Liebe Mitchristen,
Generationen gemeinsam unterwegs - so lautete das Motto des diesjährigen Kirchensonntags Anfang Februar und wir haben in Oberbalm daraus auch das Jahresthema für unsere Kirchgemeinde gemacht. Es geht uns dabei weniger um neue Anlässe, sondern darum, von Zeit zu Zeit uns selbst und anderen in Erinnerung zu rufen, wie wichtig und auch wie verletzlich das Zusammenleben der Generationen ist. Es gehört zu den ganz wichtigen Schätzen unserer dörflichen Strukturen, dass es da in den Vereinen, bei Festen und Anlässen noch zu einer Begegnung der Generationen kommt, Junge und Alte an einem Ort miteinander feiern. In Oberbalm gehören dazu zahlreiche Vereinsfeste, aber auch der Racletteabend, das Schulfest zum Abschluss des Schuljahres, der Bettagslauf, der Basar im November und manch anderes mehr. Das ist nicht selbstverständlich. An vielen Orten, besonders in städtischen Gebieten sind solche gemeinsamen Orte selten geworden. Und es ist auch nicht ausgemacht, dass das in 20 oder 30 Jahren bei uns immer noch so sein wird. Es braucht Menschen dazu, die sich dafür engagieren, denen Traditionen wichtig genug sind, um sie zu pflegen und die offen genug sind, flexibel mit Traditionen umzugehen und neue Wege zu gehen.
Ein wunderbares Beispiel, wie Generationen gemeinsam unterwegs sein können, haben wir heute mit der Musikgesellschaft Oberbalm vor uns. Die Ältesten sind schon im AHV-Alter, die Jüngsten noch schulpflichtig. In eurer sonstigen Freizeit sind eure Interessen und auch eure musikalischen Vorlieben vermutlich ziemlich unterschiedlich. Aber ihr habt es geschafft, gemeinsam unterwegs zu sein. Was es dazu braucht, ist zuerst einmal Engagement und die Bereitschaft, etwas zu investieren. Erst kürzlich ist wieder die Einladung zu einem neuen Jungbläserkurs ins Haus geflattert. Es ist vermutlich den wenigsten wirklich bewusst, wieviel Geld und Engagement in die Ausbildung der Jungbläser investiert wird. Aber ohne dieses finanzielle, zeitliche und ideelle Engagement gäbe es schon bald keine MGO mehr. Ich denke, ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass es euch gelungen ist, Tradition und Neues zu verbinden. Die Älteren unter euch hätten sich vor 30/40 Jahren vermutlich kaum vorstellen können, dass sie einmal Eric Clapton und Abba auf ihren Instrumenten zu spielen haben. Gleichzeitig sind aber auch die Jungen bereit, sich auf Marschmusik, traditionelle Blasmusik und Kirchenchoräle einzulassen. Das verbindet. Ohne diese gegenseitige Toleranz wäre ein gemeinsames Musizieren kaum möglich.
Das lässt sich in mancher Hinsicht mit unserer Kirchgemeinde vergleichen. Dass die Generationen gemeinsam unterwegs sein können, einander begegnen und Verständnis füreinander entwickeln, das ist ein zentrales Anliegen unseres Glaubens und unserer kirchlichen Arbeit. Und auch in der Kirche ist vermutlich den wenigsten wirklich bewusst, wieviel an Geld und Engagement gerade in die Kinder- und Jugendarbeit investiert wird. Die ganze kirchliche Unterweisung, Sonntagsschule, Kindernachmittage, Kinderlager, Gottesdienste für Klein und Gross - all das bedeutet ein grosses finanzielles Engagement, ist ein wesentlicher Teil meiner Arbeit und braucht das Engagement von vielen Freiwilligen, denen es ein Anliegen ist, dass die Jungen in unserer Kirchgemeinde heimisch werden. Es geht in alledem aber auch um die Weitergabe unseres Glaubens. Was heisst das: Weitergabe des Glaubens? Viel zu lange wurde darunter eine Sammlung von Lehrsätzen verstanden, die man lernen konnte und die man zu glauben hatte. Es war allenfalls den Gelehrten, den Theologen vorbehalten, diese Glaubenssätze zu diskutieren. Glauben aber muss etwas mit dem Leben, mit den jeweils eigenen Lebenserfahrungen zu tun haben, sonst ist er nur noch toter Glaube oder eine abstrakte Weltanschauung. Einige der Älteren haben es vielleicht noch erlebt, wie der Glaube im kirchlichen Unterricht autoritär verkündet wurde, als etwas, das man auswendig lernen konnte und musste. Und so manche haben das hingenommen und sich dann still verabschiedet. Ich selbst habe noch einen solchen kirchlichen Unterricht genossen, wo wir vor allem auswendig gelernt haben. In der Schule habe ich einen ganz anderen Unterricht erlebt. Da wurden Glaubensaussagen und biblische Texte kontrovers diskutiert. Da ging es auch um Sinn- und Lebensfragen und politische und gesellschaftliche Themen. Manchmal konnte dies aber auch ins andere Extrem kippen. Hauptsache die Kids haben spannende Themen und gute Erlebnisse. Bibel und Glaubenstraditionen wurden nur noch am Rande und eher verschämt ins Spiel gebracht.
Die beiden Bibeltexte, die ich vor der Predigt gelesen habe, erinnern mich an eine ganz wichtige biblische Tradition: es sind Bekenntnistexte, die vermutlich im Gottesdienst gesprochen wurden. Aber es sind nicht Bekenntnistexte, die auf absolute Wahrheiten verweisen, sondern Kürzestgeschichten des Glaubens, die auf andere Geschichten verweisen. Wenn wir nach unserem Glauben fragen, dann können wir nur Geschichten erzählen - die Geschichten des Volkes Israel, die Jesusgeschichten und unsere eigenen Geschichten. Im 5. Buch Mose ist es die Geschichte von der Befreiung des Volkes Israel aus der Gefangenschaft und Sklaverei in Ägypten, die das Zentrum des Glaubens bildet. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir heute genug zum Leben haben, über unsere eigenes Schicksal bestimmen können, eine Lebensperspektive besitzen und in Freiheit leben. Wir sind dafür auch verantwortlich und haben Sorge dazu zu tragen. Wir sind Fremde gewesen und wissen, was es heisst, ausgegrenzt und ausgenutzt zu werden. Das verpflichtet uns. Unsere Mütter und Väter haben in der Not zu Gott gerufen und er war für sie da. Sollten wir nicht auch in guten Tagen zu ihm rufen und wenn wir Sorgen haben uns ihm zuwenden? So haben die Israeliten ihren Glauben verstanden. Können wir uns nicht in manchem davon wiederfinden mit unseren heutigen Erfahrungen und den Erfahrungen unserer Mütter und Väter?
Auch der Text aus dem Philipperbrief ist ein solcher gottesdienstlicher Bekenntnistext. Wenn die ersten Christen nach ihrem Glauben gefragt wurden, antworteten sie mit ihren eigenen Geschichten und der Jesusgeschichte. Wir glauben an einen Gott, der in Jesus ganz an unserer Seite ist, der bei den Schwächsten und Bedürftigsten ist. Dieser Jesus hat uns Selbstvertrauen gegeben. Er hat uns gezeigt, was Liebe zum Nächsten heisst, was Verzeihen, wie wir Menschen ermutigen können. Und vor allem hat er uns gezeigt, dass jeder Mensch Achtung, Respekt und Zuwendung verdient und nicht ausgenutzt und nicht abgeschrieben werden darf. Wir glauben an einen Gott der uns Demut lehrt, weil er in Jesus selber demütig war und sogar sein Leben hingegeben hat. Er hat uns gezeigt, dass Demut nicht Unterwürfigkeit ist, sondern die Fähigkeit zum aufrechten Gang ohne Überheblichkeit. Es sind die Geschichten vom blinden Bartimäus, von Zachäus, dem Zöllner, von der Ehebrecherin, die sich in diesem Bekenntnis spiegeln. Es ist die Geschichte vom barmherzigen Samariter und vom Vater mit den ungleichen Söhnen, es ist das Liebesgebot und Jesu Würde und aufrechter Gang vor Pilatus und dem Hohen Rat und viele andere, die in diesem Bekenntnis nachklingen und zusammengefasst sind. Können wir diese Geschichten mit unseren Erfahrungen verbinden? Können sie uns Mut machen, Selbstvertrauen und Gottvertrauen geben, unsere Einstellung zum Leben und zu unseren Mitmenschen prägen?
Weitergabe des Glaubens geschieht da, wo wir einander Geschichten erzählen und miteinander feiern. Glaube muss immer auch mit meinen Erfahrungen zu tun haben, sonst bleibt er eine tote Lehre. Aber wo ich meine Erfahrungen zum alleinigen Massstab mache, vergesse ich, dass der Horizont grösser und weiter ist, als das was ich erfahre und begreife. Auf den Reichtum der Erfahrungen früherer Generationen können wir nicht verzichten, aber wir dürfen auch nicht unsere Erfahrungen als Ältere zum alleinigen Massstab machen, an dem wir die Jungen messen. Wie eine Musikgesellschaft Marschmusik, Kirchenchoral und Popmusik zu verbinden versucht, so wollen wir die Erfahrungen unterschiedlicher Menschen und Generationen mit dem Glauben ins Gespräch bringen. Dazu braucht es Menschen in allen Generationen, die sich auf diese Geschichten einlassen, ihre eigenen Geschichten erzählen und ihre Fragen stellen, nach dem Sinn des Lebens fragen und diese Fragen nicht allein mit sich selbst ausmachen. Auch im Glauben braucht es Neugier für das Instrument, die Bereitschaft, die alten Melodien auszuprobieren und die Kreativität, mit diesem Instrument ganz neue Melodien und Töne zu spielen.
Das Instrument aber ist die von Gott geschenkte Liebe zum Leben und zu den Menschen, das Geschenk der Freiheit und die Fähigkeit, verantwortung zu übernehmen. Amen.
Samstag, 12. Juni 2010
Samstag, 29. Mai 2010
Predigt am 30. Mai über Röm 11,33-36
Liebe Gemeinde,
o Tiefe des Reichtums, schreibt Paulus. Wie kein Zweiter seiner Zeit hat Paulus versucht seinen Glauben, das was ihn zutiefst in seinem Herzen berührte, bewegte und erfüllte und sein Leben radikal verändert hat, zu durchdenken, in Worte zu fassen und für andere darzulegen und nachvollziehbar zu machen. Im Römerbrief tut er dies am Ausführlichsten und Umfassendsten. In immer neuen Anläufen formuliert er Grundeinsichten seines Glaubens und setzt sich mit Einwänden auseinander. Und dann dieser Abschnitt, der unser heutiger Predigttext ist. Die Argumentation bricht ab. "O Tiefe" kann er nur noch ausrufen. Und doch ist es keine unbestimmte Tiefe sondern es heisst: "O welch eine Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!" Der theologische Denker Paulus kapituliert vor dem Geheimnis Gottes, aber diese Kapitulation ist kein achselzuckendes "das kann man eh nicht begreifen" und erst recht kein gleichgültiges "was sich nicht beweisen lässt geht mich auch nichts an". Nein, das ganze Denken des Paulus mündet in Anbetung und Lobpreis. Wohl kann er keine letztgültigen Beweise liefern und viele Fragen bleiben unbeantwortet, aber am Ende steht nicht Ratlosigkeit und Resignation, sondern eine tief verwurzelte Glaubensgewissheit, ein Wissen des Herzens, dass dankbar dem Geheimnis Gottes entgegentritt.
Es ist diese Denkbewegung des Paulus, die mich fasziniert und ermutigt, ermutigt zum Denken und zum Glauben. Umgangssprachlich gelten Glauben und Denken ja heute fast als Gegensätze. Paulus steht für eine andere Haltung. Für ihn sind Glauben und Denken Geschwister. Ein Glaube, der das Denken scheut, verkommt zum blossen Fürwahrhalten, zur Unterwerfung und ist nichts anderes als Aberglaube. Aber umgekehrt gilt auch: Wenn wir nur glauben, was wir auch wirklich wissen, dann sperren wir Gott in unser Denken ein, dann ist er nicht mehr das Geheimnis dieser Welt, sondern nur noch das Ergebnis unserer Logik. Mit unserem Denken vergewissern wir uns, dass unser Glaube Sinn macht, dass er nicht willkürlich und beliebig ist, aber zugleich respektieren wir im Glauben das Geheimnis unseres Gottes, weil wir wissen, dass nur etwas den Namen "GOTT" verdient, das höher ist als all unsere Vernunft. Der Philosoph Kierkegaard hat einmal gesagt: Wenn ein junger Mensch am Beginn seines Studiums sagt: "Ich weiss, dass ich nichts weiss", dann ist das Faulheit. Wenn ein Sokrates am Ende seines Lebens zu dieser Einsicht gelangt, dann ist es Weisheit. Ich denke, in bezug auf unseren Glauben liesse es sich ähnlich formulieren.
