehler und Unvollkommenheit uns belasten. Denn darin liegt die Zusage, dass wir so sein dürfen wie wir sind und von Gott nicht an unseren Leistungen gemessen und klassiert werden. Und wenn Gott ruhen lässt, was zwischen uns und ihm steht, dann dürfen auch wir den Blick nach vorne richten. Mit unserer Geschichte, mit unseren Fehlern dürfen wir weitergehen, brauchen uns nicht lähmen zu lassen.
Was wir in der Beziehung zu Gott erfahren dürfen, das können wir dann auch in unserem menschlichen Zusammenleben üben. Vertrauen wagen, einander Vertrauen entgegenbringen, miteinander reden, Vergangenes ruhen lassen und miteinander in die Zukunft zu blicken.
Für Paulus gilt: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ Amen.

Samstag, 23. Oktober 2010

Predigt zu 2. Korinther 9,6-15 beim Erntedankgottesdienst im Alters- und Pflegeheim Kühlewil am 24.10.2010

Liebe Mitchristen,
Was der Apostel da schreibt, das ist ein ausführlicher und zu Herzen gehender Spendenaufruf. Macht euch keine Sorgen, sagt er, sondern gebt ab von dem Reichtum, den Gott euch schenkt. In meiner Predigt soll es heute aber nicht um einen Spendenaufruf gehen, zumal ja in diesem Gottesdienst gar keine Kollekte vorgesehen ist. Ich will vielmehr unseren Blick lenken auf die Dankbarkeit für das, was Gott uns in unserem Leben schenkt. Nicht die grossen Dinge, nicht der Überfluss an Gütern ist es ja, der uns erkennen lässt, wie kostbar unser Leben ist und wie reich an Gnade wir eigentlich sind. Unser Predigttext ist ja auch nicht nur einen Spendenaufruf, sondern eine Einladung zur Dankbarkeit für die elementaren Dinge des Lebens, die wir so oft einfach als selbstverständlich ansehen oder uns selber, unserer Arbeit und Leistung zuschreiben. Und er ist eine Einladung, darauf zu achten, dass diese elementaren Lebensgrundlagen nicht selbstverständlich sind und dass wir grössere Lebenszufriedenheit, grösseres Glück erfahren, wenn wir fähig werden zur Dankbarkeit und wenn wir das unsere mit anderen teilen, uns miteinander daran freuen können. Paulus schreibt: „Gott aber lässt euch all seine Gnade reichlich zukommen, damit ihr allezeit mit allem reich versorgt seid und darüber hinaus noch Mittel habt zu jedem guten Werk.“ Und: „Der aber dem Säenden Samen gibt und Brot zur Speise, der wird auch euch das Saatgut geben in reichem Masse und die Frucht eurer Gerechtigkeit wachsen lassen.“
Ja, die Dankbarkeit für das scheinbar Selbstverständliche schenkt innere Freiheit und Lebenszufriedenheit. Wenn wir das Geschenk unseres Lebens als Geschenk Gottes wahrnehmen können und statt nach immer mehr zu streben, mit den Samenkörnern, die Gott uns schenkt, den Acker unseres Lebens bebauen und uns an den Früchten freuen, die darauf wachsen, dann kann unser Leben gelingen und dann verlieren wir auch unsere Nächsten nicht aus dem Blick. Denn oft ist es ja die unablässige Selbstsorge, die uns von den anderen trennt.
Diese innere Freiheit und von Herzen kommende Dankbarkeit hat Martin Luther schon 1530 in einer wunderbaren Auslegung des 118. Psalms beschrieben:
