Samstag, 16. Juli 2011

Predigt zu 1. Mose 50,15-21 am 17. Juli 2011

Liebe Gemeinde,

kaum ist der Patriarch unter der Erde, da liegen die Nerven bei den Brüdern Josefs schon blank. Verzeihen sie mir diese etwas derbe Ausdrucksweise, aber ich denke, sie passt ganz gut zu dem, was unser heutiger Predigttext erzählt. Und es ist eine Erfahrung, die mancher wohl schon gemacht hat, wenn uralte und nicht wirklich bereinigte Konflikte in einer Familie schwelen. Vielleicht wurden sie um der Eltern willen mühsam im Zaum gehalten, aber gelöst wurden die Konflikte dadurch nicht. Und wenn eines Tages die Eltern nicht mehr da sind, dann kann es passieren, dass die ungelösten Konflikte und Verletzungen mit aller Macht wieder aufbrechen.

Genau das ist die Situation unseres Predigttextes - oder besser gesagt, die Situation, die Josefs Brüder befürchten. Sie haben allen Grund dazu. Denn viel übler als sie es getan haben, kann man einem Bruder nicht mitspielen. Damals, vor vielen Jahren, als sie vor Neid und Missgunst zerfressen waren, weil Josef von ihrem Vater so spürbar bevorzugt wurde und ihnen so eingebildet erschien, da hatten sie ihn kurzerhand an eine Sklavenkarawane nach Ägypten verkauft. Dem Vater hatten sie erklärt, er sei tot, von einem wilden Tier gefressen.

Sie alle kennen die Geschichte - wie Josef sich den Nachstellungen der Frau Potifars entzieht und im Gefängnis landet, dort den Mitgefangenen ihre Träume deutet und so später den Zugang zum Pharao findet. Weil er auch dessen Träume deuten kann und dadurch Ägypten vor einer Hungersnot bewahrt, wird er zu einem der einflussreichsten und höchsten Beamten des Reiches. Sie wissen, wie seine Brüder vom Hunger nach Ägypten getrieben werden und ihn nicht erkennen, wie er sie auf die Probe stellt und schliesslich zu erkennen gibt und seine Familie nach Ägypten holt. Schon in dieser früheren Szene der Josefsgeschichte kommt es zur Versöhnung und schon dort klingt an, was wir hier noch einmal hören. Die böse Tat der Brüder hat sich im Nachhinein als Segen erwiesen. Gott hat es zum Guten gewendet und so die Familie Jakobs in der Hungersnot gerettet.

Aber wie tragfähig ist diese Versöhnung? Trägt sie auch jetzt noch, wo der Vater nicht mehr lebt? Gott hat es zum Guten gewendet, aber es bleibt eine böse Tat. Und ein Narr, wer hier glaubt, es sei alles längst vergeben und vergessen. Es gibt Demütigungen und Verletzungen, die kann man nicht einfach vergeben und vergessen. Die begleiten einen ein Leben lang. Und so wird Josef nie ganz vergessen können, was seine Brüder ihm angetan haben - die Stunden in dem feuchten Brunnenloch, der demütigende Weg nach Ägypten als ein Stück verkäufliche menschliche Ware, die Nachstellungen der Frau Potifars und die Zeit als Unschuldiger im Gefängnis. Manche dieser Erfahrungen sind Josef wohl noch so nahe, als wäre es gestern gewesen. Nicht immer heilt die Zeit alle Wunden.

Die Brüder Josefs wissen das. Sie geben sich keinen Illusionen hin. Für sie steht noch einmal alles auf dem Spiel und sie wissen, dass sie in Josefs Hand sind - und nicht weniger in der Hand ihrer Schuld, die sie nicht mehr ungeschehen machen können. Immerhin - sie weichen ihrer Angst nicht aus und stellen sich dem Gespräch mit ihrem Bruder. Aber noch einmal greifen sie zu ihrer alten Methode - sie versuchen es mit Lüge und List. Zwar ist die Geschichte hier nicht ganz eindeutig, aber der vermeintliche Auftrag Jakobs an Josef, dass er seinen Brüdern vergeben soll, ist nirgends überliefert. Und hätte Jakob so etwas Wichtiges nicht selbst seinem Sohn Josef gesagt? Wir wissen auch nicht, ob Josef weint, weil er spürt, dass seine Brüder ihn schon wieder betrügen oder aus Mitgefühl, weil er ihre Angst sieht. Oder ob er weint, weil all die erlittenen Demütigungen ihm noch einmal vor Augen stehen.

Was wir aber wissen ist, dass Josef sich nicht zur Rache hinreissen lässt, sondern noch einmal verzeiht: „Fürchtet euch nicht! Bin ich denn an Gottes Statt? Ihr zwar habt Böses gegen mich geplant, Gott aber hat es zum Guten gewendet, um zu tun, was jetzt zutage liegt: ein so zahlreiches Volk am Leben zu erhalten. So fürchtet euch nicht! Ich will für euch und eure Kinder sorgen. Und er tröstete sie und redete ihnen zu Herzen.“ Er befreit seine Brüder vom Fluch der bösen Tat. Aber - und das scheint mir ebenso wichtig! - er befreit auch sich selbst vom Fluch der bösen Tat seiner Brüder. Würde er jetzt noch Rache üben, so bliebe er selbst im Bann der Vergangenheit. Er würde sich an Gottes Stelle setzen und das Gute, das Gott aus der bösen Tat hat entstehen lassen, in Frage stellen. Und zugleich wären das Gefühl der Macht und die Genugtuung, es seinen Brüdern heimzuzahlen, eine Illusion, weil er dann fremdbestimmt bliebe durch das, was ihm angetan wurde.

Das zieht sich in meinen Augen wie ein roter Faden durch die ganze Josefsgeschichte: dieser Josef ist einer, der sich niemals durch das bestimmen lässt, was ihm angetan wurde. Er lässt sich nicht auf die Opferrolle reduzieren. Er nimmt trotz allem, was man ihm angetan hat und wie übel ihm auch mitgespielt wurde, immer wieder sein Leben in die Hand und nutzt seine Möglichkeiten. Damit Gott aus dem Bösen in seinem Leben etwas Gutes machen kann, dazu braucht es auf Josefs Seite die Bereitschaft, nicht nur mit seinem Schicksal zu hadern, sondern die Möglichkeiten, die sich ihm trotz allem eröffnen, auch zu ergreifen.

Es ist nicht so sehr die moralische Botschaft, dass wir das Böse, das uns angetan wird, verzeihen sollen, um die es hier geht - auch wenn das zweifellos richtig und wichtig ist. Und es ist auch nicht allein die Hoffnungsbotschaft, dass wir darauf vertrauen dürfen, dass Gott auch aus dem Schwierigen und sogar dem Bösen in unserem Leben etwas Gutes entstehen lassen kann - die ebenso zutreffend ist. Das Entscheidende sehe ich aber in der Botschaft, dass wir uns nicht bestimmen lassen müssen von dem, was andere aus uns machen oder uns antun, weil letztlich Gott über unser Leben bestimmt. Verzeihen ist in der Josefsgeschichte nicht so sehr eine moralische Verpflichtung, sondern die grossartige Erfahrung einer befreienden Kraft. Die Frage ist nicht, ob wir verzeihen müssen, sondern ob wir verzeihen können. Das macht einen riesigen Unterschied.

Es ist so verführerisch einfach, für viele Dinge in unserem Leben erlittenes Unrecht und von anderen zugefügtes Leid verantwortlich zu machen. Und es mag dafür auch gute und durchaus berechtigte Gründe geben. Aber es bringt uns keinen Schritt weiter und kann uns blind machen für das, was an Gutem in unserem Leben heranwachsen und gedeihen will. Es verstärkt den Groll auf die, die uns etwas angetan haben und hält uns zugleich im Bann ihrer Macht. Josef steht immer wieder auf seine Füsse statt nur mit seinem Schicksal zu hadern. Das gibt ihm eine Stärke, die auf Gottvertrauen und Souveränität gründet und sich nicht gegen andere oder auf Kosten der anderen durchsetzen und beweisen muss. Weil er sein Leben nicht vom erlittenen Unrecht bestimmen lässt, kann er dieses Unrecht dann auch verzeihen. Er muss es nicht rächen, aber er muss es auch nicht verdrängen oder den Schmerz leugnen, der immer noch damit verbunden ist.

