Liebe Gemeinde,
ohne unseren heutigen Predigttext gäbe es die Weihnachtsgeschichte des Lukas nicht und wohl auch kein Weihnachtsfest. Wir wären ärmer – zweifellos. Denn es sind diese Worte des Micha, die Lukas zu seiner Geburtsgeschichte inspiriert haben. Der, der die Menschen um sich Gottes Nähe und Liebe erfahren liess, der, den die frühe Christenheit als Gottes Sohn und Heil der Welt bekannte – ihn liessen Mt und Lk in Bethlehem das Licht der Welt erblicken. War er nicht ihr Friede geworden? Hatte er nicht die Menschen in Kraft geweidet? Sie erinnerten sich an die uralten Worte des Micha. Sie vergewisserten sich – so würde man das heute wohl nennen – ihrer kulturellen Wurzeln.
Gott erwählt das Kleine und Verachtete. Diese Glaubenserkenntnis durchzieht wie ein roter Faden die heiligen Schriften der jüdischen und der christlichen Tradition. Sie ist ein Grundbestand unserer Kultur. Ohne diesen Glauben würden wir uns selbst verraten, unsere Identität aufgeben. Das ist nun nicht etwas, was wir uns stolz wie einen Orden an die Brust heften können, mit dem wir unsere kulturelle Überlegenheit demonstrieren könnten. Es ist viel mehr Auftrag und Berufung, aber auch unverbrüchliche Zusage Gottes an alle, die sich um Menschlichkeit und Güte bemühen, die das Kleine nicht verachten, die sensibel und mitfühlend sind und sich nicht gegen andere durchsetzen wollen.
Das gilt umso mehr, als die Geschichte Jesu von der Heiligen Nacht bis zu seiner Auferstehung und Himmelfahrt keine sichtbare Erfolgsgeschichte ist. War bei David die Kindheit als Hirtenjunge aus dem kleinen und unbedeutenden Bethlehem noch der Anfang späterer Grösse und Königsmacht, so ist aus dem Kind im Stall nicht mehr als ein umstrittener Wanderprediger geworden, den sie als Aufrührer ans Kreuz geschlagen haben. In dieser Geschichte bleibt das Kleine klein und doch geht von ihm eine Grösse aus, eine sanfte Macht, die Frieden schaffen kann, eine Botschaft der Menschlichkeit, die weiterwirkt. Gott erwählt das Kleine nicht zu äusserlich sichtbarer Grösse und Herrlichkeit, sondern zur Menschlichkeit, zur Versöhnung mit der eigenen Geschichte, zum Glauben, dass unsere Geschichte eine Geschichte mit Gott ist, dass Gott jedem einzelnen von uns nahe ist.
Weihnachten ist das Fest der grossen Gefühle und wir sollten uns dagegen wehren, diese grossen Gefühle lächerlich zu machen. Ohne die Sehnsucht nach himmlischem Frieden, nach Harmonie und Verständnis wären wir gewiss ärmer. Wir dürfen diese grossen Gefühle wahrnehmen, es geniessen, wenn etwas davon einströmt in unsere weihnachtliche Festlichkeit. Und was uns hilft, solche Harmonie zu empfinden, das sollten wir nicht verachten, weder die alten Lieder und Geschichten, noch die Geschenke, den festlich gedeckten Tisch, die Familienbesuche. Nur frei machen sollten wir uns von dem Druck, all das machen zu müssen, so empfinden zu müssen. Weihnachten unterbricht unseren Alltag, aber es hebt ihn nicht einfach auf. Auch an Weihnachten müssen Menschen leben mit Krankheit, mit der Ungewissheit einer lebensbedrohlichen Diagnose, oder einer bevorstehenden Operation. Auch an Weihnachten kriselt es in Ehen, machen Menschen einander das Leben schwer. Auch an Weihnachten gibt es Krieg und Gewalt, auch wenn manchmal – aber längst nicht immer - zumindest an diesen Tagen die Waffen ruhen. Auch an Weihnachten sind Menschen einsam, weil sie am Rand der Gesellschaft stehen. Und gerade an Weihnachten empfinden wir besonders schmerzlich, wenn der Tod uns einen lieben Menschen genommen hat.
„Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein grosses Licht und denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.“ So heisst es bei Jesaja. Und bei Micha: „Er wird weiden in der Kraft des Herrn und sie werden sicher wohnen.“ Dieses Licht, diese gute Nachricht lässt sich nicht erzwingen oder aufdrängen. Vielleicht aber leuchtet im Herzen eines Trauernden auf, was er an dem verstorbenen Menschen gehabt hat und es tröstet ihn über den Verlust und lässt ihn die Kraft finden, den Blick auch wieder nach vorne zu richten. Vielleicht kann dieses Licht im Herzen eines Kranken aufleuchten und ihm das Gefühl geben, dass es sich lohnt zu kämpfen, sich zu freuen über die Menschen, die für ihn da sind, zu vertrauen auf die Gegenwart Gottes auch im Leid. Vielleicht kann es sogar helfen, sich mit dem eignen Sterben zu versöhnen. Vielleicht kann dieses Licht der Weihnacht Menschen miteinander versöhnen oder doch den Schmerz über das, was zerbrochen ist, wahrzunehmen, ohne allein den anderen dafür verantwortlich zu machen. Vielleicht kann das Licht der Weihnachten Menschen die Gewissheit schenken, dass sie wichtig sind, dass sie dazugehören, dass es auch auf sie ankommt. An uns selber ist es, wahrzunehmen, wo wir das weihnachtliche Licht nötig haben. Erzwingen können wir es nicht, aber aufmerksam dafür sein und empfänglich, indem wir nicht das grosse vollkommene Glück erwarten, sondern die kleinen Zeichen, die unscheinbaren Dinge beachten. Gott schafft uns nicht eine vollkommene und heile Welt. Aber er will uns helfen, dass wir in den Bruchstücken unseres Lebens, dass wir in unserer Geschichte heimisch werden und sicher wohnen können. Es kommt nicht darauf an ein anderer zu werden, sondern der andere zu sein, der wir in Gottes Augen schon sind, sein geliebtes Kind. Denn er erwählt das Kleine, uns Kleine. Und niemand ist zu klein um Menschlichkeit zu erfahren und andere Menschlichkeit erfahren zu lassen.
Wenn wir Weihnachten feiern, dann spüren wir hoffentlich etwas von dieser Sehnsucht nach Frieden, die in uns steckt, von dem Bedürfnis, zuhause zu sein in unserem Leben, sich versöhnen zu können mit der eigenen Geschichte und hoffentlich können wir glauben, dass Gott das Kleine und Zerbrechliche erwählt und auch uns seine Nähe zuspricht. Und er ermutigt uns, die vielen Gelegenheiten zur Menschlichkeit zu erkennen und sie zu ergreifen. Amen.
Freitag, 24. Dezember 2010
Predigt zu Luk 2,1-20 und Joh 3,16f. am 24. Dezember 2010 (Christnachtfeier)
Liebe Gemeinde,
wir Menschen sehnen uns danach, dass unser Leben Bedeutung hat und wir mehr sind als eine Nummer. Wir sehnen uns danach, angesehen zu werden, geliebt zu werden und möchten nicht einfach austauschbar sein. Deshalb kann es uns auch verletzen, wenn jemand unseren Namen nicht mehr kennt oder sich an Persönliches nicht mehr erinnert, das wir ihm bei unserer letzten Begegnung erzählt haben. Und vielleicht reagieren wir in dieser Beziehung so verletzlich, weil wir in vielen Bereichen eben gerade erleben, dass Menschen austauschbar und ersetzbar sind. Gerade im Berufsleben sind Abläufe meist funktional durchorganisiert. Wenn jemand ausfällt, darf das System ja nicht zusammenbrechen, müssen die Abläufe weiter funktionieren. Bis zu einem gewissen Grad ist das unumgänglich. Umso wichtiger ist es aber, dass wir darauf achten, einander nicht nur als Funktionsträger wahrzunehmen und uns selbst und andere nicht nur über unsere Funktionen zu definieren - weder im beruflichen Alltag noch in unseren privaten Beziehungen. Wer sind wir, wenn wir aller Funktionen ledig sind, nackt und bloss wie das Kind in der Krippe?