Es ist ein langer Weg, den Paulus bis zu unserem Predigttext gegangen ist. Am Anfang steht für ihn die Erfahrung: In Jesus Christus hat Gott sich mir gezeigt als liebender und treuer Gott, der will, dass ich leben kann. Bei allem, was mir widerfahren mag, werde ich niemals vergessen, dass ich aus dieser Liebe lebe. Daraus ergibt sich für ihn die zweite Grundeinsicht: Wir müssen nichts dazu tun, dass Gott uns liebt, kein Gesetz erfüllen, keine Leistungen erbringen. Gott liebt uns bedingungslos – in der reformatorischen Tradition heisst das „ohne Werke des Gesetzes, allein aus Glauben“. Und die dritte Einsicht: Diese Liebe Gottes, die Einladung zum Glauben gilt allen Menschen, nicht nur den Juden.
Diese drei Glaubenseinsichten des Paulus sind bleibend wichtig. Wir glauben an einen Gott, den wir zwar nicht fassen können, der Geheimnis bleibt, aber auf dessen Liebe und Treue wir vertrauen dürfen, weil er uns in Jesus Christus begegnet mit einem menschlichen Gesicht. Wir brauchen an unserem Scheitern, unseren Fehlern nicht zu verzweifeln, weil unser Heil nicht von unserer Vollkommenheit abhängt. Befreit von Leistungs- und Vollkommenheitsdruck dürfen wir aufatmen und können unser Bestes geben. Und ohne die Öffnung hin zu allen Menschen, die Paulus entdeckt hat, hätten wir wohl heute keinen Zugang zum christlichen Glauben.
Aber aus diesen Einsichten entstehen wieder neue Fragen, mit denen Paulus konfrontiert wird. Zu seiner Zeit die Gewichtigste war: Wenn es nur auf den Glauben allein und gar nicht auf das Erfüllen des Gesetzes ankommt, werden dann die Menschen nicht geradezu zur Sünde verführt. Oder moderner formuliert: gehen da nicht alle ethischen Massstäbe verloren, bricht da nicht die ganze Ordnung zusammen? Kann denn jeder tun und lassen was er will, weil der liebe Gott sowieso alle zwei Augen zudrückt? Ist der, der sich dann noch um das Gute bemüht, letzlich dumm? Nein, sagt Paulus, aber erstens kann niemand das Gesetz vollkommen erfüllen und zweitens ist Gott nicht der mit dem grossen Kassenbuch, der am Ende abrechnet. Euer Denken ist falsch. Ihr tut Gutes, weil ihr meint, dass es euch im Himmel belohnt wird. Den Himmel könnt ihr euch nicht verdienen, den will Gott euch schenken. Aber können wir nicht Gutes tun aus Freude und Dankbarkeit, aus Liebe zu Gott und zu den Menschen ohne Spekulation auf himmlischen Lohn? Wir sollten uns nicht zu schnell von solch altmodischem Denken von himmlischem Lohn frei fühlen. Ist nicht schon unser irdischer Alltag viel zu sehr von der Frage geprägt, ob sich etwas auch lohnt? Und glauben wir nicht zu oft, dass es für alles Strafen und Drohungen braucht, weil sonst ja der der Dumme ist, der sich an die Regeln hält? Paulus sagt: Gott liebt euch, da könnt ihr nichts hinzufügen und nichts wegnehmen, das könnt ihr nur annehmen. Aber zugleich sagt er: Gott beansprucht nicht einfach die Einhaltung von Vorschriften und Gesetzen (und alles, was nicht verboten ist, ist dann erlaubt); er beansprucht euer ganzes Leben, eure Herzen. Euer Tun sei nicht Berechnung und Furcht vor Strafe, sondern Liebe, Freude und Einsicht. Befolgt nicht einfach Gesetze, sondern gebraucht euer Herz und eure Vernunft und tut, wozu sie euch führen. Grenzenlose, bedingungslose Liebe und radikaler Anspruch sind in Gott vereint. O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis.
Aber bleibt nicht auch der Glaube ein Geschenk? Wie aber kann dann der Glaube für Paulus die Bedingung der Gerechtigkeit sein? Und was geschieht mit denen, die nicht glauben. Für Paulus war damit vor allem die Frage nach dem Schicksal Israels verbunden. Er ist überzeugt, dass Gott Israel erwählt hat und dass er treu ist. Aber die Mehrheit Israels kann Jesus nicht als Messias, gar als Sohn Gottes ansehen. Hat Gott nun seine Erwählung zurückgenommen? Ist er Israel untreu geworden? Das ist für Paulus unmöglich. Aber eine Antwort auf die Frage kann er nicht geben. Wenn Gott das Heil aller Menschen will und Glaube ein Geschenk ist, wieso gibt es dann den Unglauben? Vorsicht ist auf jeden Fall geboten bei unseren Versuchen, die Menschen in Gläubige und Ungläubige, Gerettete und Verworfene einzuteilen oder anderen ihren Unglauben oder anderen Glauben vorzuwerfen. Und wer von uns kann wissen, ob Gott nicht mit anderen Menschen andere Wege geht. Den eigenen Glauben ganz ernst nehmen, ihn pflegen, sein Wachstum suchen und dankbar sein für dieses Geschenk und zugleich tolerant und offen für den Glauben und die Zweifel anderer, das scheint mir der beste Weg zu sein, das Geheimnis des Lebens, das Geheimnis unseres Gottes zu respektieren.
Paulus ruft in unserem Predigttext zwei alttestamentliche Schriften in Erinnerung, Hiob und den Exilspropheten Jesaja. Das harte und unbegreifliche Schicksal eines Mannes, dem – trotz seines Glaubens und frommen Lebenswandels – alles genommen wird, für den das Leben zur Hölle wird und das Schicksal des Volkes Israel, das in der Gefangenschaft anfängt zu fragen: Wo ist denn unser Gott? Paulus erinnert daran, dass wir in unserem Leben immer wieder an Grenzen unseres Verstehens stossen, dass längst nicht alles Sinn macht und aufgeht. Persönliches Leid, Krankheit und Tod, aber auch die Erfahrung von Krieg, menschlichem Hass und Gewalt oder von Naturkatastrophen – sie gehören zu den grössten Anfechtungen des Glaubens. Da zweifeln wir an einem Gott, der alles so herrlich regieret. Und dennoch sagt Paulus: Auch dann wenn ihr Gott gar nicht mehr versteht, wenn euch seine Wege unbegreiflich und rätselhaft sind, dürft ihr mit all euren Fragen und Zweifeln zu ihm kommen, nicht in Erwartung der Antwort auf alle Fragen, aber in dem Vertrauen, dass er euch Kraft schenkt und Glaubensgewissheit in eure Herzen zurückkehren kann – nicht als Voraussetzung, aber am Ziel eines schwierigen und vielleicht langen Weges. Glaubensgewissheit, die erkennt, dass unsere Erkenntnis nicht reicht, Gottes Wege mit uns und mit unserer Welt zu durchschauen, Glaubensgewissheit, die aber darum weiss, dass der nahe und der ferne Gott derselbe sind, nämlich der, der uns in Jesus Christus bedingungslos liebt und dem unser Schicksal und das Schicksal allen Lebens nicht gleichgültig ist.
Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.
o Tiefe des Reichtums, schreibt Paulus. Wie kein Zweiter seiner Zeit hat Paulus versucht seinen Glauben, das was ihn zutiefst in seinem Herzen berührte, bewegte und erfüllte und sein Leben radikal verändert hat, zu durchdenken, in Worte zu fassen und für andere darzulegen und nachvollziehbar zu machen. Im Römerbrief tut er dies am Ausführlichsten und Umfassendsten. In immer neuen Anläufen formuliert er Grundeinsichten seines Glaubens und setzt sich mit Einwänden auseinander. Und dann dieser Abschnitt, der unser heutiger Predigttext ist. Die Argumentation bricht ab. "O Tiefe" kann er nur noch ausrufen. Und doch ist es keine unbestimmte Tiefe sondern es heisst: "O welch eine Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!" Der theologische Denker Paulus kapituliert vor dem Geheimnis Gottes, aber diese Kapitulation ist kein achselzuckendes "das kann man eh nicht begreifen" und erst recht kein gleichgültiges "was sich nicht beweisen lässt geht mich auch nichts an". Nein, das ganze Denken des Paulus mündet in Anbetung und Lobpreis. Wohl kann er keine letztgültigen Beweise liefern und viele Fragen bleiben unbeantwortet, aber am Ende steht nicht Ratlosigkeit und Resignation, sondern eine tief verwurzelte Glaubensgewissheit, ein Wissen des Herzens, dass dankbar dem Geheimnis Gottes entgegentritt.
Es ist diese Denkbewegung des Paulus, die mich fasziniert und ermutigt, ermutigt zum Denken und zum Glauben. Umgangssprachlich gelten Glauben und Denken ja heute fast als Gegensätze. Paulus steht für eine andere Haltung. Für ihn sind Glauben und Denken Geschwister. Ein Glaube, der das Denken scheut, verkommt zum blossen Fürwahrhalten, zur Unterwerfung und ist nichts anderes als Aberglaube. Aber umgekehrt gilt auch: Wenn wir nur glauben, was wir auch wirklich wissen, dann sperren wir Gott in unser Denken ein, dann ist er nicht mehr das Geheimnis dieser Welt, sondern nur noch das Ergebnis unserer Logik. Mit unserem Denken vergewissern wir uns, dass unser Glaube Sinn macht, dass er nicht willkürlich und beliebig ist, aber zugleich respektieren wir im Glauben das Geheimnis unseres Gottes, weil wir wissen, dass nur etwas den Namen "GOTT" verdient, das höher ist als all unsere Vernunft. Der Philosoph Kierkegaard hat einmal gesagt: Wenn ein junger Mensch am Beginn seines Studiums sagt: "Ich weiss, dass ich nichts weiss", dann ist das Faulheit. Wenn ein Sokrates am Ende seines Lebens zu dieser Einsicht gelangt, dann ist es Weisheit. Ich denke, in bezug auf unseren Glauben liesse es sich ähnlich formulieren.
Es ist ein langer Weg, den Paulus bis zu unserem Predigttext gegangen ist. Am Anfang steht für ihn die Erfahrung: In Jesus Christus hat Gott sich mir gezeigt als liebender und treuer Gott, der will, dass ich leben kann. Bei allem, was mir widerfahren mag, werde ich niemals vergessen, dass ich aus dieser Liebe lebe. Daraus ergibt sich für ihn die zweite Grundeinsicht: Wir müssen nichts dazu tun, dass Gott uns liebt, kein Gesetz erfüllen, keine Leistungen erbringen. Gott liebt uns bedingungslos – in der reformatorischen Tradition heisst das „ohne Werke des Gesetzes, allein aus Glauben“. Und die dritte Einsicht: Diese Liebe Gottes, die Einladung zum Glauben gilt allen Menschen, nicht nur den Juden.
Diese drei Glaubenseinsichten des Paulus sind bleibend wichtig. Wir glauben an einen Gott, den wir zwar nicht fassen können, der Geheimnis bleibt, aber auf dessen Liebe und Treue wir vertrauen dürfen, weil er uns in Jesus Christus begegnet mit einem menschlichen Gesicht. Wir brauchen an unserem Scheitern, unseren Fehlern nicht zu verzweifeln, weil unser Heil nicht von unserer Vollkommenheit abhängt. Befreit von Leistungs- und Vollkommenheitsdruck dürfen wir aufatmen und können unser Bestes geben. Und ohne die Öffnung hin zu allen Menschen, die Paulus entdeckt hat, hätten wir wohl heute keinen Zugang zum christlichen Glauben.
Aber aus diesen Einsichten entstehen wieder neue Fragen, mit denen Paulus konfrontiert wird. Zu seiner Zeit die Gewichtigste war: Wenn es nur auf den Glauben allein und gar nicht auf das Erfüllen des Gesetzes ankommt, werden dann die Menschen nicht geradezu zur Sünde verführt. Oder moderner formuliert: gehen da nicht alle ethischen Massstäbe verloren, bricht da nicht die ganze Ordnung zusammen? Kann denn jeder tun und lassen was er will, weil der liebe Gott sowieso alle zwei Augen zudrückt? Ist der, der sich dann noch um das Gute bemüht, letzlich dumm? Nein, sagt Paulus, aber erstens kann niemand das Gesetz vollkommen erfüllen und zweitens ist Gott nicht der mit dem grossen Kassenbuch, der am Ende abrechnet. Euer Denken ist falsch. Ihr tut Gutes, weil ihr meint, dass es euch im Himmel belohnt wird. Den Himmel könnt ihr euch nicht verdienen, den will Gott euch schenken. Aber können wir nicht Gutes tun aus Freude und Dankbarkeit, aus Liebe zu Gott und zu den Menschen ohne Spekulation auf himmlischen Lohn? Wir sollten uns nicht zu schnell von solch altmodischem Denken von himmlischem Lohn frei fühlen. Ist nicht schon unser irdischer Alltag viel zu sehr von der Frage geprägt, ob sich etwas auch lohnt? Und glauben wir nicht zu oft, dass es für alles Strafen und Drohungen braucht, weil sonst ja der der Dumme ist, der sich an die Regeln hält? Paulus sagt: Gott liebt euch, da könnt ihr nichts hinzufügen und nichts wegnehmen, das könnt ihr nur annehmen. Aber zugleich sagt er: Gott beansprucht nicht einfach die Einhaltung von Vorschriften und Gesetzen (und alles, was nicht verboten ist, ist dann erlaubt); er beansprucht euer ganzes Leben, eure Herzen. Euer Tun sei nicht Berechnung und Furcht vor Strafe, sondern Liebe, Freude und Einsicht. Befolgt nicht einfach Gesetze, sondern gebraucht euer Herz und eure Vernunft und tut, wozu sie euch führen. Grenzenlose, bedingungslose Liebe und radikaler Anspruch sind in Gott vereint. O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis.