Ich denke, diese Botschaft hat ihre Bedeutung auch für Familienkonflikte in unserer Zeit. Je mehr wir sie zum Erklärungsmuster für unser Leben machen, umso mächtiger werden sie und es bleibt kein Spielraum, um wirklich zu verzeihen. Wenn wir sie verdrängen, brechen sie irgendwann wieder auf. Der einzig gangbare Weg ist, dass wir Konflikte und Verletzungen wahrnehmen und annehmen als einen Teil unseres Lebens, unserer Geschichte, der zu uns gehört und uns dennoch nicht davon bestimmen lassen. Wir können Dinge nicht wirklich verzeihen, solange sie uns noch vollständig im Griff haben. Aber es ist auch eine Frage unserer Lebenshaltung, ob wir zumindest versuchen, uns nicht von Vergangenem vollständig beherrschen zu lassen. Und wenn wir dann verzeihen können, dann ist das zuallererst für uns selber eine befreiende Erfahrung, wie ein Joch, das wir abgeworfen haben. Ein Verzeihen, dass die Verletzungen nicht verdrängt, unterbricht das zermürbende Hin und Her von Vorwürfen und Rechtfertigungen und kann die Angst vertreiben, die Menschen zugleich aneinander kettet und voneinander trennt. Von Gott dürfen wir die Kraft zum Verzeihen erbitten und das Vertrauen, dass weder unsere Schuld noch erlittenes Unrecht unser Leben bestimmt, sondern Gott, der auch aus dem Bösen Gutes hervorbringen kann.

Amen.

Samstag, 25. Juni 2011

Predigt über Lukas 15,1-10 (bzw. 32) am 26. Juni 2011

Liebe Gemeinde,
wieder einmal hat Jesus sich mit Leuten umgeben, die nicht gerade den besten Ruf genossen. Bzw. sie haben seine Nähe gesucht und er hat sie nicht weggeschickt. Sünder und Zöllner waren es und Jesus war sich nicht zu schade, sich mit ihnen abzugeben, mit ihnen zu essen. Für die rechtschaffenen Bürger, die Pharisäer und Schriftgelehrten, war das skandalös. Zu solchen Subjekten hält man besser Abstand. Aber Jesus kümmert sich wenig darum, was sich angeblich gehört. Was für ihn zählt, das sind die Menschen, die am Rande stehen, die ihn brauchen, die auf Anerkennung und Gemeinschaft angewiesen sind. Deshalb erzählt Jesus, als er von den Pharisäern und Schriftgelehrten angegriffen wird, die Gleichnisse vom Verlorenen. Drei Gleichnisse sind es – und immer geht es darum, wie wichtig in Gottes Augen der einzelne Mensch ist, geht es um die menschliche Würde, die unabhängig ist von allem Nutzen, aller Leistung, allem Rentabilitätserwägungen. Gott sucht den einen, die eine – gerade die, denen von vielen ein Recht auf Beachtung abgesprochen wird. Und am Ende steht immer ein Fest. Diese überschwängliche Freude und Dankbarkeit, die so unverhältnismässig erscheint, sie ist ein ganz wichtiger Zug dieser Gleichnisse.
Das erste Gleichnis ist vielleicht das Bekannteste. In mancher Stube hängt das Bild des guten Hirten, der sein verlorenes Schaf, nachdem er es wieder gefunden hat, auf den Schultern nach Hause trägt. Ein berührendes Bild, das uns zeigen will: so kümmert Gott sich um jedes Einzelne, so wichtig sind wir für ihn. Und zwar, darauf kommt es ganz besonders an – nicht nur die Frommen, die Braven, die Unkomplizierten, sondern gerade die, die sich verirrt haben, auf Abwegen sind.
„Welcher Mensch ist unter euch…“ Dieser Anfang des Gleichnisses unterstellt, dass es gar keine andere Möglichkeit gibt, dass es einfach logisch und offensichtlich ist, dem einen verlorenen Schaf nachzugehen und die 99 allein in der Wüste zurückzulassen. Aber ist es das wirklich? Stellen wir uns einmal ein ganz anderes Gleichnis vor: Wer von euch würde nicht, wenn er 100 Schafe hat und eines davon verliert, Sorge tragen zu den 99 und das eine opfern, denn wer weiss ob er es findet und nicht inzwischen der Wolf kommt und die 99 überfällt. Ist diese Logik nicht auch überzeugend, vielleicht auf den ersten Blick sogar überzeugender als die Logik Jesu? Auch heute bekommen wir oft solche Sätze zu hören: Wer von euch würde nicht …?
Wer von euch würde nicht 100 Mitarbeiterinnen entlassen, wenn dadurch 900 ihre Stelle behalten? Wer von euch würde nicht Ja dazu sagen, dass an embryonalen Stammzellen geforscht wird, wenn er bedenkt, dass er selbst dadurch einmal von einer schweren Krankheit geheilt werden könnte? Wer von euch würde bezweifeln, dass es sinnvoller ist, einem 65-jährigen eine teure Hüftoperation zukommen zu lassen als einem 85-jährigen. Wer von euch würde nicht die Zuwanderung begrenzen und Flüchtlinge wegweisen, wenn so viele Schweizer arbeitslos sind?
Erst wenn wir genauer hinsehen, merken wir, wie fragwürdig diese Logik häufig ist. Erst wenn wir den einzelnen Menschen mit seinen Schmerzen, mit seiner Notlage, mit seinem Schicksal sehen, erkennen wir, wie unmenschlich diese Logik sein kann. Und dann merken wir, dass Jesu Logik eine andere ist. Auf den einzelnen Menschen kommt es an, er ist wichtig. Der Hochbetagte ist es wert, dass er die teure Operation bekommt, die ihn von seinen Schmerzen befreit. Die Behinderte ist es wert, dass sie alle mögliche Unterstützung bekommt. Der Flüchtling ist es wert, dass er Zuflucht bekommt. Der, der auf die schiefe Bahn geraten ist, ist es wert, dass wir ihm die Möglichkeit geben, wieder neu anzufangen. Der mich verletzt hat, ist es wert, dass ich auf ihn zugehe und ihm die Hand reiche.
Sie könnten sicher noch viele Beispiele hinzufügen. Der Hirte im Gleichnis geht dem einzelnen verirrten Schaf nach. Und so geht Gott jedem Einzelnen von uns nach, sagt uns das Gleichnis. Und ebenso sollt auch ihr den Menschen nachgehen, euch hüten davor, andere abzuschreiben. Denn wer jemanden abschreibt, der nimmt ihm die Würde. Wer den anderen zum hoffnungslosen Fall erklärt, der nimmt ihm die Würde. Wer Menschen als Mittel zum Zweck benutzt, der nimmt ihnen die Würde. Die Würde des Menschen aber ist unantastbar.
Wirtschaft soll den Menschen dienen – dieses Plakat, das vor einigen Jahren während dem Weltwirtschaftsforum in Davos an zahlreichen Kirchtürmen hing, macht uns die Botschaft dieses Gleichnisses im Ökonomischen bewusst. Es ist klar, dass es Situationen gibt, wo Betriebe um Entlassungen nicht herumkommen. Aber wo diese nicht für die Existenz des Unternehmens, sondern zur Maximierung des Profits vorgenommen werden, da wird die Würde des Einzelnen, dessen Existenz und Selbstwertgefühl an der Arbeit hängen, krass missachtet.
Jeder einzelne Mensch ist wichtig, jeder ist wertvoll. Egal, was er getan oder versäumt hat, egal, wohin ihn sein Schicksal oder seine Entscheidungen geführt haben. Niemanden sollen wir endgültig auf seine Geschichte, seine Fehler, sein Versagen festlegen. Und wenn einer wiedergefunden wird, wenn einer sein Glück, seinen Weg findet, dann ist das ein Grund zum Feiern. Können wir uns am Glück der anderen freuen und mit ihnen feiern, auch bei denen, wo wir manchmal das Gefühl haben, dass sie nicht besonders viel taugen? Können wir jemand zutrauen, dass er einen anderen Weg gehen kann als bisher und uns dann mit ihm freuen? Oder fragen wir dann eher: Womit hat der das verdient? Das wird sicher nicht von Dauer sein!
Statt Neid, Missgunst und Ausgrenzung laden die Gleichnisse vom Verlorenen ein zum Fest aus Freude über das Wiedergefundene. Und im dritten Gleichnis, dem vom verlorenen Sohn, das ich nicht vorgelesen habe, das sie aber sicher kennen, da kann der ältere Sohn sich nicht mitfreuen. Er findet das Verhalten des Vaters ungerecht, der seinem nichtsnutzigen Bruder ein Fest ausrichtet. Verständlich ist seine Reaktion und dennoch: mit seinem Verhalten, seiner Weigerung mitzufeiern, zeigt er, dass er die Liebe seines Vaters nicht begriffen hat, dass das Gift des Neides und des Urteilens ihn unfähig macht, sich zu freuen. Denn was geht ihm verloren, wenn er mitfeiert? Nichts – nur mag er seinem Bruder das Glück und das Fest nicht gönnen. Verurteilt nicht, sagt Jesus den Pharisäern und Schriftgelehrten, sondern freut euch mit, wenn diese Sünder und Zöllner bei mir Gemeinschaft finden und einen neuen Weg entdecken. Schreibt sie nicht ab, sondern freut euch mit an ihrem Glück. Euch wird ja dadurch überhaupt nichts weggenommen.
Verurteilt nicht, sondern achtet auf die Würde jedes Einzelnen, auch und gerade derer, die an den Rändern unserer Gesellschaft stehen. Verurteilt nicht, sondern freut euch über jeden, der wieder eine Chance bekommt. Wenn wir den Menschen nachgehen – im Auftrag unseres Gottes – dann bekommen Menschen Chancen, spüren, dass sie wichtig sind, kann sich etwas verändern in ihrem Leben.
Freude über das Wieder gefundene soll bei uns sein und wir dürfen auch darauf vertrauen, dass Gott auch uns sucht, wenn wir einmal in die Irre gehen, durch dunkle Täler hindurch müssen, nicht mehr weiter wissen. Auch für uns gilt: Jedes Einzelne ist in Gottes Augen ungeheuer wertvoll. Jeder Mensch hat seine unantastbare Würde und ist kostbar. Amen.