Die biblische Weihnachtsgeschichte erzählt uns von der Geburt zu Bethlehem, von dem Kind in der Krippe. Sie erzählt uns: in diesem Kind in der Krippe sieht Gott uns an - nicht von oben, vom Himmel herab, sondern von unten, so dass wir uns zu ihm herabbeugen können. In dieser Geschichte geht es um das Heil in unserem Leben, das wir bei einem anderen suchen sollen, um das Heil und den Frieden, die nach der Botschaft der Bibel bei dem Kind in der Krippe von Bethlehem, bei dem Mann aus Nazareth zu finden sind. Es geht um die Urszene der Heiligen Nacht – Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegend. Diese Szene ist ein Stück Weltliteratur – gemessen an ihrer Wirkung durch die Jahrhunderte vielleicht sogar das grösste. Aber es bleibt die Frage: Stellt diese Urszene Menschen dar oder Denkmäler? Ist es eine Widerstandskraft gegen die Austauschbarkeit des Menschen, die Verlorenheit in einem Leben, das uns so undurchschaubar scheint? Oder doch nur Stoff für ein paar romantische Stunden im Jahr, denen dann wieder ein heilloser Alltag folgt? Es kommt darauf an, wie wir die Szene heute aufnehmen. Lukas jedenfalls hat einiges getan, damit sie nicht zum Denkmal wird. Er weiss darum, wie Menschen zu austauschbaren Objekten gemacht werden. Er benennt das römische Machtsystem, die Herrschaftsstrukturen mit dem Kaiser Augustus an der Spitze und einem System von Vasallen und Statthaltern darunter, von denen Cyrenius nur einer war, und denen es auf funktionierende Untertanen und nicht auf den einzelnen Menschen ankommt. Und der Anlass ist eine grosse Volkszählung, die Untertanen als zählbare Masse, an denen primär die Fähigkeit interessiert, Steuern und Abgaben zu entrichten. Josef und die hochschwangere Maria sind ein Teil dieser Masse, zu unbedeutend, zu wenig vermögend, um in einer der Herbergen der Stadt Unterkunft zu finden. Aber Lukas gibt ihnen ein Gesicht und eine Herberge in einem Stall. Dort lässt er das himmlische Kind das Licht der Welt erblicken, dort scheint das Heil der Welt auf. Wo alle Welt geschätzt werden sollte, da war dieses eine neugeborene Kind nicht von Bedeutung. Lukas aber richtet unseren Blick auf diesen einen, dieses austauschbare, verletzliche Menschenkind. Seine Geburt bringt die Engel zum singen, setzt die Hirten in Bewegung, lässt die Sehnsucht nach Frieden auf Erden neu lebendig werden. Bei Matthäus sind es sogar Weise, die von ferne her dem Stern folgen, um das Kind zu sehen. Und im Johannesevangelium heisst es: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.“ Diese Worte sind Teil von Jesu Antwort auf die Frage des Nikodemus, wie ein Mensch denn neu geboren werden könne, wenn er schon alt ist. Sie bedeuten für mich, dass wir neu geboren werden können, wenn wir spüren, dass wir angesehen und geliebt sind. Denn wer angesehen und geliebt ist, der ist nicht mehr einfach austauschbar. Wir dürfen darauf vertrauen, dass wir von Gott angesehen sind und wir können einander ansehen und so einander ein Gesicht geben.
Diese Worte und die Geschichte aus dem Stall von Bethlehem sind für mich Urbilder der Menschlichkeit, der Liebe und Güte unseres Gottes. Sie lehren uns die Auflehnung gegen alles, was die Menschen zu austauschbarem Krempel macht. In diesem einen Kind sagt uns Gott: Du bist mir wichtig, du mit allem was zu dir gehört, mit deinen Macken, mit dem was dich bedrückt, mit allem was dich glücklich macht. Die Weihnachtsgeschichte leugnet das schreckliche Gefühl der Austauschbarkeit von Menschen nicht, aber sie setzt ihm etwas entgegen, die Liebe Gottes, die in diesem verletzlichen Kind in der Krippe lebt, mitten unter uns und von dem ein Licht ausgeht, das auch in unser Herz hineinleuchten kann. Lukas setzt nicht der idealen Kleinfamilie ein Denkmal, sondern er lässt das Heil Gottes hineintreten in das Leben ganz normaler, scheinbar austauschbarer Menschen, in einen schäbigen Stall, in einem schutzbedürftigen Kind. Gerade darum ist Weihnachten das Fest der Menschlichkeit, der gefährdeten, zerbrechlichen Menschlichkeit, der göttlichen Würde jedes einzelnen Menschen.
Dieses Licht, das uns in der Weihnachtsgeschichte aufleuchtet, soll hineinstrahlen in unseren Alltag. Möge es denen leuchten, die vor einer gesundheitlich ungewissen Zukunft stehen, damit sie spüren, dass Gott bei ihnen ist und Menschen da sind, für die sie wichtig und unersetzbar sind. Möge es denen leuchten, die sich abgeschoben und überflüssig vorkommen, damit sie erkennen, dass sie wertvoll sind. Möge es denen leuchten, die trauern um einen Freundschaft oder Partnerschaft, damit sie auch im Scheitern noch erkennen, dass der Schmerz und die Wut auch ein Zeichen dafür sind, dass Menschen nicht einfach ersetzbar sind. Möge es uns allen leuchten, da wo wir uns klein und austauschbar fühlen, damit wir wahrnehmen, wie wichtig wir füreinander, wie wichtig wir für Gott sind. Da wo wir menschlich handeln, wie unvollkommen auch immer, da wo wir einander menschlich begegnen, aneinander Anteil nehmen und einander spüren lassen, dass der andere zählt, da wird es Weihnachten, da stimmen die Engel ihren Lobgesang an: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen, an denen Gott Wohlgefallen hat“. Amen.
wir Menschen sehnen uns danach, dass unser Leben Bedeutung hat und wir mehr sind als eine Nummer. Wir sehnen uns danach, angesehen zu werden, geliebt zu werden und möchten nicht einfach austauschbar sein. Deshalb kann es uns auch verletzen, wenn jemand unseren Namen nicht mehr kennt oder sich an Persönliches nicht mehr erinnert, das wir ihm bei unserer letzten Begegnung erzählt haben. Und vielleicht reagieren wir in dieser Beziehung so verletzlich, weil wir in vielen Bereichen eben gerade erleben, dass Menschen austauschbar und ersetzbar sind. Gerade im Berufsleben sind Abläufe meist funktional durchorganisiert. Wenn jemand ausfällt, darf das System ja nicht zusammenbrechen, müssen die Abläufe weiter funktionieren. Bis zu einem gewissen Grad ist das unumgänglich. Umso wichtiger ist es aber, dass wir darauf achten, einander nicht nur als Funktionsträger wahrzunehmen und uns selbst und andere nicht nur über unsere Funktionen zu definieren - weder im beruflichen Alltag noch in unseren privaten Beziehungen. Wer sind wir, wenn wir aller Funktionen ledig sind, nackt und bloss wie das Kind in der Krippe?