Aber bleibt nicht auch der Glaube ein Geschenk? Wie aber kann dann der Glaube für Paulus die Bedingung der Gerechtigkeit sein? Und was geschieht mit denen, die nicht glauben. Für Paulus war damit vor allem die Frage nach dem Schicksal Israels verbunden. Er ist überzeugt, dass Gott Israel erwählt hat und dass er treu ist. Aber die Mehrheit Israels kann Jesus nicht als Messias, gar als Sohn Gottes ansehen. Hat Gott nun seine Erwählung zurückgenommen? Ist er Israel untreu geworden? Das ist für Paulus unmöglich. Aber eine Antwort auf die Frage kann er nicht geben. Wenn Gott das Heil aller Menschen will und Glaube ein Geschenk ist, wieso gibt es dann den Unglauben? Vorsicht ist auf jeden Fall geboten bei unseren Versuchen, die Menschen in Gläubige und Ungläubige, Gerettete und Verworfene einzuteilen oder anderen ihren Unglauben oder anderen Glauben vorzuwerfen. Und wer von uns kann wissen, ob Gott nicht mit anderen Menschen andere Wege geht. Den eigenen Glauben ganz ernst nehmen, ihn pflegen, sein Wachstum suchen und dankbar sein für dieses Geschenk und zugleich tolerant und offen für den Glauben und die Zweifel anderer, das scheint mir der beste Weg zu sein, das Geheimnis des Lebens, das Geheimnis unseres Gottes zu respektieren.
Paulus ruft in unserem Predigttext zwei alttestamentliche Schriften in Erinnerung, Hiob und den Exilspropheten Jesaja. Das harte und unbegreifliche Schicksal eines Mannes, dem – trotz seines Glaubens und frommen Lebenswandels – alles genommen wird, für den das Leben zur Hölle wird und das Schicksal des Volkes Israel, das in der Gefangenschaft anfängt zu fragen: Wo ist denn unser Gott? Paulus erinnert daran, dass wir in unserem Leben immer wieder an Grenzen unseres Verstehens stossen, dass längst nicht alles Sinn macht und aufgeht. Persönliches Leid, Krankheit und Tod, aber auch die Erfahrung von Krieg, menschlichem Hass und Gewalt oder von Naturkatastrophen – sie gehören zu den grössten Anfechtungen des Glaubens. Da zweifeln wir an einem Gott, der alles so herrlich regieret. Und dennoch sagt Paulus: Auch dann wenn ihr Gott gar nicht mehr versteht, wenn euch seine Wege unbegreiflich und rätselhaft sind, dürft ihr mit all euren Fragen und Zweifeln zu ihm kommen, nicht in Erwartung der Antwort auf alle Fragen, aber in dem Vertrauen, dass er euch Kraft schenkt und Glaubensgewissheit in eure Herzen zurückkehren kann – nicht als Voraussetzung, aber am Ziel eines schwierigen und vielleicht langen Weges. Glaubensgewissheit, die erkennt, dass unsere Erkenntnis nicht reicht, Gottes Wege mit uns und mit unserer Welt zu durchschauen, Glaubensgewissheit, die aber darum weiss, dass der nahe und der ferne Gott derselbe sind, nämlich der, der uns in Jesus Christus bedingungslos liebt und dem unser Schicksal und das Schicksal allen Lebens nicht gleichgültig ist.
Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.
Samstag, 15. Mai 2010
Predigt am 16. Mai 2010 über 1. Mose 32,23-32
Liebe Gemeinde,
Jakobs Ringen mit Gott am Fluss Jabbok gehört zu den faszinierendsten Geschichten des Alten Testaments. Dieser Jakob ist auf der Flucht vor seinem Bruder und wohl auch auf der Flucht vor sich selbst. Seinen Bruder hat er betrogen, dass väterliche Erbe hat er sich erschlichen. Später ist er selbst zum betrogenen Betrüger geworden, überlistet von seinem Onkel und Schwiegervater Laban. Mit Geduld und Ausdauer kann er schliesslich doch noch die Frau heiraten, die er liebt. Und mit List und Geschick bringt er es zu einer ansehnlichen Herde. Vorbildlich können wir diesen Jakob in moralischer Hinsicht wohl kaum nennen, mit all seinen Listen und Betrügereien. Vorbildlich ist er höchstens in seiner Beharrlichkeit und darin, dass er versucht, aus seinem Leben das Beste zu machen und auch nach Niederlagen und Rückschlägen immer wieder aufsteht. Ausgerechnet diesen Jakob aber macht Gott zum Stammvater Israels.
Nach Jahren in der Fremde steht er nun vor der Rückkehr in die Heimat und zugleich vor der Wiederbegegnung mit seinem Bruder. An einem Fluss, den er zu überqueren hat - ein uraltes mythologisches Bild für Übergangs- und Schwellensituationen im Leben - bekommt er es in einem nächtlichen Traum mit einem geheimnisvollen Widersacher zu tun. Ohne zu ahnen, mit wem er ringt, hält er seinem Widersacher stand bis zur Morgenröte. „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Mit diesen Worten ringt er seinem Gegenüber den Segen ab. Bis zum Ende der Geschichte weiss Jakob nicht, mit wem er da ringt. Da ist kein unerschütterliches Gottvertrauen, keiner, der von Anfang an weiss, dass es mit Gottes Hilfe nur gut ausgehen kann. Das weiss und darauf vertraut er erst am Ende. Zuerst einmal ist da einer, der weiss, dass es um sein Leben geht, der ringt und kämpft und nicht aufgibt.
Für mich verdichtet sich in diesem nächtlichen Traum das ganze Leben Jakobs. Hat er nicht in seinem ganzen Leben um Segen und Gelingen gerungen? Er wollte das Zwei, das er bei seiner Geburt am Rücken trug, unbedingt loswerden. Und es ist ihm gelungen - aber um welchen Preis? War es das wert? Konnte er sein eigenes Vorgehen nocht gutheissen? Hat es sich gelohnt, dafür mit Jahren in der Fremde und der Feindschaft seines Bruders Esau zu bezahlen? Unbedingt wollte er die schöne Rahel zur Frau haben. Er bezahlte dafür mit Geduld und Warten und jahrelangem Dienst. Er hat sein Ziel erreicht, aber es hat ihn etwas gekostet. Und welchen Preis bezahlte Lea, die Ungeliebte - und Rahel, die lange Kinderlose? Und hat er sich mit seiner List, die ihm zulasten seines Onkels und Schwiegervaters Laban eine ansehnliche Herde einbrachte, sich nicht auch noch dessen Feindschaft zugezogen?
Doch mehr als all das wog wohl die Angst vor der Wiederbegegnung mit seinem Bruder Esau. Der Betrug und die daraus entstandene Feindschaft der Brüder, das ist der entscheidende Bruch im Leben des Jakob. Nur wenn es gelingt, diesen Bruch zu heilen, kann sein ganzes Leben heil werden. Und nur wenn er sich dieser Wiederbegegnung stellt, kann er das herausfinden.
Gibt es in unserem Leben nicht auch Situationen, in denen wir ringen und kämpfen müssen und nicht wissen, mit wem wir es zu tun haben. Ich denke dabei an Menschen, die plötzlich mit einer bedrohlichen ärztlichen Diagnose konfrontiert sind und all die Fragen aushalten müssen, was wohl auf sie zukommt, ob sie kämpfen oder loslassen sollen, ob ihre Kräfte reichen, welchen Sinn das alles haben mag. Ich denke aber auch an jene, die durch den Tod eines geliebten Menschen, eine enttäuschte Liebe, materielle Sorgen oder psychische Ängste, den Glauben an das Leben verloren haben und nicht wissen wie es weitergehen soll, die damit ringen, dem Leben einen Sinn abzugewinnen und etwas zu finden, wofür es sich zu leben lohnt. Ich denke an Menschen, die in ihrem Beruf oder in der Familie schleichend oder plötzlich den Sinn verlieren und ausgebrannt sind. Wie können sie darum kämpfen, dass ihr Tun für sie wieder Sinn macht, das Feuer wieder brennt? Wo müssen sie loslassen und vielleicht völlig neue Wege gehen? Ich denke, wir alle kennen solche Situationen, in denen wir mit dem Leben, in denen wir mit Gott ringen, auch wenn sie längst nicht immer so dramatisch sind.
Auch wenn wir unseren Halt im Glauben gefunden haben, erspart uns das dieses Ringen nicht. Nicht ungebrochenes und unerschütterliches Gottvertrauen sollen wir uns erhoffen, aber den Mut des Jakob, zu ringen und zu kämpfen, wo es nötig ist, nicht aufzugeben, unseren Glauben nicht loszulassen.
Für mich enthält die Jakobsgeschichte eine grossartige Zusage. Auch in dem für uns vielleicht sinnlosen Ringen, in dem was wir nicht begreifen, haben wir es letztlich mit Gott zu tun. Und wenn wir wie Jakob standhalten, uns nicht entmutigen lassen, die Hoffnung nicht aufgeben, dann lässt Gott sich seinen Segen abringen. Jakob ist am Ende des Kampfes gezeichnet, er hinkt an der Hüfte, aber er ist nicht überwunden. Auch für uns gilt: wir sind wohl von den Erfahrungen unseres Lebens gezeichnet, tragen Verletzungen davon. Aber auch wir dürfen sagen: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“
Diese Worte Jakobs nimmt auch die Motette von Johann Sebastian Bach auf, die wir nach der Predigt vom Chor hören werden. In dieser Motette hat der Angeredete aber einen Namen. Es ist Jesus. In seinem Geschick können wir unser Leben bergen, denn Jesus ist nicht nur vom Leben, sondern sogar vom Tode gezeichnet und hat standgehalten. Darauf gründen wir unser Vertrauen, von dem der Sopran singt: „Weil du mein Gott und Vater bist, dein Kind wirst du verlassen nicht, du väterliches Herz.“
Seinen Segen schenkt uns Gott. Verdienen können wir ihn nicht. Aber beharrlich daran festhalten, dass er uns seinen Segen verheissen hat und niemals resigniert aufgeben. Wir können nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Und auch wenn wir mit Gott ringen müssen in unserem Leben: er will uns nicht besiegen, sondern uns segnen.
Jakobs Ringen mit Gott am Fluss Jabbok gehört zu den faszinierendsten Geschichten des Alten Testaments. Dieser Jakob ist auf der Flucht vor seinem Bruder und wohl auch auf der Flucht vor sich selbst. Seinen Bruder hat er betrogen, dass väterliche Erbe hat er sich erschlichen. Später ist er selbst zum betrogenen Betrüger geworden, überlistet von seinem Onkel und Schwiegervater Laban. Mit Geduld und Ausdauer kann er schliesslich doch noch die Frau heiraten, die er liebt. Und mit List und Geschick bringt er es zu einer ansehnlichen Herde. Vorbildlich können wir diesen Jakob in moralischer Hinsicht wohl kaum nennen, mit all seinen Listen und Betrügereien. Vorbildlich ist er höchstens in seiner Beharrlichkeit und darin, dass er versucht, aus seinem Leben das Beste zu machen und auch nach Niederlagen und Rückschlägen immer wieder aufsteht. Ausgerechnet diesen Jakob aber macht Gott zum Stammvater Israels.
Nach Jahren in der Fremde steht er nun vor der Rückkehr in die Heimat und zugleich vor der Wiederbegegnung mit seinem Bruder. An einem Fluss, den er zu überqueren hat - ein uraltes mythologisches Bild für Übergangs- und Schwellensituationen im Leben - bekommt er es in einem nächtlichen Traum mit einem geheimnisvollen Widersacher zu tun. Ohne zu ahnen, mit wem er ringt, hält er seinem Widersacher stand bis zur Morgenröte. „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Mit diesen Worten ringt er seinem Gegenüber den Segen ab. Bis zum Ende der Geschichte weiss Jakob nicht, mit wem er da ringt. Da ist kein unerschütterliches Gottvertrauen, keiner, der von Anfang an weiss, dass es mit Gottes Hilfe nur gut ausgehen kann. Das weiss und darauf vertraut er erst am Ende. Zuerst einmal ist da einer, der weiss, dass es um sein Leben geht, der ringt und kämpft und nicht aufgibt.
Für mich verdichtet sich in diesem nächtlichen Traum das ganze Leben Jakobs. Hat er nicht in seinem ganzen Leben um Segen und Gelingen gerungen? Er wollte das Zwei, das er bei seiner Geburt am Rücken trug, unbedingt loswerden. Und es ist ihm gelungen - aber um welchen Preis? War es das wert? Konnte er sein eigenes Vorgehen nocht gutheissen? Hat es sich gelohnt, dafür mit Jahren in der Fremde und der Feindschaft seines Bruders Esau zu bezahlen? Unbedingt wollte er die schöne Rahel zur Frau haben. Er bezahlte dafür mit Geduld und Warten und jahrelangem Dienst. Er hat sein Ziel erreicht, aber es hat ihn etwas gekostet. Und welchen Preis bezahlte Lea, die Ungeliebte - und Rahel, die lange Kinderlose? Und hat er sich mit seiner List, die ihm zulasten seines Onkels und Schwiegervaters Laban eine ansehnliche Herde einbrachte, sich nicht auch noch dessen Feindschaft zugezogen?