Sonntag, 12. Juni 2011

Predigt am Pfingstsonntag 12. Juni 2011 über Apostelgeschichte 2,1-18

Liebe Pfingstgemeinde,

es ist ein Wunder. Da zieht ein Wanderprediger durch Galiläa und erzählt den Menschen vom lieben Gott. Die meisten nehmen wohl kaum Notiz von ihm. Einige schreiben ihm zwar Wundertaten zu. Auf jeden Fall spürt mancher, dass dieser Jesus von Nazareth etwas Besonderes ist, dass eine besondere Kraft und Ausstrahlung von ihm ausgeht.

Die wachsende Zahl seiner Anhängerinnen und Anhänger macht die Behörden unruhig - nicht im fernen Rom, dort hat man von den Ereignissen nichts vernommen - nur draussen in der Provinz Palästina am Rande der römischen Welt. Bevor er noch mehr Unruhe stiften kann, schlägt man Jesus ans Kreuz - wie so viele vor und nach ihm.

Und die Rechnung geht zunächst einmal auf. Ob sich die Freunde Jesu - wie es in der Apostelgeschichte heisst - in ein Obergemach in Jerusalem zurückgezogen haben oder zu ihren Familien und Berufen zurückkehrten, wissen wir nicht. Aber ihre Trauer und Mutlosigkeit können wir erahnen. Trotzdem liess sie die Erfahrung des gemeinsamen Weges mit Jesus von Nazareth nicht los. Sie glaubten, dass er nicht im Tod geblieben ist. sie hielten fest an seiner Botschaft und an der Gemeinschaft untereinander. Und sie fingen an, anderen davon zu erzählen, andere davon zu begeistern.

Etwa 40 Jahre später ist aus dem mutlosen und traurigen Freundeskreis eines Wanderpredigers, den sie gekreuzigt haben, eine Gemeinschaft geworden, die sich bis nach Rom und Kleinasien ausgebreitet hat. Es sind noch immer klein Gemeinden, die sich in Privathäusern treffen. Aber sie sind erfüllt von einer besonderen Kraft und sie sind spürbar anders als ihre Umwelt.

Es ist ein Wunder, dass aus der verstreuten und entmutigten Jüngerschar eine Gemeinschaft werden konnte, die sich vor allem in den Städten der damaligen Welt ausbreiten konnte und soziale Grenzen sprengte. Und in Klammern: es ist ein Wunder, dass diese Gemeinschaft - trotz allen Fehlern und menschlichen Unzulänglichkeiten - auch heute 2000 Jahre später noch existiert und in vielen Weltgegenden weiter ausbreitet.

Dieses Wunder hat einen jungen Mann - wir nennen ihn Lukas - veranlasst, die Geschichte dieses Jesus von nazareth und die Anfänge der christlichen Gemeinde zu erzählen. Und er hat diese Wunder, dass aus der mutlosen Jüngerschar Kirche werden konnte, verdichtet in der Pfingstlegende. Die Pfingstlegende erzählt nicht als Augenzeugenbericht von einem erstaunlichen öffentlichen Event in jerusalem gut 50 Tage nach der Kreuzigung Jesu. Sie erzählt in symbolischer Bildkraft von dem Wunder, dass die christlichen Anfänge ausmacht und will diesen Geist und diese Kraft des Anfangs wachhalten und neu entfachen. Die Kraft, die dieses Wunder bewirkt, ist für Lukas die Kraft des heiligen Geistes. In der Pfingstlegende wird uns erzählt, dass die Verheissung „ihr werdet die Kraft des heiligen Geistes empfangen“, zur inneren Gewissheit wurde: „Wir haben die Kraft des heiligen Geistes empfangen.“

Diesem Geist von Pfingsten und was er bedeutet, möchte ich in einigen Andeutungen nachgehen. Und ich schicke eine Art Warnhinweis voraus: Der Pfingstgeist, der heilige Geist ist ein Geist des Wandels. Wer möchte, dass immer alles beim Alten bleibt, sollte sich besser nicht auf diesen Geist einlassen.

1. Der Pfingstgeist ist zuerst einmal der Geist des freien Wortes. Eine Gruppe von Begeisterten ergreift das Wort – ohne jegliches Amt und jegliche Autorität. Es ist ein Hauch von Speaker’s Corner in dieser Pfingstgeschichte. „Wem das Herz voll ist, dem geht der Mund über.“ (Mt 12,34). Pfingsten ist für mich ein urdemokratisches Fest. Und Kirche muss eine Gemeinschaft von Menschen sein, in der jede und jeder Gehör findet - egal ob mit Amt und Autorität oder nicht, ob mehr oder weniger intelektuell, ob er nun die übliche Kirchensprache beherrscht oder scheinbar völlig unfromm redet, auch die mit den ketzerischen und vermeintlich abwegigen Ideen und Gedanken. Der Pfingstgeist hält sich nicht an unsere Vorgaben, was sich hier bei uns gehört.

2. Pfingsten ist ein Fest der Verständigung. Es ist das biblische Gegenbild zum Turmbau zu Babel. Während dort die Menschen einen gigantischen Turm bis zum Himmel bauen wollen und darüber die Fähigkeit verlieren, sich zu verständigen, sprechen sie in der Pfingstgeschichte die Sprache des Herzens und finden so zur Verständigung. Einen Turm bis in den Himmel kann man nur bauen, wenn man das Ziel nie aus den Augen verliert und alles nach Befehl und Gehorsam funktioniert. Dann aber bleiben die Menschen auf der Strecke. Sie gehorchen vielleicht, aber sie verstehen einander nicht mehr. In der Pfingstlegende steht ein Reden im Zentrum, das von Herzen kommt und Menschen in ihren Herzen erreicht. Da sind die Erfahrungen und Träume der Alten ebenso wichtig wie die Träume und Ideen der Jungen. Da wird nicht unbeirrbar ein Ziel verfolgt, sondern nach Verständigung und Verständlichkeit gesucht. Damit lassen sich zwar keine gigantischen Türme bauen, aber ein menschliches und erfülltes Zusammenleben.

3. Pfingsten ist ein Fest der Gemeinschaft. Darum ist es eben auch der Geburtstag der Kirche. Der Pfingstgeist lässt nicht jeden in der Vereinzelung seiner Begeisterung zurück, sondern verbindet Menschen über Grenzen der Sprache, der Politik, des Geschlechts, der sozialen Gruppen und der Generationen hinweg.