Die biblische Weihnachtsgeschichte erzählt uns von der Geburt zu Bethlehem, von dem Kind in der Krippe. Sie erzählt uns: in diesem Kind in der Krippe sieht Gott uns an - nicht von oben, vom Himmel herab, sondern von unten, so dass wir uns zu ihm herabbeugen können. In dieser Geschichte geht es um das Heil in unserem Leben, das wir bei einem anderen suchen sollen, um das Heil und den Frieden, die nach der Botschaft der Bibel bei dem Kind in der Krippe von Bethlehem, bei dem Mann aus Nazareth zu finden sind. Es geht um die Urszene der Heiligen Nacht – Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegend. Diese Szene ist ein Stück Weltliteratur – gemessen an ihrer Wirkung durch die Jahrhunderte vielleicht sogar das grösste. Aber es bleibt die Frage: Stellt diese Urszene Menschen dar oder Denkmäler? Ist es eine Widerstandskraft gegen die Austauschbarkeit des Menschen, die Verlorenheit in einem Leben, das uns so undurchschaubar scheint? Oder doch nur Stoff für ein paar romantische Stunden im Jahr, denen dann wieder ein heilloser Alltag folgt? Es kommt darauf an, wie wir die Szene heute aufnehmen. Lukas jedenfalls hat einiges getan, damit sie nicht zum Denkmal wird. Er weiss darum, wie Menschen zu austauschbaren Objekten gemacht werden. Er benennt das römische Machtsystem, die Herrschaftsstrukturen mit dem Kaiser Augustus an der Spitze und einem System von Vasallen und Statthaltern darunter, von denen Cyrenius nur einer war, und denen es auf funktionierende Untertanen und nicht auf den einzelnen Menschen ankommt. Und der Anlass ist eine grosse Volkszählung, die Untertanen als zählbare Masse, an denen primär die Fähigkeit interessiert, Steuern und Abgaben zu entrichten. Josef und die hochschwangere Maria sind ein Teil dieser Masse, zu unbedeutend, zu wenig vermögend, um in einer der Herbergen der Stadt Unterkunft zu finden. Aber Lukas gibt ihnen ein Gesicht und eine Herberge in einem Stall. Dort lässt er das himmlische Kind das Licht der Welt erblicken, dort scheint das Heil der Welt auf. Wo alle Welt geschätzt werden sollte, da war dieses eine neugeborene Kind nicht von Bedeutung. Lukas aber richtet unseren Blick auf diesen einen, dieses austauschbare, verletzliche Menschenkind. Seine Geburt bringt die Engel zum singen, setzt die Hirten in Bewegung, lässt die Sehnsucht nach Frieden auf Erden neu lebendig werden. Bei Matthäus sind es sogar Weise, die von ferne her dem Stern folgen, um das Kind zu sehen. Und im Johannesevangelium heisst es: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.“ Diese Worte sind Teil von Jesu Antwort auf die Frage des Nikodemus, wie ein Mensch denn neu geboren werden könne, wenn er schon alt ist. Sie bedeuten für mich, dass wir neu geboren werden können, wenn wir spüren, dass wir angesehen und geliebt sind. Denn wer angesehen und geliebt ist, der ist nicht mehr einfach austauschbar. Wir dürfen darauf vertrauen, dass wir von Gott angesehen sind und wir können einander ansehen und so einander ein Gesicht geben.
Diese Worte und die Geschichte aus dem Stall von Bethlehem sind für mich Urbilder der Menschlichkeit, der Liebe und Güte unseres Gottes. Sie lehren uns die Auflehnung gegen alles, was die Menschen zu austauschbarem Krempel macht. In diesem einen Kind sagt uns Gott: Du bist mir wichtig, du mit allem was zu dir gehört, mit deinen Macken, mit dem was dich bedrückt, mit allem was dich glücklich macht. Die Weihnachtsgeschichte leugnet das schreckliche Gefühl der Austauschbarkeit von Menschen nicht, aber sie setzt ihm etwas entgegen, die Liebe Gottes, die in diesem verletzlichen Kind in der Krippe lebt, mitten unter uns und von dem ein Licht ausgeht, das auch in unser Herz hineinleuchten kann. Lukas setzt nicht der idealen Kleinfamilie ein Denkmal, sondern er lässt das Heil Gottes hineintreten in das Leben ganz normaler, scheinbar austauschbarer Menschen, in einen schäbigen Stall, in einem schutzbedürftigen Kind. Gerade darum ist Weihnachten das Fest der Menschlichkeit, der gefährdeten, zerbrechlichen Menschlichkeit, der göttlichen Würde jedes einzelnen Menschen.
Dieses Licht, das uns in der Weihnachtsgeschichte aufleuchtet, soll hineinstrahlen in unseren Alltag. Möge es denen leuchten, die vor einer gesundheitlich ungewissen Zukunft stehen, damit sie spüren, dass Gott bei ihnen ist und Menschen da sind, für die sie wichtig und unersetzbar sind. Möge es denen leuchten, die sich abgeschoben und überflüssig vorkommen, damit sie erkennen, dass sie wertvoll sind. Möge es denen leuchten, die trauern um einen Freundschaft oder Partnerschaft, damit sie auch im Scheitern noch erkennen, dass der Schmerz und die Wut auch ein Zeichen dafür sind, dass Menschen nicht einfach ersetzbar sind. Möge es uns allen leuchten, da wo wir uns klein und austauschbar fühlen, damit wir wahrnehmen, wie wichtig wir füreinander, wie wichtig wir für Gott sind. Da wo wir menschlich handeln, wie unvollkommen auch immer, da wo wir einander menschlich begegnen, aneinander Anteil nehmen und einander spüren lassen, dass der andere zählt, da wird es Weihnachten, da stimmen die Engel ihren Lobgesang an: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen, an denen Gott Wohlgefallen hat“. Amen.
Samstag, 11. Dezember 2010
Predigt zu Luk 1,26-33.38 am 12. Dezember 2010
Liebe Gemeinde,
wie oft ist diese biblische Szene aus dem Lukasevangelium in der Kunst dargestellt worden: der Engel Gabriel kündigt Maria die Geburt Jesu an. Viele Künstler hat die Verkündigungsszene zu Bildern von bezaubernder Schönheit und anrührender Zärtlichkeit inspiriert. Es ist eine berührende Szene, eine Szene, die sich nicht in der Öffentlichkeit, sondern in der Kammer eines jungen Mädchens abspielt. Nur sie und der Engel sind beteiligt – aber für Lukas kündigt sich in dieser intimen Szene, in dieser Stille und Abgeschiedenheit etwas an, was die Welt verändern und prägen wird. Hier wird intoniert, was der Engel dann den Hirten auf den Feldern von Bethlehem verkündet: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch grosse Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist heute der Heiland geboren.“ Hier beginnt, was die Engelchöre jubilieren lässt: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“
In der Verkündigungsszene geht es nicht nur um die Botschaft, die damals Maria sich zu Herzen genommen hat. Sie ist überliefert und in der Kunst tradiert worden, weil sie auch für uns eine existentielle Botschaft trägt. Mit Blick auf die Weihnachtsgeschichte hat das der Mystiker Angelus Silesius einmal wunderbar formuliert: "Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren // und nicht in dir; du bleibst noch ewiglich verlorn." Es geht nicht allein darum, was damals zwischen Nazareth und Bethlehem geschah. Maria ist unsere Schwester im Glauben und der Engel redet auch zu uns. Welche Botschaft hat er uns zu sagen? Was sagt er uns, wenn wir spüren, dass die Routinen unseres Alltags uns manchmal abstumpfen lassen und uns alle Lebendigkeit und Kraft nehmen? Womit richtet er uns auf, wenn wir traurig oder gar verzweifelt sind? Was vernehmen wir, wenn wir den Weg nicht mehr sehen und in Sackgassen gefangen sind? Welche Worte ermutigen uns, wenn wir uns nur wenig zutrauen oder wenn wir gebeugt sind durch schwere Lasten oder auch durch Fehler und Schuld? Können wir dann wie Maria den Besuch des Engels wahrnehmen, und uns aufmerksam machen lassen auf das, was in uns geboren werden will, auf das Heilsame und Tröstende, das in unseren Herzen heranwächst? Haben wir Augen und Ohren für die Menschen, die Gott uns dann als seine Engel sendet, um uns zu trösten, aufzurichten, vielleicht auch zur besinnung zu bringen?
So ist das erste, was ich aus dieser Geschichte mitnehme, eine Einladung zur Achtsamkeit. Achte auf die Botinnen und Boten Gottes in deinem Leben. Gott sendet seine Boten. Sie reden zu uns, in unseren Träumen, durch die innere Klarheit, die in uns wächst und vor allem auch durch die Menschen, die uns begegnen, durch alltägliche Ereignisse, die uns berühren und verändern. Achtsam sein auf die guten, die klärenden Worte, die uns gesagt sind – darauf kommt es an, und es müssen beileibe keine Männer mit Flügeln sein, die Engel. Aber die Engel Gottes begleiten auch uns – jede und jeden und sie haben uns viel zu sagen. Sie können uns die Furcht nehmen. Ja, es fällt mir immer wieder auf, dass der häufigste Satz aus Engelmund in der Bibel lautet: „Fürchte dich nicht!“ Und wer von uns hätte das nicht immer wieder nötig, dass da einer sagt: Hab keine Angst, Gott ist bei dir und er meint es gut mit dir. Die Engel können uns helfen, das Gute in unserem Leben zu entdecken, sie können uns zeigen, was in uns und durch uns neu geboren wird. Das erste ist die Achtsamkeit, damit wir die Engel, die Gott uns sendet, nicht übersehen.