Doch mehr als all das wog wohl die Angst vor der Wiederbegegnung mit seinem Bruder Esau. Der Betrug und die daraus entstandene Feindschaft der Brüder, das ist der entscheidende Bruch im Leben des Jakob. Nur wenn es gelingt, diesen Bruch zu heilen, kann sein ganzes Leben heil werden. Und nur wenn er sich dieser Wiederbegegnung stellt, kann er das herausfinden.
Gibt es in unserem Leben nicht auch Situationen, in denen wir ringen und kämpfen müssen und nicht wissen, mit wem wir es zu tun haben. Ich denke dabei an Menschen, die plötzlich mit einer bedrohlichen ärztlichen Diagnose konfrontiert sind und all die Fragen aushalten müssen, was wohl auf sie zukommt, ob sie kämpfen oder loslassen sollen, ob ihre Kräfte reichen, welchen Sinn das alles haben mag. Ich denke aber auch an jene, die durch den Tod eines geliebten Menschen, eine enttäuschte Liebe, materielle Sorgen oder psychische Ängste, den Glauben an das Leben verloren haben und nicht wissen wie es weitergehen soll, die damit ringen, dem Leben einen Sinn abzugewinnen und etwas zu finden, wofür es sich zu leben lohnt. Ich denke an Menschen, die in ihrem Beruf oder in der Familie schleichend oder plötzlich den Sinn verlieren und ausgebrannt sind. Wie können sie darum kämpfen, dass ihr Tun für sie wieder Sinn macht, das Feuer wieder brennt? Wo müssen sie loslassen und vielleicht völlig neue Wege gehen? Ich denke, wir alle kennen solche Situationen, in denen wir mit dem Leben, in denen wir mit Gott ringen, auch wenn sie längst nicht immer so dramatisch sind.
Auch wenn wir unseren Halt im Glauben gefunden haben, erspart uns das dieses Ringen nicht. Nicht ungebrochenes und unerschütterliches Gottvertrauen sollen wir uns erhoffen, aber den Mut des Jakob, zu ringen und zu kämpfen, wo es nötig ist, nicht aufzugeben, unseren Glauben nicht loszulassen.
Für mich enthält die Jakobsgeschichte eine grossartige Zusage. Auch in dem für uns vielleicht sinnlosen Ringen, in dem was wir nicht begreifen, haben wir es letztlich mit Gott zu tun. Und wenn wir wie Jakob standhalten, uns nicht entmutigen lassen, die Hoffnung nicht aufgeben, dann lässt Gott sich seinen Segen abringen. Jakob ist am Ende des Kampfes gezeichnet, er hinkt an der Hüfte, aber er ist nicht überwunden. Auch für uns gilt: wir sind wohl von den Erfahrungen unseres Lebens gezeichnet, tragen Verletzungen davon. Aber auch wir dürfen sagen: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“
Diese Worte Jakobs nimmt auch die Motette von Johann Sebastian Bach auf, die wir nach der Predigt vom Chor hören werden. In dieser Motette hat der Angeredete aber einen Namen. Es ist Jesus. In seinem Geschick können wir unser Leben bergen, denn Jesus ist nicht nur vom Leben, sondern sogar vom Tode gezeichnet und hat standgehalten. Darauf gründen wir unser Vertrauen, von dem der Sopran singt: „Weil du mein Gott und Vater bist, dein Kind wirst du verlassen nicht, du väterliches Herz.“
Seinen Segen schenkt uns Gott. Verdienen können wir ihn nicht. Aber beharrlich daran festhalten, dass er uns seinen Segen verheissen hat und niemals resigniert aufgeben. Wir können nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Und auch wenn wir mit Gott ringen müssen in unserem Leben: er will uns nicht besiegen, sondern uns segnen.
Predigt an Auffahrt, 13. Mai 2010 über Apg 1,3-11
Liebe Gemeinde,
der heutige Predigttext erzählt den zweiten Abschied der Jüngerinnen und Jünger von Jesus. Am Karfreitag war es - so dachten sie - ein endgültiger Abschied, der nur Trostlosigkeit und Verzweiflung zurückliess. Wie anders ist das nun bei diesem zweiten Abschied. 40 Tage sind seit dem Ostermorgen vergangen - seit dem Morgen der Auferstehung Jesu Christi. Im NT sind diese 40 Tage eine Zeit der besonderen Gegenwart Jesu. In dieser Zeit wurden die Jüngerinnen und Jünger Jesu in der Gewissheit bestärkt, dass Jesus, der Gekreuzigte nicht im Tode geblieben ist. Er ist ihnen erschienen - heisst es in der Bibel - und zugleich sind diese Erscheinungen allesamt schwebend erzählt. Immer, wenn die Jüngerinnen und Jünger ihn fassen wollen, entzieht er sich. Sie - und mit ihnen wir - sollen begreifen, dass es um mehr und anderes geht als um ein Weiterleben nach dem Tod, um ein Leben, dass den Tod überwunden hat. Er lebt, aber nicht so, wie wir in dieser Welt leben.
Nach 40 Tagen geht diese Zeit zu Ende. 40 ist eine besondere Zahl. 40 Tage dauert die Fastenzeit vor Ostern, vierzig Tage und Nächte fastet Jesus in der Versuchungsgeschichte in der Wüste, 40 Jahre dauert die Wüstenzeit des Volkes Israel beim Auszug aus Ägypten. Es ist eine Zeit der Reifung und der Stärkung, die Zeit, die es braucht, damit die neue Hoffnung, das neue Vertrauen bei den Jüngerinnen und Jüngern Wurzel schlagen kann. So ermutigt und bestärkt in dem Vertrauen, dass Jesus nicht einfach tot ist, nicht alles zuende ist, können sie nun Abschied nehmen. Dieser Abschied ist geprägt von Zuversicht, ist auch eine Art Mündigerklärung der Jüngerinnen und Jünger.
Am Ende der Geschichte gibt es eine beeindruckende Szene: wie gebannt blicken die Jüngerinnen und Jünger in den Himmel hinauf, der Wolke hinterher, die den Auferstandenen ihren Blicken entzogen hat. Da tauchen zwei Männer in weissen Kleidern auf - wer würde hier nicht an die Geschichte vom leeren Grab denken! Und so wie sie am Ende des Lukasevangeliums fragen „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?“ so fragen sie nun „Was steht ihr da und schaut hinauf zum Himmel?“ Und sie verbinden damit die Verheissung, dass der Auferstandene wiederkommen wird. Für mich schwingt aber in dieser Frage noch viel mehr mit. Sie verweist die Jüngerinnen und Jünger auf die Erde. Das ist der Ort, wo sie ihr Leben gestalten sollen, wo sie Verantwortung tragen und die Liebe, die sie erfahren haben, weitertragen sollen. Wer den christlichen Glauben mit einer frommen Weltflucht verwechselt, der hat diese Frage überhört. Sie verbietet uns aber auch die Suche nach endgültigen unumstösslichen Wahrheiten, die Erstarrung unseres Glaubens in Lehrsätzen. In irdischen Gefässen tragen wir die Glaubensgewissheit und wer sie ein für alle Mal im Buchstaben festschreiben will - sei es in Bibelversen oder in Dogmen - verliert das Leben aus den Augen. Und die Frage der beiden Männer macht uns auch bewusst, dass wir nicht auf ein wunderbares Eingreifen Gottes von oben herab warten, sondern unser Leben in die Hand nehmen und auf die Zeichen Gottes hier auf der Erde achten sollen, in dem was uns begegnet, in den alltäglichen Erfahrungen, in den Menschen, die uns auf unserem Weg begegnen. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen - dieser Leitsatz der Aufklärung verträgt sich ganz gut mit der biblischen Botschaft, mit dieser Mündigerklärung der Jüngerinnen und Jünger. Aber er ist unbedingt zu ergänzen mit der Aufforderung, dass wir uns nicht nur unseres Verstandes bedienen, sondern auch auf die Stimme unseres Herzens achten und uns berühren lassen von dem, was höher ist als unsere Vernunft.
Indem der Auferstandene die Jüngerinnen und Jünger verlässt, gibt er ihnen auch Freiheit und eröffnet ihnen und uns einen Raum, den wir wahrnehmen und in dem wir Verantwortung tragen können, Verantwortung für unser Leben, Verantwortung für die Menschen, die Gott uns anvertraut hat und für seine ganze Schöpfung, Verantwortung auch für die Botschaft vom Reich Gottes, die Jesus verkündet hat. Der Auferstandene geht. Aber er lässt sie nicht allein zurück. „Ihr werdet aber Kraft empfangen, wenn der heilige Geist über euch kommt, und ihr werdet meine Zeugen sein, in Jerusalem, in ganz Judäa, in Samaria und bis an die Enden der Erde.“ Sie bekommen nicht die Antwort auf alle Fragen, auch nicht einen Glauben, der durch nichts mehr ins Wanken geraten kann und erst Recht werden sie nicht frei von allem Leid. Aber Kraft - die ist ihnen verheissen. Und Kraft von Gott dürfen auch wir uns in unserem Leben erhoffen. Wir leben nicht allein von unserer eigenen bescheidenen Kraft und wir sind nicht allein, wenn wir an die Grenzen unserer Kräfte kommen. Indem wir unseren Weg gehen und reden von dem, was uns mit Hoffnung und Glauben erfüllt, aber auch von unseren Zweifeln und Sorgen, werden wir Zeuginnen und Zeugen sein. Zeuginnen und Zeugen sollen nämlich etwas bezeugen und nicht andere überzeugen oder gar überreden. Der erste und einzige Anspruch an Zeugen ist der, dass sie wahrhaftig sind. Und das gilt umso mehr in Glaubensdingen, wo wir ja nicht einfach mehr oder weniger objektive Sachverhalte schildern können. Und die Vielfalt der Zeuginnen und Zeugen eröffnet jedem den Raum, den eigenen Glauben zu finden, wahrzunehmen, was ihn oder sie mit Hoffnung und Kraft erfüllt.
Wir müssen nicht wissen, was damals vor den Toren Jerusalems wirklich geschehen ist, sollen nicht wie gebannt zum Himmel starren. Hätte es damals schon Fotos oder Filme gegeben - es wäre wohl nichts darauf zu erkennen gewesen. Spannend ist es ja, dass viele Bilder der Himmelfahrt, den Auferstandenen auf einer Wolke emporschwebend darstellen. In der Apostelgeschichte heisst es aber, dass eine Wolke ihn aufnahm und ihren Blicken entzog. Das Entscheidende lässt sich nicht zeigen, fassen, beweisen. War es ein Traum oder ein reales Geschehen? Ich vermute, dass es darauf gar nicht ankommt und dass vielleicht schon diese Unterscheidung nicht angemessen ist. Für die Jüngerinnen und Jünger Jesu war es jedenfalls eine reale Kraft, die sie in Bewegung setzte und mit Hoffnung und Vertrauen erfüllte. Nur dadurch konnte die Botschaft Jesu bis heute ihren Weg finden bis an die Enden der Erde.
Und wo stehen wir heute im Echo dieser Botschaft vom Leben? Wofür stehen wir als Zeuginnen und Zeugen ein - nicht nur in Worten sondern auch in Taten? Wer oder was gibt uns Kraft, wenn unsere Kräfte nicht mehr reichen? Von wem lassen wir uns den Weg weisen? Welche Worte können wir sagen, welche Lieder können wir singen? Welchen Menschen können wir vertrauen? Wo erwarten und erhoffen wir uns Gottes Hilfe? Wo starren wir wie gebannt zum Himmel und verlieren das Leben aus den Augen? Oder starren wir eher auf die Erde und verlieren den Blick für die Kraft, die uns von Gott her zuteil wird?
Unseren Weg können wir nur selber gehen - hier auf dieser Erde unter den Menschen, die uns begegnen. Gott gibt uns die Kraft dazu, jeden Morgen neu. Von diesem Vertrauen leben wir. Das genügt. Amen.
der heutige Predigttext erzählt den zweiten Abschied der Jüngerinnen und Jünger von Jesus. Am Karfreitag war es - so dachten sie - ein endgültiger Abschied, der nur Trostlosigkeit und Verzweiflung zurückliess. Wie anders ist das nun bei diesem zweiten Abschied. 40 Tage sind seit dem Ostermorgen vergangen - seit dem Morgen der Auferstehung Jesu Christi. Im NT sind diese 40 Tage eine Zeit der besonderen Gegenwart Jesu. In dieser Zeit wurden die Jüngerinnen und Jünger Jesu in der Gewissheit bestärkt, dass Jesus, der Gekreuzigte nicht im Tode geblieben ist. Er ist ihnen erschienen - heisst es in der Bibel - und zugleich sind diese Erscheinungen allesamt schwebend erzählt. Immer, wenn die Jüngerinnen und Jünger ihn fassen wollen, entzieht er sich. Sie - und mit ihnen wir - sollen begreifen, dass es um mehr und anderes geht als um ein Weiterleben nach dem Tod, um ein Leben, dass den Tod überwunden hat. Er lebt, aber nicht so, wie wir in dieser Welt leben.