4. Der Pfingstgeist ist der Geist der Freiheit. Er weht, wo er will. Keine Institution, keine Gruppierung, keine Religion kann einfach darüber verfügen. Darum kann eine Religion oder Kirche nur dann sich auf diesen Geist berufen, wenn sie Freiheit ermöglicht, die Freiheit des Wortes, der Gedanken, des persönlichen Glaubens.

5. Das hebräische Wort für den Geist ist Ruach. Es ist weiblich und bedeutet auch Wind und Atem. Mit seinem Atemhauch belebt Gott in der biblischen Schöpfungsgeschichte die Menschen. Mit jedem Atemzug bin ich als mit dem göttlichen Geist und mit allen Lebewesen verbunden.

6. Darum ist der Pfingstgeist auch der Geist der Meditation, des bewussten Atmens, der Achtsamkeit, der Präsenz im Hier und Jetzt.

7. Der Pfingstgeist ist aber auch ein kritischer Geist. Begeisterung allein kann auch ein Strohfeuer sein, kann blind machen und uns um den Verstand bringen. Drum ist es wichtig, das, was uns begeistert und erfüllt, auch der kritischen Prüfung zu unterziehen und am Massstab der Liebe und der Gemeinschaft zu messen.

8. Der Pfingstgeist ist auch ein Geist des Friedens. „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir“ heisst es bei Augustin.

9. Und er ist zugleich der Geist des Wandels. Wer möchte, dass immer alles beim Alten bleibt, sollte sich besser nicht auf diesen Geist einlassen. Gerade unsere reformierte Kirche beruft sich ja darauf, eine ständig sich erneuernde Kirche zu sein, eine Kirche, der der Wandel als Wesensmerkmal eingeschrieben ist. Aber wie oft hängen wir in Wirklichkeit daran, dass alles beim Alten bleiben möge und haben mehr Angst vor Veränderungen und Aufbrüchen innerhalb und ausserhalb unserer Kirchenmauern. Dabei brauchen wir die Querdenker, die Kreativen, die Veränderungswilligen. Nicht dass Veränderung und Erneuerung prinzipiell gut wären. Aber wir brauchen keine Angst davor zu haben.

10. Der Geist weht, wo er will. Er hält sich nicht an Grenzen der Religion oder Konfession. Aber ich glaube, dass es zwei Dinge gibt, woran man ihn/sie erkennen kann: Der Geist lässt Menschen aufatmen und zwingt und knechtet nicht und er befähigt zu Liebe und Toleranz.

Freitag, 3. Juni 2011

Predigt zu Christi Himmelfahrt am 2. Juni 2011 über 1. Könige 8,22-24.26-28

„wo wohnt denn der liebe Gott?“ - das ist eine dieser Kinderfragen, die so naiv klingen und doch tiefgründiger sind als wir auf den ersten Blick meinen. „Der liebe Gott wohnt im Himmel“, sagen wir den Kindern dann oft. Und das ist ja auch richtig. Aber wenn das Kind dann weiterfragt, wo denn der Himmel ist, dann kommen die meisten von uns doch schon ziemlich in Verlegenheit. Das Blau über uns kann es ja wohl kaum sein, auch wenn wir beim Gedanken an den Himmel den Blick oft unwillkürlich nach oben richten und in den künstlerischen Darstellungen der Himmelfahrt Christi die Szene häufig so dargestellt wird, dass er von einem Berg oder Hügel aus auf den Wolken entschwebt. Auch die Darstellung der Apostelgeschichte verwendet ja dieses naheliegende Bild. Aber es bleibt ein Bild.

Manchmal antworten wir vielleicht: „Der liebe Gott wohnt überall.“ Es gibt dazu auch eine schöne rabbinische Geschichte. Als Rabbi Jizchak Meir ein kleiner Junge war, fragte ihn einmal jemand: „Jizchak Meir, ich gebe dir einen Gulden, wenn du mir sagst, wo Gott wohnt“. Er antwortete: „Und ich gebe dir zwei Gulden, wenn du mir sagen kannst, wo er nicht wohnt.“ In einem ähnlichen Sinn sagen viele heute, dass ihnen Gott am ehesten in der Natur begegnet, in der Schönheit der Schöpfung. Und es stimmt ja auch: wo wir staunen und dankbar sein können, da erfahren wir Gott.

Eine andere Antwort lautet: „Gott wohnt in den Herzen der Menschen. Er ist die Kraft zum Guten, die Liebe, die uns erfüllt, das Vertrauen, das wir in uns spüren.“ Zweifellos eine richtige und sehr überzeugende Antwort.

In den sogenannten Schriftreligionen sagt man auch: „Gott wohnt im Wort der Heiligen Schrift.“ Einem Kind würden wir das vermutlich kaum so sagen. Und ich weiss sehr wohl um die Gefahr eines toten Buchstabenglaubens oder einer fundamentalistischen Enge. Trotzdem ist auch diese Antwort nicht falsch. Und ich hoffe, dass zu den Geschichten, die ihr, liebe Taufeltern, ihren Kindern erzählen werdet, nicht nur Märchen und Fantasygeschichten oder ähnliche gehören, sondern auch biblische Geschichten, weil wir in diesen Geschichten verbunden sind mit Gott und mit den Menschen, die vor uns geglaubt, gehofft und geliebt haben, weil diese Geschichten Vertrauen und Lebenszuversicht wecken können.

Und wie sieht es mit der Antwort „Gott wohnt in der Kirche“ aus. Immerhin heisst die Kirche ja auch das Haus Gottes. Trotzdem ruft gerade diese Antwort besonders viel Widerspruch hervor - auch und vor allem bei Menschen, die spirituell auf der Suche sind. „Glaube ja, Kirche nein“ heisst oft der Leitspruch. Man kann doch schliesslich auch ein guter Mensch sein, ohne in die Kirche zu gehen und umgekehrt macht der Kirchgang niemand automatisch zu einem besseren Menschen. Mancher fühlt sich auf einem Berggipfel dem lieben Gott tatsächlich näher als in einer Kirche. Ich habe nicht das geringste Interesse, all dies zu bestreiten oder auch nur zu relativieren. Ich möchte nicht einmal andere davon überzeugen, dass sie eben die Kirche doch noch brauchen, um die richtigen Gotteserfahrungen zu machen. Zu lange wurde der Eindruck erweckt, ausserhalb der Kirche gebe es kein Heil.

Der heutige Predigttext ist ein Gebet, einige wenige Verse aus dem Tempelweihegebet des israelitischen Königs Salomos. Das besondere des Glaubens Israels ist, dass sie im Unterschied zu ihrer orientalischen Umwelt keine Götterbilder verehrten. Die Israeliten glaubten an einen unsichtbaren Gott, der sich nicht in Bildern festlegen lässt. Alles was sie hatten, waren die beiden Gebotstafeln, die sie in einer Holzkiste aufbewahrten. Doch der König David wollte dem Gott Israels ein Haus, einen Tempel bauen. Aber erst sein Sohn Salomo durfte diesen Plan in die Tat umsetzen. Übrigens ist die Begründung der Bibel interessant: David durfte den Tempel nicht bauen, weil an seinen Händen zu viel Blut klebte. Der Tempel Salomos war nicht zu vergleichen mit den Dombauten und Kathedralen unserer Städte. Er war etwa so gross wie unsere Oberbalmer Dorfkirche. Aber endlich hatte man ein zentrales Heiligtum, zum Gebet, zum Kult und zum Opfer, einen sichtbaren Ort der Gegenwart Gottes. Und dann fällt sich Salomo in diesem Gebet zur Einweihung des Tempels fast schon selbst ins Wort und es heisst: „Aber sollte Gott wirklich auf der Erde wohnen? Sieh, der Himmel, der höchste Himmel kann dich nicht fassen, wieviel weniger dann dieses Haus, das ich gebaut habe!“ Vermutlich ist dieses Gebet so erst im Rückblick formuliert worden, als der Tempel wieder zerstört worden war von den babylonischen Eroberern und das Volk Israel im Exil lebte.