Das Zweite aber ist die demütige und zugleich selbstbewusste Haltung der Maria. Was hat man alles auf dem Rücken dieser Frau abgeladen. Wie hat man sie zum Streitthema der Konfessionen gemacht. Aber wir brauchen Maria nicht als ewige Jungfrau und Himmelskönigin, als Madonna, der nach und nach alle menschlichen und fehlerhaften Züge genommen wurden. Wichtiger für uns, denke ich, ist, was uns mit ihr verbinden kann. Maria, unsere Schwester im Glauben, nimmt den Engel, der in ihr Leben tritt, wahr. Sie übersieht ihn nicht. Sie nimmt seine Botschaft ernst, auch wenn sie noch so unglaublich scheinen mag. Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Das lässt sie sich gesagt sein. Mir geschehe nach deinem Wort. Sie nimmt den Weg an, den Gott sie führt. Sie macht ihn zu ihrem eigenen Weg, den sie selbstbewusst geht.
Lassen wir uns nicht in die Irre führen von den Worten „siehe, ich bin des Herrn Magd“. Maria ist nicht unterwürfig. Ich sehe sie eher als starke Frau. Sie stellt sich unter den Willen Gottes, gewiss. Aber sie tut das nicht gebeugt, sondern in aufrechter Haltung. Ja, sie will diesem Kind das Leben schenken, das Gottes Sohn genannt werden soll. Sie nimmt diese schier unglaubliche Berufung an. Das ist für mich die zweite wichtige Botschaft dieser Szene. Wer sich unter den Willen Gottes stellt, der kann sein Schicksal annehmen. Der muss nicht beständig gegen sein Schicksal rebellieren und irgendwelchen Träumen hinterher rennen, aber der muss auch nicht gebeugt unter der Last des Schicksals gehen. Wenn ich meinen Weg als Weg Gottes verstehen kann, dann darf ich auch glauben, dass Gott auf diesem Weg etwas mit mir vorhat, dass er mir etwas zutraut und dass dieser Weg mit all seinen Umwegen und Irrwegen ein lebenswerter, ein sinnvoller Weg ist. Und darum darf ich ihn auch aufrecht gehen. Denn Demut gegenüber Gottes Weisheit verträgt sich sehr wohl mit einem aufrechten Gang. Maria, die starke, aufrechte und zugleich demütige Frau kann uns ein Vorbild sein, besonders für Frauen, aber nicht nur für sie, weil sie uns lehrt, einen Weg zu gehen, der vielleicht oft nicht einfach ist, der aber doch heilvoll und segensreich ist, wenn wir den Segen, den Gott uns auf diesem Weg schenkt, auch wahrnehmen.
Das dritte, was mir an dieser Szene wichtig ist, das ist das Kind. Dieses Kind ist mehr als ein besonderer Mensch. Darum betont Lukas die Vaterschaft Gottes, die natürlich nicht biologisch gemeint ist, ebenso wie die Jungfrauengeburt keine biologische, sondern eine theologische Aussage ist. In diesem Kind kommt Gott selbst zu uns. In diesem Kind wird Gott ganz menschlich. In diesem Kind erweist Gott seine Liebe zu allen Menschen. Gott will unser Heil und unser Leben, darum kommt er selbst zu uns. Dieses Geheimnis feiern wir in der Heiligen Nacht. Das ist der Kern von Weihnachten, die Friedensbotschaft auf den Feldern in Bethlehem, das verletzliche Kind in der Krippe, von dem ein helles Licht ausgeht. Dieses Licht, diese Friedensbotschaft will in uns und unter uns zur Welt kommen, will heute neu geboren werden, in Menschen, die ihr Glauben schenken, die das Licht weiter tragen, den Frieden suchen mit sich selbst und untereinander. Ich wünsche ihnen allen ein lichtes und friedvolles Weihnachtsfest, Engel, die ihnen unterwegs begegnen und die Kraft, auf ihrem persönlichen Weg die göttliche Berufung, den göttlichen Segen zu erkennen. Amen.
wie oft ist diese biblische Szene aus dem Lukasevangelium in der Kunst dargestellt worden: der Engel Gabriel kündigt Maria die Geburt Jesu an. Viele Künstler hat die Verkündigungsszene zu Bildern von bezaubernder Schönheit und anrührender Zärtlichkeit inspiriert. Es ist eine berührende Szene, eine Szene, die sich nicht in der Öffentlichkeit, sondern in der Kammer eines jungen Mädchens abspielt. Nur sie und der Engel sind beteiligt – aber für Lukas kündigt sich in dieser intimen Szene, in dieser Stille und Abgeschiedenheit etwas an, was die Welt verändern und prägen wird. Hier wird intoniert, was der Engel dann den Hirten auf den Feldern von Bethlehem verkündet: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch grosse Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist heute der Heiland geboren.“ Hier beginnt, was die Engelchöre jubilieren lässt: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“
In der Verkündigungsszene geht es nicht nur um die Botschaft, die damals Maria sich zu Herzen genommen hat. Sie ist überliefert und in der Kunst tradiert worden, weil sie auch für uns eine existentielle Botschaft trägt. Mit Blick auf die Weihnachtsgeschichte hat das der Mystiker Angelus Silesius einmal wunderbar formuliert: "Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren // und nicht in dir; du bleibst noch ewiglich verlorn." Es geht nicht allein darum, was damals zwischen Nazareth und Bethlehem geschah. Maria ist unsere Schwester im Glauben und der Engel redet auch zu uns. Welche Botschaft hat er uns zu sagen? Was sagt er uns, wenn wir spüren, dass die Routinen unseres Alltags uns manchmal abstumpfen lassen und uns alle Lebendigkeit und Kraft nehmen? Womit richtet er uns auf, wenn wir traurig oder gar verzweifelt sind? Was vernehmen wir, wenn wir den Weg nicht mehr sehen und in Sackgassen gefangen sind? Welche Worte ermutigen uns, wenn wir uns nur wenig zutrauen oder wenn wir gebeugt sind durch schwere Lasten oder auch durch Fehler und Schuld? Können wir dann wie Maria den Besuch des Engels wahrnehmen, und uns aufmerksam machen lassen auf das, was in uns geboren werden will, auf das Heilsame und Tröstende, das in unseren Herzen heranwächst? Haben wir Augen und Ohren für die Menschen, die Gott uns dann als seine Engel sendet, um uns zu trösten, aufzurichten, vielleicht auch zur besinnung zu bringen?
So ist das erste, was ich aus dieser Geschichte mitnehme, eine Einladung zur Achtsamkeit. Achte auf die Botinnen und Boten Gottes in deinem Leben. Gott sendet seine Boten. Sie reden zu uns, in unseren Träumen, durch die innere Klarheit, die in uns wächst und vor allem auch durch die Menschen, die uns begegnen, durch alltägliche Ereignisse, die uns berühren und verändern. Achtsam sein auf die guten, die klärenden Worte, die uns gesagt sind – darauf kommt es an, und es müssen beileibe keine Männer mit Flügeln sein, die Engel. Aber die Engel Gottes begleiten auch uns – jede und jeden und sie haben uns viel zu sagen. Sie können uns die Furcht nehmen. Ja, es fällt mir immer wieder auf, dass der häufigste Satz aus Engelmund in der Bibel lautet: „Fürchte dich nicht!“ Und wer von uns hätte das nicht immer wieder nötig, dass da einer sagt: Hab keine Angst, Gott ist bei dir und er meint es gut mit dir. Die Engel können uns helfen, das Gute in unserem Leben zu entdecken, sie können uns zeigen, was in uns und durch uns neu geboren wird. Das erste ist die Achtsamkeit, damit wir die Engel, die Gott uns sendet, nicht übersehen.
Das Zweite aber ist die demütige und zugleich selbstbewusste Haltung der Maria. Was hat man alles auf dem Rücken dieser Frau abgeladen. Wie hat man sie zum Streitthema der Konfessionen gemacht. Aber wir brauchen Maria nicht als ewige Jungfrau und Himmelskönigin, als Madonna, der nach und nach alle menschlichen und fehlerhaften Züge genommen wurden. Wichtiger für uns, denke ich, ist, was uns mit ihr verbinden kann. Maria, unsere Schwester im Glauben, nimmt den Engel, der in ihr Leben tritt, wahr. Sie übersieht ihn nicht. Sie nimmt seine Botschaft ernst, auch wenn sie noch so unglaublich scheinen mag. Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Das lässt sie sich gesagt sein. Mir geschehe nach deinem Wort. Sie nimmt den Weg an, den Gott sie führt. Sie macht ihn zu ihrem eigenen Weg, den sie selbstbewusst geht.