„Und wenn wir Menschen nicht so blind und der Güter Gottes so überdrüssig und unachtsam wären, so wäre freilich kein Mensch auf Erden, er habe noch so viel Besitz; wenns zum Tausch kommen sollte, so nähme er kein Kaisertum noch Königreich dafür, wenn er dafür der (uns allen eigenen) Güter beraubt wäre. Denn was kann ein Königreich für ein Schatz sein im Vergleich zu einem gesunden Leibe. … Wenn die Sonne einen Tag nicht schiene, wer wollte nicht lieber tot sein? Oder was hülfe ihm all sein Gut und Herrschaft? Was wäre aller Wein und Sekt in aller Welt, wenn wir einen Tag des Wassers ermangeln sollten? Was wären alle hübschen Schlösser, Häuser, Samt, Seide, Purpur, goldenen Ketten und Edelsteine, alle Pracht, Schmuck und Hoffart, wenn wir ein Vaterunser lang die Luft entbehren sollten? - Solche Güter Gottes sind die grössten und (zugleich) die allerverachtetsten und deshalb, weil sie allgemein sind, dankt niemand Gott dafür, sie nehmen sie und brauchen diesselben täglich immer so dahin, als müsste es so sein …; fahren dieweil zu, haben was uns am Herzen liegt zu tun, sorgen, hadern, streiten, ringen und wüten um überflüssiges Geld und Gut, um Ehre und Wollust und in Summa um das, welches solchen obengenannten Gütern nicht das Wasser reichen könnte.“
Sehen wir einmal von der etwas altertümlichen Sprache Luthers ab, so irritiert uns vielleicht immer noch der moralisierende Unterton. Aber ich denke, dass es viel zu kurz greift, wenn wir die wunderbaren Gedanken Luthers einfach als moralischen Appell: „Gib dich zufrieden mit dem, was du hast“ verstehen würden, zumal das leicht in eine falsche Selbstzufriedenheit umschlagen kann. Das Ringen, etwas erreichen wollen, nach mehr streben, gehört zu uns und das ist auch gut so. Ehrgeiz, Unzufriedenheit mit dem Erreichten sollen nicht verteufelt werden. Aber Luthers Vergleiche können uns helfen, die Dinge wieder ins richtige Verhältnis zu setzen. Es mag uns motivieren und antreiben, immer höhere Ziele zu erreichen, aber all dies kann nichts von dem ersetzen, was zu unseren elementaren Lebensgrundlagen gehört. Und (heute nur als Randbemerkung) diese elementaren Lebensgrundlagen hat Gott allen Menschen zugedacht und es gibt keine Rechtfertigung dafür, sie zu privatisieren und anderen vorzuenthalten.
Aber gibt es nicht auch Situationen, wo es uns an ganz elementaren Dingen fehlt? Gerade viele von Ihnen hier in Kühlewil, wissen, was es heisst, wenn der Leib nicht gesund ist, wenn man körperliche und seelische Schmerzen leidet, wenn vieles nicht mehr geht. Dieser Mangel, dieser Verlust kann ihnen schwer zu schaffen machen. Niemand darf ihnen dann das Recht zu klagen absprechen. Nein: „gib dich zufrieden und sei stille“ darf dann nicht die einzige Antwort sein. Und dennoch: wir kennen auch die Momente, wo uns der Verlust des Selbstverständlichen die Augen öffnet für seine Kostbarkeit und zur Klage über den Verlust die Dankbarkeit hinzutritt für das was wir gehabt haben und das, was uns noch bleibt. Und diese Dankbarkeit, diese Achtsamkeit für das Gute und Kostbare in unserem Leben, kann uns dann auch die Kraft geben, das Schwere zu tragen. Denn in dieser Dankbarkeit erfahren wir die Kraft Gottes in unseren Herzen. Ihm dürfen wir vertrauen, dass er uns begleitet und trägt und uns unsere Speise gibt zur rechten Zeit.
Zum Schluss soll nochmals Martin Luther das Wort haben mit seiner Auslegung des Ersten Artikels des apostolischen Glaubensbekenntnisses im Kleinen Katechismus: „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.
Was ist das?
Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; mit aller Notdurft und Nahrung dieses Leibes und Lebens mich reichlich und täglich versorget, wider alle Fährlichkeit beschirmet und vor allem Übel behütet und bewahret; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit; daß alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin.“
Amen.