Nach 40 Tagen geht diese Zeit zu Ende. 40 ist eine besondere Zahl. 40 Tage dauert die Fastenzeit vor Ostern, vierzig Tage und Nächte fastet Jesus in der Versuchungsgeschichte in der Wüste, 40 Jahre dauert die Wüstenzeit des Volkes Israel beim Auszug aus Ägypten. Es ist eine Zeit der Reifung und der Stärkung, die Zeit, die es braucht, damit die neue Hoffnung, das neue Vertrauen bei den Jüngerinnen und Jüngern Wurzel schlagen kann. So ermutigt und bestärkt in dem Vertrauen, dass Jesus nicht einfach tot ist, nicht alles zuende ist, können sie nun Abschied nehmen. Dieser Abschied ist geprägt von Zuversicht, ist auch eine Art Mündigerklärung der Jüngerinnen und Jünger.
Am Ende der Geschichte gibt es eine beeindruckende Szene: wie gebannt blicken die Jüngerinnen und Jünger in den Himmel hinauf, der Wolke hinterher, die den Auferstandenen ihren Blicken entzogen hat. Da tauchen zwei Männer in weissen Kleidern auf - wer würde hier nicht an die Geschichte vom leeren Grab denken! Und so wie sie am Ende des Lukasevangeliums fragen „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?“ so fragen sie nun „Was steht ihr da und schaut hinauf zum Himmel?“ Und sie verbinden damit die Verheissung, dass der Auferstandene wiederkommen wird. Für mich schwingt aber in dieser Frage noch viel mehr mit. Sie verweist die Jüngerinnen und Jünger auf die Erde. Das ist der Ort, wo sie ihr Leben gestalten sollen, wo sie Verantwortung tragen und die Liebe, die sie erfahren haben, weitertragen sollen. Wer den christlichen Glauben mit einer frommen Weltflucht verwechselt, der hat diese Frage überhört. Sie verbietet uns aber auch die Suche nach endgültigen unumstösslichen Wahrheiten, die Erstarrung unseres Glaubens in Lehrsätzen. In irdischen Gefässen tragen wir die Glaubensgewissheit und wer sie ein für alle Mal im Buchstaben festschreiben will - sei es in Bibelversen oder in Dogmen - verliert das Leben aus den Augen. Und die Frage der beiden Männer macht uns auch bewusst, dass wir nicht auf ein wunderbares Eingreifen Gottes von oben herab warten, sondern unser Leben in die Hand nehmen und auf die Zeichen Gottes hier auf der Erde achten sollen, in dem was uns begegnet, in den alltäglichen Erfahrungen, in den Menschen, die uns auf unserem Weg begegnen. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen - dieser Leitsatz der Aufklärung verträgt sich ganz gut mit der biblischen Botschaft, mit dieser Mündigerklärung der Jüngerinnen und Jünger. Aber er ist unbedingt zu ergänzen mit der Aufforderung, dass wir uns nicht nur unseres Verstandes bedienen, sondern auch auf die Stimme unseres Herzens achten und uns berühren lassen von dem, was höher ist als unsere Vernunft.
Indem der Auferstandene die Jüngerinnen und Jünger verlässt, gibt er ihnen auch Freiheit und eröffnet ihnen und uns einen Raum, den wir wahrnehmen und in dem wir Verantwortung tragen können, Verantwortung für unser Leben, Verantwortung für die Menschen, die Gott uns anvertraut hat und für seine ganze Schöpfung, Verantwortung auch für die Botschaft vom Reich Gottes, die Jesus verkündet hat. Der Auferstandene geht. Aber er lässt sie nicht allein zurück. „Ihr werdet aber Kraft empfangen, wenn der heilige Geist über euch kommt, und ihr werdet meine Zeugen sein, in Jerusalem, in ganz Judäa, in Samaria und bis an die Enden der Erde.“ Sie bekommen nicht die Antwort auf alle Fragen, auch nicht einen Glauben, der durch nichts mehr ins Wanken geraten kann und erst Recht werden sie nicht frei von allem Leid. Aber Kraft - die ist ihnen verheissen. Und Kraft von Gott dürfen auch wir uns in unserem Leben erhoffen. Wir leben nicht allein von unserer eigenen bescheidenen Kraft und wir sind nicht allein, wenn wir an die Grenzen unserer Kräfte kommen. Indem wir unseren Weg gehen und reden von dem, was uns mit Hoffnung und Glauben erfüllt, aber auch von unseren Zweifeln und Sorgen, werden wir Zeuginnen und Zeugen sein. Zeuginnen und Zeugen sollen nämlich etwas bezeugen und nicht andere überzeugen oder gar überreden. Der erste und einzige Anspruch an Zeugen ist der, dass sie wahrhaftig sind. Und das gilt umso mehr in Glaubensdingen, wo wir ja nicht einfach mehr oder weniger objektive Sachverhalte schildern können. Und die Vielfalt der Zeuginnen und Zeugen eröffnet jedem den Raum, den eigenen Glauben zu finden, wahrzunehmen, was ihn oder sie mit Hoffnung und Kraft erfüllt.
Wir müssen nicht wissen, was damals vor den Toren Jerusalems wirklich geschehen ist, sollen nicht wie gebannt zum Himmel starren. Hätte es damals schon Fotos oder Filme gegeben - es wäre wohl nichts darauf zu erkennen gewesen. Spannend ist es ja, dass viele Bilder der Himmelfahrt, den Auferstandenen auf einer Wolke emporschwebend darstellen. In der Apostelgeschichte heisst es aber, dass eine Wolke ihn aufnahm und ihren Blicken entzog. Das Entscheidende lässt sich nicht zeigen, fassen, beweisen. War es ein Traum oder ein reales Geschehen? Ich vermute, dass es darauf gar nicht ankommt und dass vielleicht schon diese Unterscheidung nicht angemessen ist. Für die Jüngerinnen und Jünger Jesu war es jedenfalls eine reale Kraft, die sie in Bewegung setzte und mit Hoffnung und Vertrauen erfüllte. Nur dadurch konnte die Botschaft Jesu bis heute ihren Weg finden bis an die Enden der Erde.
Und wo stehen wir heute im Echo dieser Botschaft vom Leben? Wofür stehen wir als Zeuginnen und Zeugen ein - nicht nur in Worten sondern auch in Taten? Wer oder was gibt uns Kraft, wenn unsere Kräfte nicht mehr reichen? Von wem lassen wir uns den Weg weisen? Welche Worte können wir sagen, welche Lieder können wir singen? Welchen Menschen können wir vertrauen? Wo erwarten und erhoffen wir uns Gottes Hilfe? Wo starren wir wie gebannt zum Himmel und verlieren das Leben aus den Augen? Oder starren wir eher auf die Erde und verlieren den Blick für die Kraft, die uns von Gott her zuteil wird?
Unseren Weg können wir nur selber gehen - hier auf dieser Erde unter den Menschen, die uns begegnen. Gott gibt uns die Kraft dazu, jeden Morgen neu. Von diesem Vertrauen leben wir. Das genügt. Amen.
Predigt zum Muttertag, 9. Mai über Jes 66,5-14a und Röm 8,26-30
Liebe Gemeinde,
heute ist Muttertag. Vielleicht sind die Mütter unter Ihnen am Morgen schon mit Blumen beschenkt worden oder haben für einmal den Tisch zum Zmorge gedeckt vorgefunden. Hoffentlich haben sie so das eine oder andere Zeichen der Dankbarkeit erfahren. Ich weiss nicht, wie es ihnen mit dem Muttertag geht. Für mich hat er etwas Zwiespältiges: Sicher, die Mütter haben es gewiss verdient, dass ihnen zu Ehren und als Dank ein besonderer Tag gefeiert wird. Gerade weil im Alltag Haus- und Familienarbeit oft allzu selbstverständlich ist und kaum Dank und Anerkennung einbringt, tut es gut, wenn Mütter zumindest an diesem Tag Dank und Anerkennung spüren dürfen.
Aber zwiespältig ist das, weil es eben mit einem Blumenstrauss, einer Einladung zum Mittagessen oder auch einer Sonntagspredigt an diesem besonderen Tag nicht getan ist. Denn wenn nicht etwas von alledem auch im Alltag zu spüren ist, dann bleibt es fade und kommt nicht wirklich von Herzen.
Ich habe deshalb für den heutigen Gottesdienst zwei Bibeltexte ausgesucht, die nicht eigentlich von Müttern handeln, die uns aber mit ihren mütterlichen Bildern ansprechen wollen. In der Schriftlesung aus dem Buch Jesaja heisst es von Gott: "Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet." Auch heute sind wir es noch eher gewohnt, Gott als Vater, Herrn, Allmächtigen anzureden. Gott aber ist auch und vor allem einer der tröstet, der trösten kann wie eine Mutter. Und ich denke besonders Mütter verstehen sehr gut, was dieses Bild bedeutet: das untröstliche Kind in die Arme nehmen, es ganz fest an sich drücken, den Kopf auf der Brust, mit zärtlichen Händen über Haare und Wange streichen, vielleicht ein Liedlein summen oder mit sanften Worten gut zureden, geduldig und behutsam abwarten bis die Tränenflut verebbt und das Kind spürt: es wird wieder gut. Wie oft haben sie, liebe Mütter, das schon getan. Und der Prophet Jesaja sagt uns: genau so ist Gott. Wie eine liebende und tröstende Mutter ist er für uns da und hält uns. Und die heilige Stadt Jerusalem schildert der Prophet im Bild einer Gebärenden und einer Mutter, die ihr Kind säugt. Und das Heil, die Erfüllung schildert er in mütterlichen Bildern: "Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an dem Reichtum ihrer Mutterbrust. Denn so spricht der HERR: Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach. Ihre Kinder sollen auf dem Arme getragen werden, und auf den Knien wird man sie liebkosen."
Ein wunderbares Bild für das Heil, das Gott uns schenkt. Und auch ein wichtiger Hinweis dafür, dass im Tun von Müttern Gott am Werk ist und Heil und Leben schafft. Auf der Weitergabe des Lebens, auf mütterlicher Liebe und Treue ruht Gottes Segen, darin liegt göttliche Kraft. Und ich denke auch wir Männer sollten darauf achten, die mütterlichen Seiten in uns zu entdecken und zu leben. Auch wir können trösten und herzen und liebkosen. Und mit etwas Übung sind wir auch für die ganz praktischen Dinge in Haus und Familie nicht zu ungeschickt.
Aber wenn wir so die mütterlichen Seiten Gottes betonen, uns das Heil in mütterlichen Bildern vor Augen führen und ins Herz legen lassen, dann kann das auch die Mutterrolle glorifizieren. Mütter kennen aber die Schattenseiten sehr gut, angefangen bei der Geburt. Deshalb noch ein zweiter Bibeltext, diesmal aus dem Röm 8,26-30:
26 Desgleichen hilft auch der Geist unsrer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen.
27 Der aber die Herzen erforscht, der weiß, worauf der Sinn des Geistes gerichtet ist; denn er vertritt die Heiligen, wie es Gott gefällt.
28 Wir wissen aber, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem [a ] Ratschluß berufen sind.
29 Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, daß sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes, damit dieser der [a ] Erstgeborene sei unter vielen Brüdern.
30 Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.
Einige Verse vor unserem Textabschnitt schreibt Paulus: Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und in Wehen liegt. Auch hier wieder das Bild der Gebärenden, aber dieses Mal geht es um das Seufzen und Stöhnen, um die Schmerzen der Geburt, um die Lasten und Schmerzen, die zu unserem Leben gehören.
Vom Seufzen und Stöhnen wissen Mütter wohl so manches zu erzählen, wie gesagt, angefangen bei den Schmerzen der Geburt. Am Anfang sind es vielleicht unruhige Nächte, die Unsicherheit, was das Kind braucht. Später dann die Hilflosigkeit, wenn die Kinder trotzen oder wenn sie auf den blanken Nerven herumtanzen. Krankheiten sind vielleicht mit zu durchleiden. Oder all die Schulsorgen, der Kummer und die Nöte des Erwachsenwerdens, die Gefahren, die man überall sieht und vor denen man die Kinder nicht wirklich bewahren kann, der erste Liebeskummer, die Schwierigkeiten, den eigenen Weg zu finden. Ja und - die Älteren wissen das sehr gut – auch wenn die Kinder erwachsen sind, hört das ja nicht auf. Kann man einen Kontakt halten, der beide Seiten bereichert. Und wenn die Ehe der Kinder kriselt und man nicht hineinreden kann und darf und trotzdem mitleidet. Oder sich Sorgen um die Enkel macht. Oder einfach mehr Dankbarkeit oder Zuwendung erhofft und erwartet. Oder selber alt geworden ist und sich einsam fühlt?