Lassen wir uns nicht in die Irre führen von den Worten „siehe, ich bin des Herrn Magd“. Maria ist nicht unterwürfig. Ich sehe sie eher als starke Frau. Sie stellt sich unter den Willen Gottes, gewiss. Aber sie tut das nicht gebeugt, sondern in aufrechter Haltung. Ja, sie will diesem Kind das Leben schenken, das Gottes Sohn genannt werden soll. Sie nimmt diese schier unglaubliche Berufung an. Das ist für mich die zweite wichtige Botschaft dieser Szene. Wer sich unter den Willen Gottes stellt, der kann sein Schicksal annehmen. Der muss nicht beständig gegen sein Schicksal rebellieren und irgendwelchen Träumen hinterher rennen, aber der muss auch nicht gebeugt unter der Last des Schicksals gehen. Wenn ich meinen Weg als Weg Gottes verstehen kann, dann darf ich auch glauben, dass Gott auf diesem Weg etwas mit mir vorhat, dass er mir etwas zutraut und dass dieser Weg mit all seinen Umwegen und Irrwegen ein lebenswerter, ein sinnvoller Weg ist. Und darum darf ich ihn auch aufrecht gehen. Denn Demut gegenüber Gottes Weisheit verträgt sich sehr wohl mit einem aufrechten Gang. Maria, die starke, aufrechte und zugleich demütige Frau kann uns ein Vorbild sein, besonders für Frauen, aber nicht nur für sie, weil sie uns lehrt, einen Weg zu gehen, der vielleicht oft nicht einfach ist, der aber doch heilvoll und segensreich ist, wenn wir den Segen, den Gott uns auf diesem Weg schenkt, auch wahrnehmen.
Das dritte, was mir an dieser Szene wichtig ist, das ist das Kind. Dieses Kind ist mehr als ein besonderer Mensch. Darum betont Lukas die Vaterschaft Gottes, die natürlich nicht biologisch gemeint ist, ebenso wie die Jungfrauengeburt keine biologische, sondern eine theologische Aussage ist. In diesem Kind kommt Gott selbst zu uns. In diesem Kind wird Gott ganz menschlich. In diesem Kind erweist Gott seine Liebe zu allen Menschen. Gott will unser Heil und unser Leben, darum kommt er selbst zu uns. Dieses Geheimnis feiern wir in der Heiligen Nacht. Das ist der Kern von Weihnachten, die Friedensbotschaft auf den Feldern in Bethlehem, das verletzliche Kind in der Krippe, von dem ein helles Licht ausgeht. Dieses Licht, diese Friedensbotschaft will in uns und unter uns zur Welt kommen, will heute neu geboren werden, in Menschen, die ihr Glauben schenken, die das Licht weiter tragen, den Frieden suchen mit sich selbst und untereinander. Ich wünsche ihnen allen ein lichtes und friedvolles Weihnachtsfest, Engel, die ihnen unterwegs begegnen und die Kraft, auf ihrem persönlichen Weg die göttliche Berufung, den göttlichen Segen zu erkennen. Amen.
Samstag, 4. Dezember 2010
Predigt zum Adventslied "O Heiland reiss die Himmel auf" am 5. Dezember 2010
„Mit brennender Geduld“ heisst ein Roman des chilenischen Schriftstellers Antonio Skarmeta, in dem er dem Dichter Pablo Neruda und dessen Postboten ein Denkmal setzt. Ich habe den Roman nicht gelesen, aber den Titel finde ich wunderbar - und wunderbar passend zu unserem Adventslied „O Heiland reiss die Himmel auf“, das uns der Chor gerade in der Vertonung von Johannes Brahms gesungen hat.
Dieses Adventslied ist anders als die meisten anderen. Es fehlt ihm der freudig-gewisse Klang eines „Macht hoch die Tür“, der bescheiden-demütige Ton von „Wie soll ich dich empfangen“ oder das beschreibende Lob von „Nun komm, der Heiden Heiland“, das wir am Ende unseres Gottesdienstes singen werden. Und es ist auch so ganz anders wie der Lutherchoral „Gelobet seist du Jesus Christ“, den wir nachher im Wechsel mit dem Chor noch singen werden und in dem ja auch vom Jammertal die Rede ist, aus dem der Sohn uns herausführt.
Was dieses Adventslied in meinen Augen von den meisten anderen unterscheidet, das sind die vielen O’s und Ach’s, dieser drängende, fast ungeduldige Ton. Da beschreibt nicht einer selbstsicher und in tiefer Gewissheit, was Gott für uns tut, sondern sehnt herbei, dass Gott endlich handelt. Nicht öffnen soll er den Himmel, sondern aufreissen; nicht herabkommen, sondern herablaufen. Der Tau soll nicht vom Himmel träufeln, sondern fliessen. Darf man den Heiland so bedrängen? So möchte man fast fragen.
Der Text dieses Adventsliedes ist im Jahr 1622 entstanden. Es waren die Anfangsjahre des 30-jährigen Krieges. Geschrieben hat es der Jesuitenpater Friedrich Spee. Er hat nicht nur die Schrecken dieses Krieges erlebt, er hat auch als Beichtvater den Hexenwahn miterlebt und schon früh begriffen, wie ausweglos die Situation für Frauen war, die der Hexerei beschuldigt wurden und denen Leugnen als Halsstarrigkeit und ein Geständnis als Anerkennung ihrer Schuld ausgelegt wurde. Spee hat gegen den Hexenwahn gekämpft. Und er wurde dafür selbst zu einem Opfer der Verfolgung. Er wurde ins Kriegsgebiet nach Trier geschickt, wo er bei der Pflege der Kranken und Verletzten an einer Seuche starb. Das war 1635. Spee war 44 Jahre alt.
Ja, so drängend bitten und sehnsuchtsvoll erwarten kann vermutlich nur jemand, der sich vom Leid und von der Ungerechtigkeit anrühren lässt, dem es keine Ruhe lässt, dass die Dinge sind, wie sie nun einmal sind und der von seinem Gott noch etwas erwartet. In diesem drängenden Bitten verbindet sich eine tiefe Menschlichkeit mit einem ebenso tiefen Glauben. Und genau das ist für mich das Beeindruckende und Ermutigende an diesem Adventslied und an Friedrich Spee.
In diesem drängenden Bitten höre ich aber auch eine wichtige Anfrage an uns. Sind wir nicht oft viel zu nüchtern und abgeklärt? Wir kennen die Sachzwänge und beherrschen die Kunst des Möglichen. Wir finden uns ab und suchen gute Gründe. Wir sind bescheiden und erwarten nicht zuviel. Wir haben gelernt, dass sich manche Dinge eben nicht ändern lassen, warum wir nicht viel machen können, wenn Menschen verhungern oder von unserem Wohlstand ausgeschlossen sind. Wir rechnen nicht mehr mit Gott in unserem durchorganisierten Leben - oder wenn, dann benutzen wir ihn zum Auffüllen unserer Defizite und der Lücken unseres Weltgebäudes oder zur Abgrenzung von den Andersgläubigen oder den Ungläubigen. Was erwarten wir eigentlich vom Leben, von Gott? Welche Sehnsüchte erfüllen uns? Was ist uns so wichtig, dass es uns in unserem Innersten berührt und mit brennender Geduld erfüllt? Gibt es in unserem Leben etwas, das uns dazu drängt zu rufen: O Heiland reiss die Himmel auf? Wenn wir immer nur mit dem Möglichen rechnen, haben wir vermutlich vom Advent noch wenig begriffen.