Dass Gott grösser ist als unsere religiösen Bauwerke, als unsere religiösen Lehren, als unsere Glaubensgemeinschaften, diese Einsicht ist unserem Glauben von Grund auf eingeschrieben. Diese Einsicht gilt aber auch für die Gegenwart Gottes in der Schönheit der Natur oder in unseren Herzen. Ich denke, dass die Antworten auf die Kinderfrage „Wo wohnt denn der liebe Gott“ alle ihr Recht und ihre Grenze haben. Keine macht die andere überflüssig oder falsch, aber auch keine kann die Fülle Gottes einfangen.

Wenn ich mich mit offenen Augen in der Natur bewege, kann ich tatsächlich die Gegenwart Gottes erahnen und kein Gottesdienst, keine Predigt kann mir diese Erfahrung ersetzen. Aber die Naturerfahrung ersetzt mir auch nicht das gemeinsame feiern, singen und beten im Gottesdienst, das Hören auf Gottes Wort, das Gespräch mit anderen und die Zuwendung von anderen, die ich erfahre. Das Gute, das wir im Alltag erfahren und tun, kann durch die klügsten und berührendsten Gottesdienste und Kirchenräume nicht aufgewogen werden. Aber ich brauche auch die Orte und Momente, wo ich zur Ruhe kommen und loslassen kann. Gott braucht keine monumentalen Kirchen, ja überhaupt kein Gebäude. Trotzdem werde ich, wenn ich Stille suche und Besinnung, eher in eine schöne Kirche sitzen als in eine Turnhalle.

„Aber sollte Gott wirklich auf der Erde wohnen? Sieh, der Himmel, der höchste Himmel kann dich nicht fassen, wieviel weniger dann dieses Haus, das ich gebaut habe!“ Mit diesen Worten ist all unseren Gotteserfahrungen eine heilsame Grenze gesetzt. Sie können die Fülle Gottes nicht fassen. Und doch sind es wertvolle und kostbare Gotteserfahrungen, sei es in der Natur, in einer Kirche oder in tätiger Nächstenliebe.

Der Abschnitt aus der Apostelgeschichte, den wir in der Schriftlesung gehört haben, ist ja die biblische Grundlage dafür, dass wir einen Auffahrtstag begehen und heute Gottesdienst feiern. Jesus wird den Blicken der Jünger entzogen. Er ist aufgefahren in den Himmel, wie es im apostolischen Glaubensbekenntnis heisst. In Treue zu dem, was sie mit Jesus erlebt und von ihm gelernt haben, stehen sie nun selber in der Verantwortung. Sie sind zurück gelassen und doch nicht verlassen. Denn auch hier gilt: der höchste Himmel kann dich nicht fassen. Jesus ist nicht mehr bei ihnen und doch mitten unter ihnen - da wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, weil er versprochen hat, alle Tage bei ihnen zu sein bis an der Welt Ende und weil er ihnen verheissen hat, dass sie die Kraft des heiligen Geistes empfangen werden. Selber verantwortlich für unser Leben, für diese Welt und doch nicht allein - diese Umschreibung trifft auch unsere Situation gut. Der, den der höchste Himmel nicht fassen kann, wie sollte der sich fassen lassen in unseren Religionen, Glaubenslehren oder Kirchengebäuden? Und wie sollte er uns nicht nahe sein in seiner überfliessenden Liebe und seiner Treue, auch wenn wir ihn nicht fassen können?

Im Tempelweihegebet des Salomo folgt auf die Einsicht in die Unfassbarkeit Gottes die Bitte: „Wende dich dem Gebet deines Dieners zu und seinem Flehen, HERR, mein Gott, und erhöre das Flehen und das Gebet, das dein Diener heute vor dir betet.“ Und den Jüngern sagt Jesus: „Ihr werdet die Kraft des heiligen Geistes empfangen und werdet meine Zeugen sein.“ Und als Jesus vor ihren Augen in den Himmel entschwunden war und sie immer noch wie gebannt in den Himmel starren, da weisen sie zwei Engel zurecht. Sie sollen nicht in den Himmel starren, sondern hier auf der Erde ihre Aufgabe erfüllen. Mit Gottes Hilfe. Amen.