Es ist gut, dass die Bibel das Seufzen und Stöhnen nicht unterschlägt, dass die Sorgen und Nöte von uns Menschen und ganz besonders von Müttern darin Platz finden. Vor allem aber, dass der Predigttext aus dem Römerbrief uns eine Kraft verheisst, die unser Seufzen und Stöhnen aufnimmt und vor Gott bringt. Auch wenn wir nicht wissen, was wir beten sollen, wenn wir nicht mehr die richtigen Worte finden, zu müde, zu ratlos sind: der Geist vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen. Dass unser Seufzen an Gottes Ohr dringt, dass wir gar nicht die richtigen Worte finden müssen, sondern manchmal eben unser Seufzen und Stöhnen Gebet genug ist, das kannn trösten und entlasten. Es kommt nicht allein auf uns und unsere Kraft an. Wir dürfen loslassen, dürfen das was unsere Kräfte übersteigt, in die Hände eines anderen legen, der immer schon über uns wacht wie eine Mutter über ihre Kinder. Wir begreifen wohl manchmal nicht, was mit uns geschieht, warum die Dinge so sind, wie sie sind und was daran gut sein soll. Aber "wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten dienen." Mit diesem Vertrauen sollen und dürfen wir leben, die Mütter zuerst, aber auch alle anderen Menschen. Es hängt nicht alles von uns ab. Wir Menschen stossen an Grenzen, wissen nicht mehr weiter, werden aneinander schuldig. Gott aber ist treu und er vergibt, er gibt neue Kraft, schenkt neue Anfänge, bleibt bei uns bis ans Ende unserer Tage und darüber hinaus. Amen.
heute ist Muttertag. Vielleicht sind die Mütter unter Ihnen am Morgen schon mit Blumen beschenkt worden oder haben für einmal den Tisch zum Zmorge gedeckt vorgefunden. Hoffentlich haben sie so das eine oder andere Zeichen der Dankbarkeit erfahren. Ich weiss nicht, wie es ihnen mit dem Muttertag geht. Für mich hat er etwas Zwiespältiges: Sicher, die Mütter haben es gewiss verdient, dass ihnen zu Ehren und als Dank ein besonderer Tag gefeiert wird. Gerade weil im Alltag Haus- und Familienarbeit oft allzu selbstverständlich ist und kaum Dank und Anerkennung einbringt, tut es gut, wenn Mütter zumindest an diesem Tag Dank und Anerkennung spüren dürfen.
Aber zwiespältig ist das, weil es eben mit einem Blumenstrauss, einer Einladung zum Mittagessen oder auch einer Sonntagspredigt an diesem besonderen Tag nicht getan ist. Denn wenn nicht etwas von alledem auch im Alltag zu spüren ist, dann bleibt es fade und kommt nicht wirklich von Herzen.
Ich habe deshalb für den heutigen Gottesdienst zwei Bibeltexte ausgesucht, die nicht eigentlich von Müttern handeln, die uns aber mit ihren mütterlichen Bildern ansprechen wollen. In der Schriftlesung aus dem Buch Jesaja heisst es von Gott: "Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet." Auch heute sind wir es noch eher gewohnt, Gott als Vater, Herrn, Allmächtigen anzureden. Gott aber ist auch und vor allem einer der tröstet, der trösten kann wie eine Mutter. Und ich denke besonders Mütter verstehen sehr gut, was dieses Bild bedeutet: das untröstliche Kind in die Arme nehmen, es ganz fest an sich drücken, den Kopf auf der Brust, mit zärtlichen Händen über Haare und Wange streichen, vielleicht ein Liedlein summen oder mit sanften Worten gut zureden, geduldig und behutsam abwarten bis die Tränenflut verebbt und das Kind spürt: es wird wieder gut. Wie oft haben sie, liebe Mütter, das schon getan. Und der Prophet Jesaja sagt uns: genau so ist Gott. Wie eine liebende und tröstende Mutter ist er für uns da und hält uns. Und die heilige Stadt Jerusalem schildert der Prophet im Bild einer Gebärenden und einer Mutter, die ihr Kind säugt. Und das Heil, die Erfüllung schildert er in mütterlichen Bildern: "Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an dem Reichtum ihrer Mutterbrust. Denn so spricht der HERR: Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach. Ihre Kinder sollen auf dem Arme getragen werden, und auf den Knien wird man sie liebkosen."
Ein wunderbares Bild für das Heil, das Gott uns schenkt. Und auch ein wichtiger Hinweis dafür, dass im Tun von Müttern Gott am Werk ist und Heil und Leben schafft. Auf der Weitergabe des Lebens, auf mütterlicher Liebe und Treue ruht Gottes Segen, darin liegt göttliche Kraft. Und ich denke auch wir Männer sollten darauf achten, die mütterlichen Seiten in uns zu entdecken und zu leben. Auch wir können trösten und herzen und liebkosen. Und mit etwas Übung sind wir auch für die ganz praktischen Dinge in Haus und Familie nicht zu ungeschickt.
Aber wenn wir so die mütterlichen Seiten Gottes betonen, uns das Heil in mütterlichen Bildern vor Augen führen und ins Herz legen lassen, dann kann das auch die Mutterrolle glorifizieren. Mütter kennen aber die Schattenseiten sehr gut, angefangen bei der Geburt. Deshalb noch ein zweiter Bibeltext, diesmal aus dem Röm 8,26-30:
26 Desgleichen hilft auch der Geist unsrer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen.
27 Der aber die Herzen erforscht, der weiß, worauf der Sinn des Geistes gerichtet ist; denn er vertritt die Heiligen, wie es Gott gefällt.
28 Wir wissen aber, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach seinem [a ] Ratschluß berufen sind.
29 Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, daß sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes, damit dieser der [a ] Erstgeborene sei unter vielen Brüdern.
30 Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.
Einige Verse vor unserem Textabschnitt schreibt Paulus: Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und in Wehen liegt. Auch hier wieder das Bild der Gebärenden, aber dieses Mal geht es um das Seufzen und Stöhnen, um die Schmerzen der Geburt, um die Lasten und Schmerzen, die zu unserem Leben gehören.
Vom Seufzen und Stöhnen wissen Mütter wohl so manches zu erzählen, wie gesagt, angefangen bei den Schmerzen der Geburt. Am Anfang sind es vielleicht unruhige Nächte, die Unsicherheit, was das Kind braucht. Später dann die Hilflosigkeit, wenn die Kinder trotzen oder wenn sie auf den blanken Nerven herumtanzen. Krankheiten sind vielleicht mit zu durchleiden. Oder all die Schulsorgen, der Kummer und die Nöte des Erwachsenwerdens, die Gefahren, die man überall sieht und vor denen man die Kinder nicht wirklich bewahren kann, der erste Liebeskummer, die Schwierigkeiten, den eigenen Weg zu finden. Ja und - die Älteren wissen das sehr gut – auch wenn die Kinder erwachsen sind, hört das ja nicht auf. Kann man einen Kontakt halten, der beide Seiten bereichert. Und wenn die Ehe der Kinder kriselt und man nicht hineinreden kann und darf und trotzdem mitleidet. Oder sich Sorgen um die Enkel macht. Oder einfach mehr Dankbarkeit oder Zuwendung erhofft und erwartet. Oder selber alt geworden ist und sich einsam fühlt?
Es ist gut, dass die Bibel das Seufzen und Stöhnen nicht unterschlägt, dass die Sorgen und Nöte von uns Menschen und ganz besonders von Müttern darin Platz finden. Vor allem aber, dass der Predigttext aus dem Römerbrief uns eine Kraft verheisst, die unser Seufzen und Stöhnen aufnimmt und vor Gott bringt. Auch wenn wir nicht wissen, was wir beten sollen, wenn wir nicht mehr die richtigen Worte finden, zu müde, zu ratlos sind: der Geist vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen. Dass unser Seufzen an Gottes Ohr dringt, dass wir gar nicht die richtigen Worte finden müssen, sondern manchmal eben unser Seufzen und Stöhnen Gebet genug ist, das kannn trösten und entlasten. Es kommt nicht allein auf uns und unsere Kraft an. Wir dürfen loslassen, dürfen das was unsere Kräfte übersteigt, in die Hände eines anderen legen, der immer schon über uns wacht wie eine Mutter über ihre Kinder. Wir begreifen wohl manchmal nicht, was mit uns geschieht, warum die Dinge so sind, wie sie sind und was daran gut sein soll. Aber "wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten dienen." Mit diesem Vertrauen sollen und dürfen wir leben, die Mütter zuerst, aber auch alle anderen Menschen. Es hängt nicht alles von uns ab. Wir Menschen stossen an Grenzen, wissen nicht mehr weiter, werden aneinander schuldig. Gott aber ist treu und er vergibt, er gibt neue Kraft, schenkt neue Anfänge, bleibt bei uns bis ans Ende unserer Tage und darüber hinaus. Amen.
Samstag, 24. April 2010
Predigt vom 25. April 2010 über 1. Joh 5,1-4
Liebe Gemeinde,
jeder Mensch sehnt sich nach Liebe, nach einer Liebe, die nicht an Bedingungen geknüpft ist, nach einer Liebe, die nicht immer aufs Neue gefährdet ist und nur auf Widerruf gilt. Diese Sehnsucht nach Liebe gehört zu unserem Menschsein. Sie ist eines der grossen Themen der Literatur. Sie ist das Thema unzähliger Lieder - von der Klassik bis zu Schlager und Volkslied. Und zugleich wird diese Sehnsucht in unseren menschlichen Beziehungen immer wieder enttäuscht. Die Liebe, die wir einander geben können, ist verletztlich und zerbrechlich. Bei manchem führen erlebte Enttäuschungen dazu, dass er oder sie den Glauben an die Liebe verliert. Wie aber sollte jemand Liebe geben und Liebe erfahren können, der den Glauben an die Liebe verloren hat? Denn die Sehnsucht nach Liebe verschwindet damit nicht, wir können sie nur unterdrücken oder ignorieren - um den Preis, dass unser Leben ärmer und kälter wird.
Wir spüren also die Sehnsucht nach Liebe, die zu uns gehört und uns menschlich macht und zugleich erfahren wir, dass wir solche Liebe einander nicht geben können. Ja, mehr noch, wir müssen erkennen, dass je mehr wir von einander die Erfüllung unserer Sehnsucht nach Liebe erwarten, wir einander überfordern und die Liebe, die wir suchen, oft gerade gefährden. Denn dann machen wir den anderen für unsere Enttäuschungen verantwortlich, sehen sie als Zeichen, dass der andere uns zuwenig liebt oder aber, dass wir eben nicht liebenswert sind. Doch kaum etwas kann die Liebe stärker gefährden als Vorwürfe und Forderungen nach Liebesbeweisen. Liebe lässt sich nicht einfordern oder erzwingen.
Muss sich dann aber unsere Sehnsucht nach Liebe nicht auf etwas richten, das unsere menschlichen Beziehungen übersteigt? Gibt es einen solchen Ort, ein solches Wesen, eine solche Kraft, wo diese Sehnsucht nach Liebe gestillt wird, wo ich mich wirklich bedingungslos geliebt wissen darf? Die Botschaft der Bibel erwartet diese bedingugnslose Liebe von Gott. Sie sieht sie im Neuen Testament erfüllt in der Liebe und Hingabe Jesu. „Gott ist Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ heisst es im 1. Joh kurz vor unserem Predigttext.
Das ist die Basis für die für manche vielleicht etwas triumphalistisch klingende Behauptung, dass unser Glaube uns die Welt besiegen lässt. Denn dieser Glaube ist nichts anderes als das Vertrauen auf eine bedingungslose Liebe, die uns von allem Anfang an und bis in alle Ewigkeit gilt, auf ein Ja, das all unserem Tun vorausgeht. Die Welt besiegen hat dann weder etwas mit frommer Weltflucht noch mit christlichen Machtansprüchen zu tun, sondern allein damit, dass wir unser Lebensschiff festmachen dürfen in einer Liebe, die uns bedingungslos gilt und die wir mit unseren menschlichen Grenzen weitergeben dürfen. Wenn unser Leben so verankert ist, wird die Liebe derer, die uns wichtig sind nicht weniger kostbar, aber sie ist entlastet davon, meine Existenz, mein Selbstwertgefühl, meinen Lebenssinn allererst begründen zu müssen. Liebe kann dann freier werden von Erwartungen und Ansprüchen. Enttäuschungen stellen dann nicht mehr alles in Frage. Und wer vom anderen nicht alles erwartet, wird freier, dem anderen offen zu begegnen. Glauben heisst: Vertrauen auf Gottes bedingungslose Liebe und loslassen: Erwartungen, Forderungen, Ansprüche. Wer loslassen kann, hat die Welt besiegt und kann sich als freier Mensch auf diese Welt einlassen, auf eine Liebe die menschenmöglich ist, auf Scheitern und Neubeginn, auf dankbar erlebtes Glück und auf den Schmerz unausweichlicher Verletzungen. Wer dieser bedingungslosen Liebe vertraut, kann Liebe geben und Liebe empfangen. Und darin tun wir Gottes Willen.
Wie solche Liebe sich auf unser Leben auswirkt, das können wir nur ausprobieren und das kann jeder und jede für sein eigenes Leben nur selber entdecken. Ich möchte sie deshalb nur mit einigen Fragen einladen, sich auf diesen Entdeckungsweg zu begeben und ihnen jeweils auch die Zeit lassen, ihre eigenen Antworten im Stillen zu geben. Lassen sie sich dabei Zeit und vertrauen sie sich ihren Gedanken und Eingebungen an.
1. Angenommen, sie würden tatsächlich bedingungslos geliebt - was würde sich dadurch in ihrem Leben verändern?
Wen oder was könnten sie dann vielleicht ineinem neuen Licht sehen? Sich selbst oder einen anderen Menschen oder bestimmte Erfahrungen, gegenwärtige oder längst vergangene?
2. Wenn Gottes bedingungslose Liebe sie tatsächlich frei machen würde, Erwartungen und Ansprüche loszulassen - welche Erwartungen und Ansprüche würden sie dann zuerst loslassen? Und wer würde das als erstes merken und woran? Woran würden sie selber erkennen, dass sie loslassen können? Wo und wann ist ihnen das vielleicht schon gelungen?