Ruhe und Abgeklärtheit sind im Leben gewiss wertvolle Qualitäten und es gibt wohl für jedes von uns Momente, wo wir uns mehr davon wünschen. Aber - und daran erinnert uns das Adventslied „O Heiland reiss die Himmel auf“ - die vorwärtsdrängende Sehnsucht, das erwartungsvolle Hoffen und das hoffnungsvolle Erwarten sind ebenso wichtig. Und das Lied drückt diese Sehnsucht in wunderbaren, kräftigen poetischen Bildern aus, in Bildern, die alles andere sind als ein Weltverbesserungsprogramm, weil sie alles von Gott erwarten. In Bildern aber auch, die uns in Bewegung bringen, weil sie darauf hoffen und darum bitten, dass Gott uns in Bewegung bringt. Wenn Schloss und Riegel weg sind und der Himmel offen, dann sind wir frei, einzutreten und hinauszutreten in den weiten Raum des Lebens, das Gott uns schenkt. Gott öffnet uns diesen Raum und er stärkt uns den Rücken. Den Weg gehen aber müssen und dürfen wir selber. Wenn Tau und Regen vom Himmel fliessen, dann wird der Boden fruchtbar. Der Boden aber sind wir und es braucht unsere Bereitschaft, Neues wachsen zu lassen.
Wenn wir am liebsten hätten, dass alles so bleibt wie es ist, dann wird uns diese adventliche Sehnsucht fremd bleiben. Wenn wir nicht mehr erwarten als die Geschenke zum Fest (und ich will damit überhaupt nichts gegen Geschenke sagen), dann wird uns die Weihnachtsbotschaft ein Märchen aus uralten Zeiten bleiben. Wenn wir aber uns anstecken lassen von dieser adventlichen Sehnsucht, dann dürfen wir unseren Gott auch bedrängen, ihn herausfordern. Dann müssen wir nichts mehr verdrängen von unseren Sorgen und Ängsten. Dann müssen wir uns nicht abfinden mit dem, was anders werden muss. Sehnen wir uns nach dieser göttlichen Lebensenergie? Sind wir bereit, uns bewegen und überraschen zu lassen? Wollen wir uns berühren lassen und uns öffnen? Wollen wir leben mit brennender Geduld? Dann können die Worte dieses Adventslieds wirklich zu unseren eigenen werden, aus tiefstem Herzen gesungen:
O Heiland, reiss die Himmel auf,
herab, herab vom Himmel lauf,
reiss ab vom Himmel Tor und Tür,
reiss ab, wo Schloss und Riegel für.
O Gott, ein’ Tau vom Himmel giess,
im Tau herab, o Heiland, fliess.
Ihr Wolken, brecht und regnet aus
den König über Jakobs Haus.
O Erd, schlag aus, schlag aus, o Erd,
dass Berg und Tal grün alles werd.
O Erd, herfür dies Blümlein bring,
o Heiland, aus der Erden spring.
Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt,
Darauf sie all’ ihr’ Hoffnung stellt?
O komm, ach komm vom höchsten Saal,
Komm tröst uns hier im Jammertal.
O klare Sonn, du schöner Stern,
dich wollten wir anschauen gern;
o Sonn, geh auf, ohn deinen Schein
in Finsternis wir alle sein.
Wir dürfen Gott mehr zutrauen als unsere kleinen Wünsche und Pläne. Die überfliessende Fülle dieser Bilder erinnert uns an die göttliche Lebenskraft, die wir uns niemals selber geben können und die mehr und anders ist als unsere Träume. Advent ist die Zeit der Erwartung. Erwarten dürfen wir nicht weniger als das Kommen Gottes, den herabfliessenden Tau göttlichen Segens in unserem Leben. Erwarten dürfen wir mit brennender Geduld. Amen.
Dieses Adventslied ist anders als die meisten anderen. Es fehlt ihm der freudig-gewisse Klang eines „Macht hoch die Tür“, der bescheiden-demütige Ton von „Wie soll ich dich empfangen“ oder das beschreibende Lob von „Nun komm, der Heiden Heiland“, das wir am Ende unseres Gottesdienstes singen werden. Und es ist auch so ganz anders wie der Lutherchoral „Gelobet seist du Jesus Christ“, den wir nachher im Wechsel mit dem Chor noch singen werden und in dem ja auch vom Jammertal die Rede ist, aus dem der Sohn uns herausführt.
Was dieses Adventslied in meinen Augen von den meisten anderen unterscheidet, das sind die vielen O’s und Ach’s, dieser drängende, fast ungeduldige Ton. Da beschreibt nicht einer selbstsicher und in tiefer Gewissheit, was Gott für uns tut, sondern sehnt herbei, dass Gott endlich handelt. Nicht öffnen soll er den Himmel, sondern aufreissen; nicht herabkommen, sondern herablaufen. Der Tau soll nicht vom Himmel träufeln, sondern fliessen. Darf man den Heiland so bedrängen? So möchte man fast fragen.
Der Text dieses Adventsliedes ist im Jahr 1622 entstanden. Es waren die Anfangsjahre des 30-jährigen Krieges. Geschrieben hat es der Jesuitenpater Friedrich Spee. Er hat nicht nur die Schrecken dieses Krieges erlebt, er hat auch als Beichtvater den Hexenwahn miterlebt und schon früh begriffen, wie ausweglos die Situation für Frauen war, die der Hexerei beschuldigt wurden und denen Leugnen als Halsstarrigkeit und ein Geständnis als Anerkennung ihrer Schuld ausgelegt wurde. Spee hat gegen den Hexenwahn gekämpft. Und er wurde dafür selbst zu einem Opfer der Verfolgung. Er wurde ins Kriegsgebiet nach Trier geschickt, wo er bei der Pflege der Kranken und Verletzten an einer Seuche starb. Das war 1635. Spee war 44 Jahre alt.
Ja, so drängend bitten und sehnsuchtsvoll erwarten kann vermutlich nur jemand, der sich vom Leid und von der Ungerechtigkeit anrühren lässt, dem es keine Ruhe lässt, dass die Dinge sind, wie sie nun einmal sind und der von seinem Gott noch etwas erwartet. In diesem drängenden Bitten verbindet sich eine tiefe Menschlichkeit mit einem ebenso tiefen Glauben. Und genau das ist für mich das Beeindruckende und Ermutigende an diesem Adventslied und an Friedrich Spee.
In diesem drängenden Bitten höre ich aber auch eine wichtige Anfrage an uns. Sind wir nicht oft viel zu nüchtern und abgeklärt? Wir kennen die Sachzwänge und beherrschen die Kunst des Möglichen. Wir finden uns ab und suchen gute Gründe. Wir sind bescheiden und erwarten nicht zuviel. Wir haben gelernt, dass sich manche Dinge eben nicht ändern lassen, warum wir nicht viel machen können, wenn Menschen verhungern oder von unserem Wohlstand ausgeschlossen sind. Wir rechnen nicht mehr mit Gott in unserem durchorganisierten Leben - oder wenn, dann benutzen wir ihn zum Auffüllen unserer Defizite und der Lücken unseres Weltgebäudes oder zur Abgrenzung von den Andersgläubigen oder den Ungläubigen. Was erwarten wir eigentlich vom Leben, von Gott? Welche Sehnsüchte erfüllen uns? Was ist uns so wichtig, dass es uns in unserem Innersten berührt und mit brennender Geduld erfüllt? Gibt es in unserem Leben etwas, das uns dazu drängt zu rufen: O Heiland reiss die Himmel auf? Wenn wir immer nur mit dem Möglichen rechnen, haben wir vermutlich vom Advent noch wenig begriffen.
Ruhe und Abgeklärtheit sind im Leben gewiss wertvolle Qualitäten und es gibt wohl für jedes von uns Momente, wo wir uns mehr davon wünschen. Aber - und daran erinnert uns das Adventslied „O Heiland reiss die Himmel auf“ - die vorwärtsdrängende Sehnsucht, das erwartungsvolle Hoffen und das hoffnungsvolle Erwarten sind ebenso wichtig. Und das Lied drückt diese Sehnsucht in wunderbaren, kräftigen poetischen Bildern aus, in Bildern, die alles andere sind als ein Weltverbesserungsprogramm, weil sie alles von Gott erwarten. In Bildern aber auch, die uns in Bewegung bringen, weil sie darauf hoffen und darum bitten, dass Gott uns in Bewegung bringt. Wenn Schloss und Riegel weg sind und der Himmel offen, dann sind wir frei, einzutreten und hinauszutreten in den weiten Raum des Lebens, das Gott uns schenkt. Gott öffnet uns diesen Raum und er stärkt uns den Rücken. Den Weg gehen aber müssen und dürfen wir selber. Wenn Tau und Regen vom Himmel fliessen, dann wird der Boden fruchtbar. Der Boden aber sind wir und es braucht unsere Bereitschaft, Neues wachsen zu lassen.