Montag, 30. Mai 2011

Predigt zu Joh 21,1-14 vom 22. Mai 2011

Liebe Gemeinde!
Sie war 32 Jahre alt und eine aufgestellte Frau. Sie führte eine glückliche Ehe und fühlte sich von ihrem Mann geliebt und unterstützt. Gemeinsam freuten sie sich über ihre drei Kinder. Thomas war gerade in die Schule gekommen, Tamara im Kindergarten und im Sommer sollte es bei Tobias dann auch losgehen mit dem Kindergarten. Beruflich hatte ihr Mann eine befriedigende Arbeit und eine halbwegs sichere Stelle und sie selbst arbeitete noch Teilzeit und genoss es, ihren Beruf weiter auszuüben und den Kontakt mit den Kolleginnen und Kollegen zu haben. Sie war gerne Mutter, aber sie brauchte auch ihren Beruf, diese ganz andere Beanspruchung. 32 Jahre war sie alt und eine glückliche Frau.
Doch dann kam dieser 3. April. Es war ein herrlicher Frühlingstag. Er wollte nur eine kurze Spritztour mit seinem Töff machen. Doch er blieb länger als erwartet aus und sie fing an, sich Sorgen zu machen. Und dann kamen sie und überbrachten die schreckliche Nachricht. Ein Autofahrer hatte ihm die Vorfahrt genommen und er war auf der Stelle tot gewesen. Fassungslos stand sie den beiden Polizisten gegenüber. Sie brachte kein Wort mehr heraus, konnte zuerst gar nicht weinen, wollte es nicht wahrhaben. Erst allmählich realisierte sie, was wirklich geschehen war.
In der ersten Zeit hatte sie viel Unterstützung und sie liess es sich auch gerne gefallen. Ihre Welt war zusammengebrochen und niemand erwartete von ihr, dass sie einfach funktionierte wie bisher. Ständig war jemand da, der ihr Hilfe anbot oder zuhörte oder mit ihr Erinnerungen austauschte von früher. Aber mit der Zeit, so dachte sie, sollte die alte Energie und Tatkraft wieder zurückkehren. Man kann ja nicht ewig trauern. Klar, sie wusste, dass es nicht mehr werden würde wie früher. Aber zumindest sie wollte wieder ganz die Alte werden, dass war sie sich und ihm und ihren Kindern schuldig. Und dieses Gefühl „Ich muss“, das wurde immer mehr zu einem ungeheuren Druck. Sie wartete auf den Tag, an dem der Schalter wie umgekippt wäre, ihre Energie und Tatkraft zurückkehrte, sie die alte Leichtigkeit wieder spüren könnte.
Im Gespräch mit einem guten Freund sagte sie: „Weißt du, was mich am meisten deprimiert, das ist diese bleierne Schwere, dass ich manchmal einfach nicht mag und mir noch die kleinsten und alltäglichsten Dinge so ungeheuer viel Kraft brauchen. Ich spüre keine Energie, keine Kraft in mir. Alles braucht so viel Zeit und es fällt mir oft schwer mich aufzuraffen, etwas anzupacken oder zu unternehmen. Und ich habe das Gefühl, dass mir nichts mehr wirklich gelingt. Und wenn mir etwas gelingt, dann habe ich oft sogar Mühe, mich wirklich daran zu freuen. Sehnsüchtig warte ich auf den Tag, an dem ich wieder die alte Kraft und Lebensenergie habe und manchmal zweifle ich daran, ob dieser Tag jemals kommt.“
„Ich denke“, antwortete er, „dass ich dich ganz gut verstehen kann. Vor einigen Jahren als es in unserer Ehe so schwierig geworden ist, ging es mir ähnlich. Ich weiss natürlich, dass meine Ehekrise nicht zu vergleichen ist mit dem, was du durchgemacht hast. Und wir haben wieder einen gemeinsamen Weg gefunden und dein Mann ist tot und wird nie wieder zurückkehren. Aber was du beschrieben hast, das habe ich in dieser Zeit auch erlebt, diese bleierne Schwere, die sich über alles legt. Auch ich habe den Tag herbeigesehnt, wo mir einfach alles wieder so leicht von der Hand geht wie früher. Ich war total verunsichert. Was war ich noch wert? Ich war wütend auf Marianne, weil sie mich ständig kritisierte und zugleich nahm mir ihre Kritik jegliches Selbstvertrauen. Ich war wie gelähmt und erstarrt. Alles schien so hoffnungslos.“
„Genau so fühle ich mich auch oft. Und ich glaube, es tut mir gut, wenn ich das von dir höre. Manchmal fange ich ja wirklich an zu zweifeln, ob meine Reaktion noch normal ist. Wenn’s dir genau so gegangen ist, fühle ich mich weniger allein. Aber Mühe macht mir diese Situation trotzdem.“
„Klar. Sie ist ja auch furchtbar. Ich habe in jener Zeit in einem Gottesdienst die Geschichte gehört, wie Jesus seinen Freunden nach Ostern am See Tiberias erschienen ist. Ich weiss nicht mehr, was der Pfarrer gepredigt hat, aber ich weiss noch genau, wie mir durch den Kopf gegangen ist: mir geht es doch genau so wie diesen Fischern, bei allem Bemühen bleiben meine Netze leer. Meine Arbeit ist zäh und geht mir nicht von der Hand und mit Marianne komme ich nicht vom Fleck. Ach, sässe doch bei mir auch einer wie Jesus am See und zeigte mir, wo ich meine Netze auswerfen soll. Ein wunderbares Gelingen all dessen was ich tue, das wäre es, was ich bräuchte. Aber wer erlebt heute schon Wunder. Und genau an jenem Abend sagte Marianne zu mir: entweder unternehmen wir etwas oder es ist aus zwischen uns; dieses Schweigen, dieses Misstrauen halte ich nicht mehr aus. Heute würde ich sagen, dass das für mich so etwas war wie die Begegnung der Fischer mit dem am Seeufer sitzenden Jesus. Dieser Eklat hat mich gelehrt, meine Netze anders auszuwerfen, nicht zuzudecken, im Stillen oder halblaut zu murren, Dinge lieber nicht ansprechen oder wahrhaben zu wollen. Es war ein mühsamer und schmerzhafter Weg. Es war nicht einfach alles wie von Zauberhand weggeblasen und es hätte genau so gut mit einer Trennung enden können. Aber ich glaube, selbst dann wäre ich heute froh über jenen Abend, weil er der entscheidende Anstoss zur Klarheit war und mir mit einem Schlag gezeigt hat, wie viel Energie die vorherige Situation gekostet hat.“
„Wenn du die Geschichte von Jesus am See Tiberias erzählst, dann wird mir noch etwas anderes klar: weder sollen wir auf ein Wunder warten, dass mit einem Mal alle Schwere von uns nimmt, noch können wir den Zeitpunkt, wo sich unsere Netze füllen, herbeizwingen. Wir können nur geduldig warten und mit offenen Augen durch die Welt gehen. Und wahrscheinlich braucht es viel eher den Blick für die kleinen Erfolgserlebnisse, die kleinen Schritte auf dem Weg zu neuer Kraft und Lebensenergie. Wenn wir nur auf das grosse Wunder warten, verpassen wir die kleinen alltäglichen Wunder.“
„Übrigens: Am Ende der Geschichte essen die Jünger mit Jesus. Sie teilen das Brot und die Fische. Auch das erinnert mich daran, wie oft ich schon dadurch neue Kraft und Lebensenergie bekommen habe, dass ich mit anderen bei Tisch gesessen bin oder mit ihnen geredet oder gesungen habe. Es ist für uns wirklich nicht gut, wenn wir alleine sind und alles mit uns selber ausmachen.“
„Wahrscheinlich ist es wirklich so: wir brauchen Vertrauen in die Menschen und wir brauchen Vertrauen in Gott – und beides können wir nicht erzwingen. Die Jünger haben gemerkt, dass Jesus, den sie für tot gehalten haben, bei ihnen ist, dass sie nicht allein sind. Und dieses Vertrauen, dass ich nicht allein bin, das brauche ich auch. Dann kann ich auch die leeren Netze, die lähmende Müdigkeit aushalten und hoffen und vertrauen, „dass Gott den Müden Kraft gibt und Stärke genug den Unvermögenden und dass die auf den Herrn harren, neue Kraft kriegen, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden“. Das ist überhaupt einer meiner Lieblingsverse aus der Bibel. Nur vergesse ich ihn manchmal, wenn ich mich so müde fühle.“

Die Geschichte und das Gespräch habe ich natürlich frei erfunden. Aber vielleicht entdecken sie Erfahrungen und Gefühle daraus bei sich selbst wieder. Und ich denke, dass auch unsere Auferstehungsgeschichten heute sich wie damals bei den Jüngern mitten im Alltag abspielen, da wo wir gefangen sind in unseren Enttäuschungen, in schmerzlichen Erfahrungen, in lähmender Müdigkeit und wo wir plötzlich ahnen: er ist da und er zeigt uns, wo wir unsere Netze auswerfen können, wo sich Wege für uns auftun, die wir bisher gar nicht gesehen haben. Es sind die kleinen Auferstehungsgeschichten im Alltag, die uns Mut machen, wenn wir sie denn wahrnehmen und die uns mit neuer Kraft erfüllen. Und manchmal dürfen wir entdecken, dass aus dem was zerbrochen und verloren ist, etwas Neues hervorwachsen kann. Erzwingen lässt es sich nicht, aber hoffen und glauben und geduldig erwarten. Darum bitten wir Gott, dass er sich uns zeigen möge in den erfolgreichen und in den erfolglosen Fischzügen unseres Lebens und in uns den Glauben und das Vertrauen stärke, die wir vielleicht schon verloren geglaubt haben. Amen.

Konfirmationspredigt zu 1. Mose 9,12-17 am 29. Mai 2011

Predigt zu 1. Mose 9,12-17: Im Zeichen des Regenbogens
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, liebe Gemeinde!
Die Geschichte, zu der der Predigttext für eure Konf gehört, kennt ihr vermutlich alle. Neben der Weihnachtsgeschichte und der Geschichte mit dem angebissenen Apfel (und da meine ich natürlich nicht das Markensymbol) ist sie eine der bekanntesten Bibelgeschichten und einigen von euch wohl im Kinderzimmer begegnet. Bestimmt haben nämlich einige eine Arche gehabt und darauf die vielen farbigen Tierfiguren hin- und herbewegt.

Die Sintflutgeschichte ist ja eigentlich eine ziemlich verrückte und auch grausame Geschichte. Sie spielt mit der Idee, dass Gott genug haben könnte von den Menschen und setzt diese Idee ins Bild. Sie erzählt von einem Gott, der sagt: Ihr baut soviel Mist. Ich habe genug von euch - und der dann die ganze schöne Schöpfung einfach in den Fluten absaufen lässt. Oder zumindest beinahe. Denn da ist noch dieser Noah, der mitten auf dem Festland eine Arche baut - und dank dieser Arche geht die Geschichte weiter. Die Sintflutgeschichte spielt mit dieser Idee - und zeigt doch am Ende, dass Gott ganz anders ist. Am Ende sagt Gott: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Und wie zur Bekräftigung heisst es dann:
1. Mose 9,12-17 lesen

Immer wenn wir einen Regenbogen am Himmel sehen, soll uns das daran erinnern, dass Gott es gut mit uns meint und zu uns steht, was auch immer geschieht. Das ist der Horizont, in dem wir leben. Ein Gott, der uns liebt und der Ja zu uns sagt und der eben nicht kleinlich unsere Leistungen belohnt und unsere Fehler bestraft. Ein Gott, der uns zeigt, dass wir uns an unseren Leistungen freuen dürfen und dass es toll ist, etwas leisten zu können - ganz unabhängig davon, welchen Lohn das bringt. Ein Gott, der uns aufrichtet und hilft, wenn wir Fehler machen, statt uns Moralpredigten zu halten und Strafen anzudrohen - selbst wenn wir tatsächlich an unseren Fehlern selber schuld sind. Das Zeichen des Regenbogens ist ein Zeichen der Grosszügigkeit und der Treue, ein Zeichen der Liebe Gottes, die sich durch nichts erschüttern lässt.