3. Worin könnte sich in ihrem gegenwärtigen Leben die Liebe zu Gott zeigen? Welchem Menschen möchten sie sich neu zuwenden? Welche Schritte tun sie dabei konkret?
Unser Glaube ist das Vertrauen auf die bedingungslose Liebe Gottes. Er besiegt die Welt, wenn er uns frei macht loszulassen und einander offen und mit Liebe zu begegnen. Solchen Glauben schenke uns Gott, der die Liebe ist. Amen.
jeder Mensch sehnt sich nach Liebe, nach einer Liebe, die nicht an Bedingungen geknüpft ist, nach einer Liebe, die nicht immer aufs Neue gefährdet ist und nur auf Widerruf gilt. Diese Sehnsucht nach Liebe gehört zu unserem Menschsein. Sie ist eines der grossen Themen der Literatur. Sie ist das Thema unzähliger Lieder - von der Klassik bis zu Schlager und Volkslied. Und zugleich wird diese Sehnsucht in unseren menschlichen Beziehungen immer wieder enttäuscht. Die Liebe, die wir einander geben können, ist verletztlich und zerbrechlich. Bei manchem führen erlebte Enttäuschungen dazu, dass er oder sie den Glauben an die Liebe verliert. Wie aber sollte jemand Liebe geben und Liebe erfahren können, der den Glauben an die Liebe verloren hat? Denn die Sehnsucht nach Liebe verschwindet damit nicht, wir können sie nur unterdrücken oder ignorieren - um den Preis, dass unser Leben ärmer und kälter wird.
Wir spüren also die Sehnsucht nach Liebe, die zu uns gehört und uns menschlich macht und zugleich erfahren wir, dass wir solche Liebe einander nicht geben können. Ja, mehr noch, wir müssen erkennen, dass je mehr wir von einander die Erfüllung unserer Sehnsucht nach Liebe erwarten, wir einander überfordern und die Liebe, die wir suchen, oft gerade gefährden. Denn dann machen wir den anderen für unsere Enttäuschungen verantwortlich, sehen sie als Zeichen, dass der andere uns zuwenig liebt oder aber, dass wir eben nicht liebenswert sind. Doch kaum etwas kann die Liebe stärker gefährden als Vorwürfe und Forderungen nach Liebesbeweisen. Liebe lässt sich nicht einfordern oder erzwingen.
Muss sich dann aber unsere Sehnsucht nach Liebe nicht auf etwas richten, das unsere menschlichen Beziehungen übersteigt? Gibt es einen solchen Ort, ein solches Wesen, eine solche Kraft, wo diese Sehnsucht nach Liebe gestillt wird, wo ich mich wirklich bedingungslos geliebt wissen darf? Die Botschaft der Bibel erwartet diese bedingugnslose Liebe von Gott. Sie sieht sie im Neuen Testament erfüllt in der Liebe und Hingabe Jesu. „Gott ist Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ heisst es im 1. Joh kurz vor unserem Predigttext.
Das ist die Basis für die für manche vielleicht etwas triumphalistisch klingende Behauptung, dass unser Glaube uns die Welt besiegen lässt. Denn dieser Glaube ist nichts anderes als das Vertrauen auf eine bedingungslose Liebe, die uns von allem Anfang an und bis in alle Ewigkeit gilt, auf ein Ja, das all unserem Tun vorausgeht. Die Welt besiegen hat dann weder etwas mit frommer Weltflucht noch mit christlichen Machtansprüchen zu tun, sondern allein damit, dass wir unser Lebensschiff festmachen dürfen in einer Liebe, die uns bedingungslos gilt und die wir mit unseren menschlichen Grenzen weitergeben dürfen. Wenn unser Leben so verankert ist, wird die Liebe derer, die uns wichtig sind nicht weniger kostbar, aber sie ist entlastet davon, meine Existenz, mein Selbstwertgefühl, meinen Lebenssinn allererst begründen zu müssen. Liebe kann dann freier werden von Erwartungen und Ansprüchen. Enttäuschungen stellen dann nicht mehr alles in Frage. Und wer vom anderen nicht alles erwartet, wird freier, dem anderen offen zu begegnen. Glauben heisst: Vertrauen auf Gottes bedingungslose Liebe und loslassen: Erwartungen, Forderungen, Ansprüche. Wer loslassen kann, hat die Welt besiegt und kann sich als freier Mensch auf diese Welt einlassen, auf eine Liebe die menschenmöglich ist, auf Scheitern und Neubeginn, auf dankbar erlebtes Glück und auf den Schmerz unausweichlicher Verletzungen. Wer dieser bedingungslosen Liebe vertraut, kann Liebe geben und Liebe empfangen. Und darin tun wir Gottes Willen.
Wie solche Liebe sich auf unser Leben auswirkt, das können wir nur ausprobieren und das kann jeder und jede für sein eigenes Leben nur selber entdecken. Ich möchte sie deshalb nur mit einigen Fragen einladen, sich auf diesen Entdeckungsweg zu begeben und ihnen jeweils auch die Zeit lassen, ihre eigenen Antworten im Stillen zu geben. Lassen sie sich dabei Zeit und vertrauen sie sich ihren Gedanken und Eingebungen an.
1. Angenommen, sie würden tatsächlich bedingungslos geliebt - was würde sich dadurch in ihrem Leben verändern?
Wen oder was könnten sie dann vielleicht ineinem neuen Licht sehen? Sich selbst oder einen anderen Menschen oder bestimmte Erfahrungen, gegenwärtige oder längst vergangene?
2. Wenn Gottes bedingungslose Liebe sie tatsächlich frei machen würde, Erwartungen und Ansprüche loszulassen - welche Erwartungen und Ansprüche würden sie dann zuerst loslassen? Und wer würde das als erstes merken und woran? Woran würden sie selber erkennen, dass sie loslassen können? Wo und wann ist ihnen das vielleicht schon gelungen?
3. Worin könnte sich in ihrem gegenwärtigen Leben die Liebe zu Gott zeigen? Welchem Menschen möchten sie sich neu zuwenden? Welche Schritte tun sie dabei konkret?
Unser Glaube ist das Vertrauen auf die bedingungslose Liebe Gottes. Er besiegt die Welt, wenn er uns frei macht loszulassen und einander offen und mit Liebe zu begegnen. Solchen Glauben schenke uns Gott, der die Liebe ist. Amen.
Donnerstag, 1. April 2010
Predigt zu 2. Kor 5,18-21 vom Karfreitag, 2. April 2010
Liebe Mitchristen!
Wenn ich an die Karfreitage meiner Kindheit und Jugend zurückdenke, dann beschleichen mich durchaus zwiespältige Gefühle. Der Karfreitag - ein Tag der verordneten Trauer und der Busse und Reue. Im ganzen Dorf wurde dunkle Kleidung getragen. Alles Leben war wie erstorben. Für viele Menschen im Dorf war der Karfreitag offenbar der wichtigste Feiertag im Kirchenjahr. Viele gingen nur am Karfreitag und vielleicht noch am Buss- und Bettag zum Abendmahl. Und dieses Begehen des Karfreitags war beladen mit dem ganzen Gewicht menschlicher Sünde und Schlechtigkeit. Dieses "Sich-schuldig-fühlen-müssen" wurde unterstützt durch die Passionslieder, die sie ja auch alle kennen und die wir zum Teil auch heute in diesem Gottesdienst singen. Sieh an, Mensch, was du angerichtet hast. Wegen deiner Sünde und Bosheit musste Jesus so schrecklich leiden. "Nun, was du Herr erduldet, ist alles meine Last; ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast. Schau her, hier steh ich Armer, der Zorn verdienet hat. Gib mir, o mein Erbarmer, den Anblick deiner Gnad." Wie sollten wir als Kinder diese Logik verstehen? Wofür sollten wir uns so schuldig fühlen? Förderte sie nicht nur ein undefinierbares, unkonkretes schlechtes, verängstigtes Gewissen? Und dann schlich sich manchmal noch dieses fatale Missverständnis ein, Gott selbst habe aus Zorn über die menschliche Sünde das blutige Opfer seines Sohnes gefordert, damit die Missetat gesühnt und sein Zorn besänftigt würde. Wäre das wahr, wie sollten wir dann einem solchen Gott vertrauen? Was hatte dieser schreckliche Gott noch mit dem liebenden Vater Jesu zu tun?
Und doch war da immer auch die andere Seite. Ein tiefverwurzeltes Vertrauen, dass das was da am Kreuz von Golgatha geschehen ist, irgendwie auch für mich, mir zugut geschehen ist. Nicht damit ich mich nun schuldig und zerknirscht fühle, sondern damit ich leben kann.
Etwas von dieser Zwiespältigkeit des Karfreitags ist mir bis heute geblieben. Und sie beschäftigt mich auch beim Nachdenken über den heutigen Predigttext.
Ich lese 2.Kor 5,18-21
Versöhnung - das ist das zentrale Stichwort unseres Predigttextes. Nicht weniger als fünf Mal kommt es in den wenigen Versen dieses Textes vor. Wer wird hier versöhnt? Es ist die Welt, es sind die Menschen. Nicht der Zorn Gottes muss durch ein blutiges Opfer besänftigt werden, sondern unser tödlicher Kreislauf von Hass und Gewalt, von Ausgrenzung und Verdrängung muss durchbrochen werden. Jesus hat seine Botschaft von Gottes Liebe und Menschenfreundlichkeit durchgehalten, er hat an ihr festgehalten und ist damit unter die Räder gekommen. Sie hat ihn das Leben gekostet. Und gerade in diesem Tod des einen, der ohne Schuld war, zeigt sich die ganze Absurdität und Sinnlosigkeit des ewigen Zirkels von Hass, Gewalt und Ausgrenzung, eines Lebens, dass immer wieder Opfer fordert. Der Hauptmann der unter dem Kreuz stand, hat das erkannt und darum festgestellt. Jesus war Gottes Sohn.
Und nun ist er tot. Folgte auf den Karfreitag nicht der Ostermorgen, so wäre dies das tragische Ende eines vorbildlichen Lebens. Die Sinnlosigkeit des Kreislaufs von Hass und Gewalt wäre zwar offenbar geworden, aber doch auch in ihrer Macht bestätigt. In Jesu Worten am Kreuz: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen" leuchtet diese schreckliche Möglichkeit auf. Aber Gott hat Jesus nicht dem Tod überlassen. Der tödliche Kreislauf ist nicht nur offenbar geworden, er ist auch durchbrochen. Das Leben ist stärker als der Tod.
Hass und Gewalt, Leid und Tod sind nicht beendet, aber sie sind durchbrochen. Paulus schreibt: "Gott versöhnte in Christus die Welt mit sich selbst, indem er ihnen ihre Übertretungen nicht anrechnete und in uns das Wort der Versöhnung legte." Und: "Er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit Gottes würden." Wenn Gott unsere Übertretungen nicht anrechnet, dann entsteht Raum zur Versöhnung - zur Versöhnung zwischen mir und Gott, zwischen mir und mir und zwischen mir und den Mitmenschen.
Schuld und Versagen trennen uns nicht mehr von Gott. Es geht nicht um ein allgemeines schlechtes Gewissen, darum dass wir uns alle als arme kleine Sünder fühlen müssten. Nein, es geht um konkrete Schuld, um je meine Schuld. Es gibt Situationen im Leben, da tun sich vor einem Menschen vielleicht Abgründe auf. Das Wort der Versöhnung, dass Gott uns unsere Übertretungen nicht anrechnet, kann einem Menschen die Kraft geben, in diese Abgründe zu blicken, sie nicht länger zu verdrängen, aber sich auch nicht so von ihnen gefangennehmen zu lassen, dass jede Hoffnung und Zukunftsperspektive verloren geht. Wer darauf vertrauen kann, dass Gott sich mit ihm oder ihr versöhnt hat, der braucht die Augen vor seinen eigenen Schattenseiten nicht mehr zu verschliessen und das setzt neue Energien und Kräfte frei und befreit uns von dem Zwang, unsere eigenen Schattenseiten auf andere zu projezieren. Diese Erfahrung hat Paulus am eigenen Leibe gemacht. Er, der die Christengemeinde verfolgte, musste plötzlich erkennen, dass dieser Weg ein schrecklicher Irrweg gewesen war. Mit einem Mal stand er vor den Trümmern seines Lebens. Das Wort der Versöhnung gab ihm die Kraft, in diesen Abgrund seines Lebens zu blicken und nicht zu verzweifeln, sondern auf Zukunft hin zu leben und sich in den Dienst der Versöhnung zu stellen. Er hat erkannt, dass er das Recht hat, ein anderer zu werden, trotz seiner bisherigen Lebensgeschichte. Wer Versöhnung als Befreiung von Schuld erlebt, der kann mit sich selber ins Reine kommen und auch anderen offener und versöhnlicher begegnen.