Wenn wir am liebsten hätten, dass alles so bleibt wie es ist, dann wird uns diese adventliche Sehnsucht fremd bleiben. Wenn wir nicht mehr erwarten als die Geschenke zum Fest (und ich will damit überhaupt nichts gegen Geschenke sagen), dann wird uns die Weihnachtsbotschaft ein Märchen aus uralten Zeiten bleiben. Wenn wir aber uns anstecken lassen von dieser adventlichen Sehnsucht, dann dürfen wir unseren Gott auch bedrängen, ihn herausfordern. Dann müssen wir nichts mehr verdrängen von unseren Sorgen und Ängsten. Dann müssen wir uns nicht abfinden mit dem, was anders werden muss. Sehnen wir uns nach dieser göttlichen Lebensenergie? Sind wir bereit, uns bewegen und überraschen zu lassen? Wollen wir uns berühren lassen und uns öffnen? Wollen wir leben mit brennender Geduld? Dann können die Worte dieses Adventslieds wirklich zu unseren eigenen werden, aus tiefstem Herzen gesungen:
O Heiland, reiss die Himmel auf,
herab, herab vom Himmel lauf,
reiss ab vom Himmel Tor und Tür,
reiss ab, wo Schloss und Riegel für.
O Gott, ein’ Tau vom Himmel giess,
im Tau herab, o Heiland, fliess.
Ihr Wolken, brecht und regnet aus
den König über Jakobs Haus.
O Erd, schlag aus, schlag aus, o Erd,
dass Berg und Tal grün alles werd.
O Erd, herfür dies Blümlein bring,
o Heiland, aus der Erden spring.
Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt,
Darauf sie all’ ihr’ Hoffnung stellt?
O komm, ach komm vom höchsten Saal,
Komm tröst uns hier im Jammertal.
O klare Sonn, du schöner Stern,
dich wollten wir anschauen gern;
o Sonn, geh auf, ohn deinen Schein
in Finsternis wir alle sein.
Wir dürfen Gott mehr zutrauen als unsere kleinen Wünsche und Pläne. Die überfliessende Fülle dieser Bilder erinnert uns an die göttliche Lebenskraft, die wir uns niemals selber geben können und die mehr und anders ist als unsere Träume. Advent ist die Zeit der Erwartung. Erwarten dürfen wir nicht weniger als das Kommen Gottes, den herabfliessenden Tau göttlichen Segens in unserem Leben. Erwarten dürfen wir mit brennender Geduld. Amen.
Samstag, 20. November 2010
Predigt über Offenbarung 21,1-7 am Ewigkeitssonntag, 21 November 2010
Liebe Gemeinde,
heute ist der Toten- oder Ewigkeitssonntag. Viele von ihnen werden heute die Gräber ihrer Lieben besuchen, vielleicht auch eine Kerze aufs Grab stellen. Wir werden nachher im Gottesdienst die Namen der Verstorbenen unserer Kirchgemeinde aus dem zu Ende gegangenen Kirchenjahr verlesen und die Kerzen für sie anzünden, die die KonfirmandInnen für sie gestaltet haben.
„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde“ heisst es in der Offenbarung. „Und Gott selbst wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein und er wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Siehe, ich mache alles neu!“
Was für eine wunderbare und tröstliche Vision: eine neue Welt ohne Leid, ohne Tränen, ohne Tod. Eine Welt, in der alles, was hier zerbrochen und unvollendet bleibt, heil und ganz ist, wo aller Streit überwunden ist, alle Schuld vergeben, aller Hader und Groll abgelegt. Eine Welt, in der uns nicht mehr genommen wird, was uns so lieb und kostbar ist, wo Krankheit und Leid nicht mehr erbarmungslos zuschlagen. Eine Welt auch, in der Menschen einander nicht mehr Leid zufügen, wo niemand mehr das Leid anderer zur Schau stellen kann, wo die Gier nach Macht, der Hass, die Intoleranz, die Zerstörung im Namen vermeintlicher Ideale keinen Raum mehr haben. Eine wunderbare Vision – oder doch nur ein schöner Traum?
Können uns die Worte des heutigen Predigttextes ermutigen, aufrichten, Hoffnung machen, wenn Trauer und Verzweiflung uns überwältigen beim Abschied von einem lieben Menschen oder dann, wenn beim Abschied so vieles ungesagt und ungelöst bleibt? Können wir leben und uns trösten mit der Hoffnung auf den neuen Himmel und die neue Erde oder sind das für uns nur leere, belanglose Worte – eben nur ein schöner Traum angesichts unserer Trauer, zu schön um wahr zu sein?
Jedenfalls ist es eine Utopie, eine Utopie im eigentlichen Sinn des Wortes – etwas, das in dieser Welt keinen Ort hat, etwas das wir nicht durch unser Planen und Machen erreichen und verwirklichen können. Ein neuer Himmel und eine neue Erde. Kein Fortschritt, keine kontinuierliche Entwicklung, schon gar nicht die Überwindung von Leid, Krankheit und Tod durch medizinische Forschung. „Der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen“, heisst es in der Offenbarung. Es gibt keinen Weg von hier nach dort. Solange diese Erde besteht, werden Menschen ihre Toten beweinen, werden Krankheiten und Schicksalsschläge Menschen treffen, werden Menschen einander Leid zufügen, wird es Kriege, Hass, Neid und Gewalt geben. Diesen Realismus lehrt uns die Bibel – von Kain und Abel bis hin zu den bedrückenden Bildern der Offenbarung. Und der Tod mag zwar gerecht sein, weil, wie das Sprichwort sagt, das letzte Hemd keine Taschen hat, aber er ist furchtbar ungerecht in der Auswahl seiner Opfer und er ist fast immer ungerecht für den, dem ein lieber Mensch genommen wird. Aber – noch einmal – was kann uns dann die biblische Utopie vom neuen Himmel und der neuen Erde helfen, wenn sie doch nicht von dieser Welt ist?
Wenn einem die Decke auf den Kopf fällt, dann tut es gut, wenn man aus dem Haus geht, hinaus an die frische Luft. Wenn man sich in den immer gleichen ausweglosen Grübeleien verheddert, tut es gut, wenn jemand einem auf andere Gedanken bringt, die Dinge in ein anderes Licht rückt. Ich glaube, dass die Utopie des heutigen Predigttextes genau diese Funktion hat, frische Luft in das Haus unserer Trauer hineinzubringen, die lähmenden Gedanken, die uns plagen in das Licht einer anderen Wirklichkeit zu stellen. Stell dir vor wie das wäre: eine Welt ohne Leid und Tod. Stell dir vor, keine deiner Tränen ist vor Gott vergessen, er wird sie abwischen. Stell dir vor, der Tod, die Verzweiflung, die Trauer – sie haben nicht das letzte Wort. Jenseits dieser Grenze, die für uns so unwiderruflich, so bitter und schmerzhaft ist, da ist noch etwas, oder besser gesagt, da ist noch einer, der uns erwartet, der uns trägt, der uns tröstet und hält und dessen Liebe zu uns stärker ist als der Tod. Das dürfen wir hoffen, das dürfen wir glauben. Ob es uns die Trauer leichter macht? Ob es uns geschenkt ist, die Welt und unser Leben gerade auch in dunklen Stunden in diesem Licht einer neuen Welt zu sehen, das weiss Gott allein. Erzwingen können wir es nicht, nicht bei uns selbst und nicht bei anderen. Aber wenn Gott uns dieses Licht, diese Sicht schenkt, dann verändert sich etwas, dann kann der Dank für das Gewesene stärker werden als die Trauer über das Verlorene, dann können wir loslassen, den schmerzlichen Verlust, die unüberwindbare Grenze akzeptieren, weil jenseits dieser Grenze nicht das Nichts ist, sondern die grenzenlose Liebe Gottes. In diesem Licht können auch unausgeräumte Missverständnisse, Schuld, Groll oder Hader ihre lähmende Macht verlieren, weil wir uns dem anvertrauen können, der unser Leben heil und ganz macht – nicht in dieser Welt, nicht in diesem Leben, aber dann, wenn unser Leben heimkehrt zu Gott. Wo der neue Himmel und die neue Erde in unser Hoffen und Denken einziehen, da empfangen wir die Kraft zum Loslassen, da kann neue Hoffnung und neuer Lebensmut in unseren Herzen aufkeimen und wachsen.