Ihr, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, habt uns vorhin erzählt, was ihr mit dem Horizont verbindet. Euch ist klar - und das war auch in euren Beiträgen spürbar -, dass unser Horizont immer abhängig ist von dem Ort, an dem wir stehen. Ganz offensichtlich in der Natur, aber auch im übertragenen Sinn. So war in euren Beiträgen immer wieder vom Schulabschluss und der bevorstehenden Lehre die Rede. Das prägt momentan euren Horizont ganz entscheidend. Und trotzdem ist da ja noch viel mehr. Da sind die Eltern, eure Familie, mit denen ihr einen neuen Weg finden müsst, jetzt, wo ihr noch nicht selbständige Erwachsene, aber auch nicht mehr einfach Kinder seid. Da sind die Freundschaften, die für euch wichtig sind und die manchmal schön und manchmal schwierig sind. Ihr macht Erfahrungen mit der Liebe, mit Beziehungen - beglückende und enttäuschende. Ihr müsst euren Platz in der Clique und unter den Kollegen finden, euch aneinander messen. Und nicht immer geht das ohne Abstürze und schwierige Erfahrungen. Ihr müsst ein gesundes Selbstvertrauen entwickeln - auch wenn sich immer jemand findet, der schöner, klüger, beliebter, geschickter oder was auch immer ist. Und ihr müsst Bescheidenheit lernen und Rücksichtnahme in den Bereichen, wo ihr etwas besonders gut könnt. So zentral Schulabschluss und Lehre für euch sind - sie sind doch auch jetzt nicht euer ganzes Leben.

Unser Horizont ist immer von unserem Standort im Leben abhängig. Das ist einfach so. Wichtig ist nur, dass wir das nicht vergessen und plötzlich meinen, das Leben sei einfach so, wie wir es momentan sehen und was wir sehen, sei schon alles, was von Bedeutung ist. So banal das klingt, so schwierig ist es oft. Denn das heisst ja, dass wir lernen müssen, die Dinge auch mit den Augen der anderen zu sehen und damit wir das können, müssen wir uns zuerst einmal für den Horizont der anderen interessieren - gerade auch für die, die ganz andere Dinge sehen als wir oder dieselben Dinge ganz anders. Diese Toleranz und Neugier ist nicht immer einfach. Wie oft nehmen wir Fremdes zuerst einmal als Bedrohung unserer gewohnten Sichtweisen wahr statt als Erweiterung unseres Horizonts - in unserem alltäglichen Leben und in der grossen Politik. Und wir bemerken dabei gar nicht, wie ängstlich wir werden und wie wir dabei ärmer werden und Stillstand statt Lebendigkeit bewirken.

Um einen weiteren Horizont zu bekommen, braucht es Vertrauen. Wenn ich hinter meinem Horizont nur Bedrohungen und Gefahren wittere, werde ich kaum den Mut haben, den Weg dorthin beherzt zu gehen. Wenn ich den anderen vor allem misstrauisch begegne, werden sie mir kaum neue Horizonte öffnen können, weil ich dazu ja zuerst einmal auf etwas vertrauen, etwas Glauben schenken muss, was ich selber noch nicht sehen kann. Das habt ihr ja auch selbst schon vorhin gesagt, dass wir in unserem Leben immer wieder auf Menschen angewiesen sind, denen wir vertrauen können. Wir finden sie - hoffentlich - in der Familie und unter Kollegen. Aber wir müssen auch immer wieder neu Vertrauen wagen gegenüber Menschen, denen wir neu begegnen - trotz Enttäuschungen, die unvermeidlich dazu gehören.

Oft reden wir von einem weiten Horizont, wenn jemand viel weiss. Das ist nicht falsch und ich kann euch nur ermutigen, euch um Wissen und Kenntnisse zu bemühen, euch nicht nur ausbilden zu lassen, sondern auch weiterzubilden und euch auch für Dinge zu interessieren, die nicht unmittelbar zu eurer Ausbildung gehören. Aber viel wichtiger noch finde ich etwas anderes. Es gibt nämlich Menschen, die wissen unheimlich viel, sind hervorragend ausgebildet und haben es ziemlich weit gebracht. Und trotzdem ist ihr Horizont eingeschränkt, weil sie nur sich selber und den eigenen Nutzen und Vorteil sehen. Und das finde ich eigentlich die tragischste Einschränkung unseres Horizonts. Wenn wir alles danach beurteilen, was es uns bringt oder ob wir es müssen oder was dabei herausspringt, dann sind wir wirklich arm dran. Weil es nämlich zu den beglückendsten Erfahrungen im Leben gehört, wenn ich spüre, dass jemand für mich einfach so da ist und mir hilft, mich unterstützt und wenn ich spüre, dass ich selber jemandem etwas Gutes tun kann. Und ich bin überzeugt, wenn ihr jemandem wirklich eine Freude machen könnt, dann ist es euch völlig egal, ob ihr etwas dafür bekommt oder nicht. Die gute Erfahrung, die Freude des anderen ist der grösste Lohn. Mit das grösste Glück im Leben ist es, anderen etwas zu geben ohne zu fragen, ob sie es auch verdient haben und was ich dafür bekomme und wenn ich etwas Gutes erfahre, ohne dass der andere auf den ersten Blick etwas davon hat.

Und noch ein letztes - und damit kehre ich auch wieder zum Regenbogen zurück. Was wir sehen können, was sichtbar in unserem Horizont liegt, das ist nur die Aussenseite unseres Lebens - und auch davon nur ein Teil. Wenn es nicht mehr gäbe als das sichtbare und beweisbare wären wir arm dran. Ich zumindest bin überzeugt, dass wir in unserem Leben ein Grundvertrauen brauchen, dass das Leben gut ist und dass, was auch immer auf uns zukommt, ein Ja über unserem Leben steht. Für dieses Ja in unserem Leben steht Gott, steht der Regenbogen in unserem Predigttext. Er steht für die Zusage Gottes, dass er uns niemals fallen lässt, was auch immer wir tun und was uns auch widerfahren mag. Jeder und jede von uns ist für Gott wichtig, niemanden lässt er im Stich.

Ich wünsche euch, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, dass ihr im Horizont des Regenbogens euren Weg gehen könnt - mit dem Vertrauen, dass Gott euch Menschen schenkt, die es gut mit euch meinen, dass auch hinter dem Horizont sich für euch immer wieder neue Wege auftun und ihr auch nach Enttäuschungen und Rückschlägen wieder aufstehen könnt. Ich wünsche euch, dass ihr selbst auch anderen neue Horizonte eröffnen, für andere dasein und für sie einstehen, ihnen Freude schenken könnt. Und ich wünsche euch das Vertrauen, dass Gott eure Schritte begleitet und immer wieder einen Weg für euch weiss. Amen.

Donnerstag, 21. April 2011

Karfreitagspredigt zu Luk 23,33-49 am 22. April 2011

Liebe Gemeinde,
stellen sie sich vor, eine junge Frau aus unserer Zeit, nennen wir sie Ruth, hätte die Gelegenheit, den Evangelisten Lukas zu seiner Passionsgeschichte zu befragen. Welche Fragen hätte sie wohl und was würde sie Lukas über unsere Zeit erzählen? Ich möchte es einfach einmal ausprobieren:

Ruth: Lukas, ich habe die Passionsgeschichte schon oft gehört. Aber immer noch erschrecke ich darüber, was sie Jesus angetan haben. Wie grausam Menschen doch sein können. Er hat ja niemand etwas zuleide getan. Im Gegenteil, er hat den Menschen geholfen und Mut gemacht. Und dann ist er in die Mühlen der Politik geraten, ein unschuldiges Opfer.

Lukas: Es ist gut, Ruth, wenn du darüber erschrickst. Denn viele gewöhnen sich erschreckend schnell an den Anblick des Leides. Zahllose Menschen sind ja zu meiner Zeit gefoltert und getötet worden, Schuldige und Unschuldige. Ich möchte, dass Menschen sich berühren lassen von diesem Leiden Jesu, dass sie hinsehen und Mitgefühl haben und zwar nicht nur weil es Jesus ist, sondern weil da ein Gerechter leidet. Wer auf Jesu Kreuz ehrfürchtig blickt, weil es Jesus ist, der da leidet, aber an den Kreuzen der anderen Menschen achtlos vorbeigeht, der hat nicht begriffen, was Gott uns sagen will.

Ruth: Bist du deshalb so zurückhaltend mit den Ehrentiteln für Jesus und nennst ihn kaum einmal Sohn Gottes oder Christus oder Auserwählter, und wenn, dann meist aus dem Munde der Spötter?