Aber auf Versöhnung mit Gott und mit uns selbst sind wir auch angewiesen, wenn unser Leben von Leid und Schmerz verdunkelt wird. Nicht nur Schuld kann uns von Gott und vom Leben abschneiden. Auch schwere Schicksalsschläge, Depressionen, Niedergeschlagenheit können uns unsere Lebenskraft rauben. Wie ist Versöhnung mit dem eigenen Lebensschicksal möglich, wenn jemand in seinem Schicksal einfach keinen Sinn mehr sehen kann? Und wenn auch der Trost, dass doch alles irgendwie einen Sinn haben muss, nichts mehr nützt, weil man diesen Sinn nicht einsehen kann? Gibt es nicht auch einfach sinnloses Leiden? Im Dunkel des eigenen Lebens kann es eine Hilfe sein, das Leiden und Sterben Jesu zu bedenken, an seinen Klageschrei am Kreuz zu denken: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen." Und daran zu denken, dass Gott diesen Jesus am Ostermorgen aus dieser Gottverlassenheit, aus dem Tode herausgerissen hat. Vielleicht wird es einem Leidgeplagten so möglich, sein eigenes hartes Lebensschicksal anzunehmen und nicht zu verzweifeln.
Wenn wir aus der Kraft der Versöhnung leben, uns mit unseren eigenen Schattenseiten akzeptieren und unser eigenes Lebensschicksal annehmen können, dann können wir auch unseren Mitmenschen versöhnlicher begegnen. Wir brauchen sie nicht mehr auf ihre Fehler und Schattenseiten festlegen und können ihnen Raum gewähren, sich zu verändern. Versöhnung kann beginnen, wo ich nicht mehr zuerst von dem anderen fordere, dass er sich ändern sollte, sondern ihn oder sie spüren lasse: ich möchte den Weg gemeinsam mit dir gehen und ich möchte meinen Teil dazu beitragen, dass wir den Weg gemeinsam gehen können.
Wenn Christen aus der Kraft der Versöhnung leben, dann können sie auch dazu beitragen, dass gesellschaftliche und politische Konflikte friedlich und ohne Gewalt ausgetragen werden. Gott will keine Opfer. Gott will Versöhnung und Gerechtigkeit. Und Paulus bittet uns an Christi Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott, tretet ein in den Dienst der Versöhnung und werdet selbst zu einer Kraft der Versöhnung an den Orten und in den Beziehungen, in denen ihr lebt.
Trauer und Schmerz gehören zum Karfreitag, Trauer und Schmerz über das Leiden Jesu, Trauer und Schmerz über all den Hass und die Gewalt, über all die Unversöhntheit und Unversöhnlichkeit in unserer Welt. Aber zum Karfreitag gehört auch der Ausblick auf Ostern, die Zuversicht, dass das Leben stärker ist als der Tod. Das Wort der Versöhnung ist unter uns aufgerichtet. Es kann Raum gewinnen, wenn wir den Dienst der Versöhnung übernehmen als Menschen, die darum wissen, dass Gott zu ihnen steht mit allen ihren Fehlern und Schwächen und sich mit ihnen versöhnt hat.
Wenn wir am Karfreitag das Leiden und Sterben Jesu bedenken, dann brauchen wir nicht geknickt und zerbrochen dazustehen. Wir dürfen erkennen, dass das was da geschehen ist, uns zugute geschehen ist. Und wir dürfen bitten mit den Worten des Passionsliedes "O Haupt voll Blut und Wunden": "Erkenne mich mein Hüter; mein Hirte nimm mich an. Von dir Quell aller Güter ist mir viel Guts getan: dein Mund hat mich gelabet, dein Wort hat mich gespeist, und reich hat mich begabet mit Himmelslust dein Geist." Amen.
Wenn ich an die Karfreitage meiner Kindheit und Jugend zurückdenke, dann beschleichen mich durchaus zwiespältige Gefühle. Der Karfreitag - ein Tag der verordneten Trauer und der Busse und Reue. Im ganzen Dorf wurde dunkle Kleidung getragen. Alles Leben war wie erstorben. Für viele Menschen im Dorf war der Karfreitag offenbar der wichtigste Feiertag im Kirchenjahr. Viele gingen nur am Karfreitag und vielleicht noch am Buss- und Bettag zum Abendmahl. Und dieses Begehen des Karfreitags war beladen mit dem ganzen Gewicht menschlicher Sünde und Schlechtigkeit. Dieses "Sich-schuldig-fühlen-müssen" wurde unterstützt durch die Passionslieder, die sie ja auch alle kennen und die wir zum Teil auch heute in diesem Gottesdienst singen. Sieh an, Mensch, was du angerichtet hast. Wegen deiner Sünde und Bosheit musste Jesus so schrecklich leiden. "Nun, was du Herr erduldet, ist alles meine Last; ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast. Schau her, hier steh ich Armer, der Zorn verdienet hat. Gib mir, o mein Erbarmer, den Anblick deiner Gnad." Wie sollten wir als Kinder diese Logik verstehen? Wofür sollten wir uns so schuldig fühlen? Förderte sie nicht nur ein undefinierbares, unkonkretes schlechtes, verängstigtes Gewissen? Und dann schlich sich manchmal noch dieses fatale Missverständnis ein, Gott selbst habe aus Zorn über die menschliche Sünde das blutige Opfer seines Sohnes gefordert, damit die Missetat gesühnt und sein Zorn besänftigt würde. Wäre das wahr, wie sollten wir dann einem solchen Gott vertrauen? Was hatte dieser schreckliche Gott noch mit dem liebenden Vater Jesu zu tun?
Und doch war da immer auch die andere Seite. Ein tiefverwurzeltes Vertrauen, dass das was da am Kreuz von Golgatha geschehen ist, irgendwie auch für mich, mir zugut geschehen ist. Nicht damit ich mich nun schuldig und zerknirscht fühle, sondern damit ich leben kann.
Etwas von dieser Zwiespältigkeit des Karfreitags ist mir bis heute geblieben. Und sie beschäftigt mich auch beim Nachdenken über den heutigen Predigttext.
Ich lese 2.Kor 5,18-21
Versöhnung - das ist das zentrale Stichwort unseres Predigttextes. Nicht weniger als fünf Mal kommt es in den wenigen Versen dieses Textes vor. Wer wird hier versöhnt? Es ist die Welt, es sind die Menschen. Nicht der Zorn Gottes muss durch ein blutiges Opfer besänftigt werden, sondern unser tödlicher Kreislauf von Hass und Gewalt, von Ausgrenzung und Verdrängung muss durchbrochen werden. Jesus hat seine Botschaft von Gottes Liebe und Menschenfreundlichkeit durchgehalten, er hat an ihr festgehalten und ist damit unter die Räder gekommen. Sie hat ihn das Leben gekostet. Und gerade in diesem Tod des einen, der ohne Schuld war, zeigt sich die ganze Absurdität und Sinnlosigkeit des ewigen Zirkels von Hass, Gewalt und Ausgrenzung, eines Lebens, dass immer wieder Opfer fordert. Der Hauptmann der unter dem Kreuz stand, hat das erkannt und darum festgestellt. Jesus war Gottes Sohn.
Und nun ist er tot. Folgte auf den Karfreitag nicht der Ostermorgen, so wäre dies das tragische Ende eines vorbildlichen Lebens. Die Sinnlosigkeit des Kreislaufs von Hass und Gewalt wäre zwar offenbar geworden, aber doch auch in ihrer Macht bestätigt. In Jesu Worten am Kreuz: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen" leuchtet diese schreckliche Möglichkeit auf. Aber Gott hat Jesus nicht dem Tod überlassen. Der tödliche Kreislauf ist nicht nur offenbar geworden, er ist auch durchbrochen. Das Leben ist stärker als der Tod.
Hass und Gewalt, Leid und Tod sind nicht beendet, aber sie sind durchbrochen. Paulus schreibt: "Gott versöhnte in Christus die Welt mit sich selbst, indem er ihnen ihre Übertretungen nicht anrechnete und in uns das Wort der Versöhnung legte." Und: "Er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit Gottes würden." Wenn Gott unsere Übertretungen nicht anrechnet, dann entsteht Raum zur Versöhnung - zur Versöhnung zwischen mir und Gott, zwischen mir und mir und zwischen mir und den Mitmenschen.
Schuld und Versagen trennen uns nicht mehr von Gott. Es geht nicht um ein allgemeines schlechtes Gewissen, darum dass wir uns alle als arme kleine Sünder fühlen müssten. Nein, es geht um konkrete Schuld, um je meine Schuld. Es gibt Situationen im Leben, da tun sich vor einem Menschen vielleicht Abgründe auf. Das Wort der Versöhnung, dass Gott uns unsere Übertretungen nicht anrechnet, kann einem Menschen die Kraft geben, in diese Abgründe zu blicken, sie nicht länger zu verdrängen, aber sich auch nicht so von ihnen gefangennehmen zu lassen, dass jede Hoffnung und Zukunftsperspektive verloren geht. Wer darauf vertrauen kann, dass Gott sich mit ihm oder ihr versöhnt hat, der braucht die Augen vor seinen eigenen Schattenseiten nicht mehr zu verschliessen und das setzt neue Energien und Kräfte frei und befreit uns von dem Zwang, unsere eigenen Schattenseiten auf andere zu projezieren. Diese Erfahrung hat Paulus am eigenen Leibe gemacht. Er, der die Christengemeinde verfolgte, musste plötzlich erkennen, dass dieser Weg ein schrecklicher Irrweg gewesen war. Mit einem Mal stand er vor den Trümmern seines Lebens. Das Wort der Versöhnung gab ihm die Kraft, in diesen Abgrund seines Lebens zu blicken und nicht zu verzweifeln, sondern auf Zukunft hin zu leben und sich in den Dienst der Versöhnung zu stellen. Er hat erkannt, dass er das Recht hat, ein anderer zu werden, trotz seiner bisherigen Lebensgeschichte. Wer Versöhnung als Befreiung von Schuld erlebt, der kann mit sich selber ins Reine kommen und auch anderen offener und versöhnlicher begegnen.
Aber auf Versöhnung mit Gott und mit uns selbst sind wir auch angewiesen, wenn unser Leben von Leid und Schmerz verdunkelt wird. Nicht nur Schuld kann uns von Gott und vom Leben abschneiden. Auch schwere Schicksalsschläge, Depressionen, Niedergeschlagenheit können uns unsere Lebenskraft rauben. Wie ist Versöhnung mit dem eigenen Lebensschicksal möglich, wenn jemand in seinem Schicksal einfach keinen Sinn mehr sehen kann? Und wenn auch der Trost, dass doch alles irgendwie einen Sinn haben muss, nichts mehr nützt, weil man diesen Sinn nicht einsehen kann? Gibt es nicht auch einfach sinnloses Leiden? Im Dunkel des eigenen Lebens kann es eine Hilfe sein, das Leiden und Sterben Jesu zu bedenken, an seinen Klageschrei am Kreuz zu denken: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen." Und daran zu denken, dass Gott diesen Jesus am Ostermorgen aus dieser Gottverlassenheit, aus dem Tode herausgerissen hat. Vielleicht wird es einem Leidgeplagten so möglich, sein eigenes hartes Lebensschicksal anzunehmen und nicht zu verzweifeln.
Wenn wir aus der Kraft der Versöhnung leben, uns mit unseren eigenen Schattenseiten akzeptieren und unser eigenes Lebensschicksal annehmen können, dann können wir auch unseren Mitmenschen versöhnlicher begegnen. Wir brauchen sie nicht mehr auf ihre Fehler und Schattenseiten festlegen und können ihnen Raum gewähren, sich zu verändern. Versöhnung kann beginnen, wo ich nicht mehr zuerst von dem anderen fordere, dass er sich ändern sollte, sondern ihn oder sie spüren lasse: ich möchte den Weg gemeinsam mit dir gehen und ich möchte meinen Teil dazu beitragen, dass wir den Weg gemeinsam gehen können.
Wenn Christen aus der Kraft der Versöhnung leben, dann können sie auch dazu beitragen, dass gesellschaftliche und politische Konflikte friedlich und ohne Gewalt ausgetragen werden. Gott will keine Opfer. Gott will Versöhnung und Gerechtigkeit. Und Paulus bittet uns an Christi Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott, tretet ein in den Dienst der Versöhnung und werdet selbst zu einer Kraft der Versöhnung an den Orten und in den Beziehungen, in denen ihr lebt.
Trauer und Schmerz gehören zum Karfreitag, Trauer und Schmerz über das Leiden Jesu, Trauer und Schmerz über all den Hass und die Gewalt, über all die Unversöhntheit und Unversöhnlichkeit in unserer Welt. Aber zum Karfreitag gehört auch der Ausblick auf Ostern, die Zuversicht, dass das Leben stärker ist als der Tod. Das Wort der Versöhnung ist unter uns aufgerichtet. Es kann Raum gewinnen, wenn wir den Dienst der Versöhnung übernehmen als Menschen, die darum wissen, dass Gott zu ihnen steht mit allen ihren Fehlern und Schwächen und sich mit ihnen versöhnt hat.
Wenn wir am Karfreitag das Leiden und Sterben Jesu bedenken, dann brauchen wir nicht geknickt und zerbrochen dazustehen. Wir dürfen erkennen, dass das was da geschehen ist, uns zugute geschehen ist. Und wir dürfen bitten mit den Worten des Passionsliedes "O Haupt voll Blut und Wunden": "Erkenne mich mein Hüter; mein Hirte nimm mich an. Von dir Quell aller Güter ist mir viel Guts getan: dein Mund hat mich gelabet, dein Wort hat mich gespeist, und reich hat mich begabet mit Himmelslust dein Geist." Amen.
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