Lukas: Ja, das stimmt. Diese Titel sind ja alle nicht falsch. Im Glauben erkennen wir Jesus als Sohn Gottes, als Christus, als unseren Erlöser. Aber alles hängt für mich davon ab, dass wir in ihm zuerst einmal den Menschen sehen und auch wenn er für uns mehr ist als einfach ein Mensch, bleibt er doch auch dies, ein Mensch, ein Mensch der leidet, ein Mensch, der zu Mitgefühl und Zuwendung fähig ist und der Mitgefühl und Zuwendung braucht, ein Mensch aus Fleisch und Blut. Mit der Menschlichkeit fängt alles an und ohne Menschlichkeit, ohne die Menschlichkeit Jesu und unsere Menschlichkeit gibt es keinen christlichen Glauben.

Ruth: Und darum sagt auch der römische Hauptmann bei dir am Ende nur: dieser ist ein frommer Mensch gewesen. Bei Markus sagt er ja: dieser ist Gottes Sohn gewesen. Ist „frommer Mensch“ nicht ein bisschen wenig für Jesus?

Lukas: Weisst du, weder Markus noch ich standen damals unter dem Kreuz. Wir können nur weitererzählen, was man uns berichtet hat und was uns eingeleuchtet hat. Meine Grundüberzeugung, meine Glaubenseinsicht ist: Wer Gott erkennen will, der darf den Menschen nicht aus dem Blick verlieren. „Sohn Gottes“ aus dem Munde eines römischen Hauptmanns, das lässt mich an den Kaiser denken, der sich ja als Sohn Gottes feiern liess. Manche von uns sind dafür gestorben, dass sie sich an dieser Gotteslästerung nicht beteiligen wollten. Aber wenn wir Gott in Jesus erkennen sollen, dann steht mir das Bild des gekreuzigten Menschen vor Augen, des leidenden Gerechten. Dieser Anblick berührt mich, erfüllt mich selbst mit Mitgefühl und Anteilnahme – am Geschick Jesu, aber auch am Geschick all der Menschen, die leiden müssen, die ein Kreuz zu tragen haben. „Ein frommer Mensch“, das ist sicher nicht alles, was man über Jesus sagen kann, aber wer mit den grossen Worten beginnt, vergisst allzu leicht die kleinen, alltäglichen Dinge. Und unseren Glauben können wir gar nicht anders leben als in der kleinen Münze alltäglicher Anteilnahme, Fürsorge und Liebe.

Ruth: Das leuchtet mir ein, Lukas, und Jesus hat uns ja mit seinem ganzen Leben und noch in seinem Sterben diese Menschlichkeit vorgelebt. Wie er noch am Kreuz für die eintritt, die ihm dieses Leid zufügen: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ – das ist schon überwältigend. Ich denke, auch wir wissen manchmal nicht, was wir tun. Wir wollen das Gute und tun das Böse. Wir meinen, einfach unsere Pflicht zu tun und richten damit Unheil an. Wir machen immer wieder die gleichen Fehler, weil wir nicht aus unserer Haut können. Da tut es gut zu wissen: Jesus tritt selbst für die ein, die ihn ans Kreuz schlagen. Wie sollte er dann nicht auch für uns eintreten? Und er stellt dabei nicht einmal Vorbedingungen.

Lukas: Ja, Ruth, das ist das Grossartige und Befreiende. Jesus liebt die Menschen, bedingungslos, und diese Liebe kann Menschen verändern, weil sie befreit sind von dem Druck, sich ständig zu rechtfertigen, ihre Schuld, ihre Fehler zu verbergen. Das sehen wir an dem einen Mitgekreuzigten und an dem Hauptmann. Einer der Mitgekreuzigten erkennt und bekennt, dass er schuldig ist, aber er versinkt nicht in Gram über seine Schuld, sondern traut sich, Jesus um Beistand zu bitten. Er glaubt, dass der, der im Sterben bitten kann „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, auch ihm beistehen und vergeben kann. Und er irrt sich nicht. „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein“, antwortet Jesus ihm. Und auch der Hauptmann kommt zu seiner Einsicht, weil er die Grösse und Menschlichkeit Jesu wahrnimmt und sich davon berühren lässt.

Ruth: Die beiden Mitgekreuzigten reagieren ja grundverschieden. Der eine erkennt seine Schuld und wendet sich hilfesuchend an Jesus, der andere flüchtet sich in Zynismus und Spott. Er schlägt sich auf die Seite derer, die immer einen brauchen, den sie klein machen und demütigen können. Für ihn scheint das eigene Leid erträglicher, wenn er es spottend und zynisch übertünchen kann. Ganz anders der andere. Er spürt, dass ihm da ein barmherziger Mensch begegnet, einer demgegenüber er nicht den Starken spielen muss, einer, der ein Herz für ihn hat, der auch ihm Erbarmen schenkt. Jesus strahlt noch in seinem Leiden Liebe aus, grenzenlose Liebe. Wie gerne wäre ich auch zu solcher Liebe fähig, im Kleinen, in meinem Alltag. Denn ich weiss ja, dass die Liebe menschlicher macht. Es ist mir schon manchmal passiert, dass meine Kinder etwas angestellt haben und ich wütend und aufgeregt gefragt habe: „Wer war das schon wieder.“ und entweder betretenes Schweigen geerntet habe oder das alte Spiel: Der war’s. Nein die war’s.“ Und fast jedes Mal, wenn es mir gelungen ist, erst einmal tief durchzuatmen und ich meine Kinder in den Arm genommen habe und ihnen ehrlich sagen konnte: „Ich habe euch ganz fest lieb.“ Dann hat wie von selbst eines gesagt: „Es tut mir leid. Ich war’s.“ Weil dann das Vertrauen da ist: es mag zwar schlimm sein, was ich angestellt habe, aber nichts ist so schlimm, dass mich Mama nicht mehr lieb hat. Und dieser Jesus, der noch am Kreuz sagt: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, dieser Jesus kann in uns dieses kindliche Vertrauen wecken, dass wir uns nicht mehr verstecken müssen, sondern zu unserer Verantwortung stehen können, für das, was wir tun und unterlassen. Und dieses Vertrauen ist eine grosse Befreiung. Ich glaube, Erlösung ist dafür kein zu grosses Wort.

Lukas: Dein Beispiel finde ich schön. Es trifft für mich gut, was Jesus für uns getan hat. Er liebt uns und er ist dieser Liebe treu – treu bis in seinen Tod. Diese Liebe macht uns frei. Sie macht uns frei, uns selber im Licht seiner Liebe zu sehen, so wie wir sind und doch geliebt. Und dann können wir auch unsere Mitmenschen in diesem Licht sehen und die Barmherzigkeit, die wir erfahren haben, weitergeben.

Ruth: Ich habe mich immer schwer getan damit, dass Gott seinen Sohn geopfert haben soll für unsere Schuld. Jetzt merke ich, dass es nicht darum geht, dass Gott ein blutiges Opfer braucht, sondern dass wir Menschen auf diese bedingungslose Liebe angewiesen sind, die Jesus uns gezeigt hat und an der er festgehalten hat auch dann noch, als sie ihn ans Kreuz geführt hat. Gott fordert nicht diesen Tod, er erduldet ihn eher – aus Liebe. Und er überwindet ihn an Ostern. Wir sollen auf das Kreuz blicken und uns zur Menschlichkeit bewegen lassen. Wir können Verantwortung übernehmen und müssen Schuld nicht verdrängen. Aber wir dürfen uns auch Gottes Erbarmen gefallen lassen und unseren Mitmenschen Güte und Barmherzigkeit erweisen. Und wir dürfen an das Leben glauben, daran, dass Gott Leben schenkt, das den Tod überwindet.

Lukas: Ja, Ruth, aus diesem Vertrauen dürfen wir leben. Dieses Vertrauen spricht auch aus Jesu letzten Worten: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Wer Gottes Liebe vertraut im Leben, im Leiden und im Sterben, der hat auf keinen Sand gebaut, der kann menschlich leben und Menschlichkeit weitergeben. In Jesu Kreuz steht uns vor Augen, zu welcher Unmenschlichkeit wir fähig sind, sehen wir all die Kreuze auf dieser Welt. Aber in Jesu Kreuz erkennen wir Gottes befreiende Liebe und Menschlichkeit. Amen.