Den Tod können wir nicht überwinden, wir können nicht einmal diesseits der Todesgrenze eine friedliche Welt schaffen, ja oft nicht einmal in unseren engsten Beziehungen. Aber im Licht des neuen Himmels und der neuen Erde, die Gott uns verheisst, können wir mit unseren Möglichkeiten Tränen abwischen, denen die Kummer haben, verständnisvoll zuhören, einander in den Arm nehmen und trösten. Wir können das Leid nicht überwinden, aber wir können einander helfen, Schweres zu tragen, auszuhalten und behutsam wieder neue Hoffnung zu wagen. Und das ist schon ungeheuer viel. Und wir können einander vergeben und verzeihen, können Vergangenes ruhen lassen, weil wir es in Gottes Hand legen dürfen.
Siehe, ich mache alles neu, sagt der auf dem Thron. Gott macht alles neu, nicht wir. Aber er tut es. Er schenkt uns hier und jetzt neue Kraft. Und er heilt und vollendet das Ganze unseres Lebens. Darauf hoffen wir. Daran glauben wir. Davon leben wir. Amen.
heute ist der Toten- oder Ewigkeitssonntag. Viele von ihnen werden heute die Gräber ihrer Lieben besuchen, vielleicht auch eine Kerze aufs Grab stellen. Wir werden nachher im Gottesdienst die Namen der Verstorbenen unserer Kirchgemeinde aus dem zu Ende gegangenen Kirchenjahr verlesen und die Kerzen für sie anzünden, die die KonfirmandInnen für sie gestaltet haben.
„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde“ heisst es in der Offenbarung. „Und Gott selbst wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein und er wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Siehe, ich mache alles neu!“
Was für eine wunderbare und tröstliche Vision: eine neue Welt ohne Leid, ohne Tränen, ohne Tod. Eine Welt, in der alles, was hier zerbrochen und unvollendet bleibt, heil und ganz ist, wo aller Streit überwunden ist, alle Schuld vergeben, aller Hader und Groll abgelegt. Eine Welt, in der uns nicht mehr genommen wird, was uns so lieb und kostbar ist, wo Krankheit und Leid nicht mehr erbarmungslos zuschlagen. Eine Welt auch, in der Menschen einander nicht mehr Leid zufügen, wo niemand mehr das Leid anderer zur Schau stellen kann, wo die Gier nach Macht, der Hass, die Intoleranz, die Zerstörung im Namen vermeintlicher Ideale keinen Raum mehr haben. Eine wunderbare Vision – oder doch nur ein schöner Traum?
Können uns die Worte des heutigen Predigttextes ermutigen, aufrichten, Hoffnung machen, wenn Trauer und Verzweiflung uns überwältigen beim Abschied von einem lieben Menschen oder dann, wenn beim Abschied so vieles ungesagt und ungelöst bleibt? Können wir leben und uns trösten mit der Hoffnung auf den neuen Himmel und die neue Erde oder sind das für uns nur leere, belanglose Worte – eben nur ein schöner Traum angesichts unserer Trauer, zu schön um wahr zu sein?
Jedenfalls ist es eine Utopie, eine Utopie im eigentlichen Sinn des Wortes – etwas, das in dieser Welt keinen Ort hat, etwas das wir nicht durch unser Planen und Machen erreichen und verwirklichen können. Ein neuer Himmel und eine neue Erde. Kein Fortschritt, keine kontinuierliche Entwicklung, schon gar nicht die Überwindung von Leid, Krankheit und Tod durch medizinische Forschung. „Der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen“, heisst es in der Offenbarung. Es gibt keinen Weg von hier nach dort. Solange diese Erde besteht, werden Menschen ihre Toten beweinen, werden Krankheiten und Schicksalsschläge Menschen treffen, werden Menschen einander Leid zufügen, wird es Kriege, Hass, Neid und Gewalt geben. Diesen Realismus lehrt uns die Bibel – von Kain und Abel bis hin zu den bedrückenden Bildern der Offenbarung. Und der Tod mag zwar gerecht sein, weil, wie das Sprichwort sagt, das letzte Hemd keine Taschen hat, aber er ist furchtbar ungerecht in der Auswahl seiner Opfer und er ist fast immer ungerecht für den, dem ein lieber Mensch genommen wird. Aber – noch einmal – was kann uns dann die biblische Utopie vom neuen Himmel und der neuen Erde helfen, wenn sie doch nicht von dieser Welt ist?
Wenn einem die Decke auf den Kopf fällt, dann tut es gut, wenn man aus dem Haus geht, hinaus an die frische Luft. Wenn man sich in den immer gleichen ausweglosen Grübeleien verheddert, tut es gut, wenn jemand einem auf andere Gedanken bringt, die Dinge in ein anderes Licht rückt. Ich glaube, dass die Utopie des heutigen Predigttextes genau diese Funktion hat, frische Luft in das Haus unserer Trauer hineinzubringen, die lähmenden Gedanken, die uns plagen in das Licht einer anderen Wirklichkeit zu stellen. Stell dir vor wie das wäre: eine Welt ohne Leid und Tod. Stell dir vor, keine deiner Tränen ist vor Gott vergessen, er wird sie abwischen. Stell dir vor, der Tod, die Verzweiflung, die Trauer – sie haben nicht das letzte Wort. Jenseits dieser Grenze, die für uns so unwiderruflich, so bitter und schmerzhaft ist, da ist noch etwas, oder besser gesagt, da ist noch einer, der uns erwartet, der uns trägt, der uns tröstet und hält und dessen Liebe zu uns stärker ist als der Tod. Das dürfen wir hoffen, das dürfen wir glauben. Ob es uns die Trauer leichter macht? Ob es uns geschenkt ist, die Welt und unser Leben gerade auch in dunklen Stunden in diesem Licht einer neuen Welt zu sehen, das weiss Gott allein. Erzwingen können wir es nicht, nicht bei uns selbst und nicht bei anderen. Aber wenn Gott uns dieses Licht, diese Sicht schenkt, dann verändert sich etwas, dann kann der Dank für das Gewesene stärker werden als die Trauer über das Verlorene, dann können wir loslassen, den schmerzlichen Verlust, die unüberwindbare Grenze akzeptieren, weil jenseits dieser Grenze nicht das Nichts ist, sondern die grenzenlose Liebe Gottes. In diesem Licht können auch unausgeräumte Missverständnisse, Schuld, Groll oder Hader ihre lähmende Macht verlieren, weil wir uns dem anvertrauen können, der unser Leben heil und ganz macht – nicht in dieser Welt, nicht in diesem Leben, aber dann, wenn unser Leben heimkehrt zu Gott. Wo der neue Himmel und die neue Erde in unser Hoffen und Denken einziehen, da empfangen wir die Kraft zum Loslassen, da kann neue Hoffnung und neuer Lebensmut in unseren Herzen aufkeimen und wachsen.
Den Tod können wir nicht überwinden, wir können nicht einmal diesseits der Todesgrenze eine friedliche Welt schaffen, ja oft nicht einmal in unseren engsten Beziehungen. Aber im Licht des neuen Himmels und der neuen Erde, die Gott uns verheisst, können wir mit unseren Möglichkeiten Tränen abwischen, denen die Kummer haben, verständnisvoll zuhören, einander in den Arm nehmen und trösten. Wir können das Leid nicht überwinden, aber wir können einander helfen, Schweres zu tragen, auszuhalten und behutsam wieder neue Hoffnung zu wagen. Und das ist schon ungeheuer viel. Und wir können einander vergeben und verzeihen, können Vergangenes ruhen lassen, weil wir es in Gottes Hand legen dürfen.
Siehe, ich mache alles neu, sagt der auf dem Thron. Gott macht alles neu, nicht wir. Aber er tut es. Er schenkt uns hier und jetzt neue Kraft. Und er heilt und vollendet das Ganze unseres Lebens. Darauf hoffen wir. Daran glauben wir. Davon leben wir. Amen.
Samstag, 6. November 2010
Predigt am Reformationssonntag 7. November 2010 über Römer 3,21-28
Liebe Mitchristen!
Vor fast 500 Jahren hat ein junger Mönch namens Martin Luther immer wieder mit der selben Frage gerungen: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Die Höllenangst, die Angst vor ewigen Qualen setzte den Menschen seiner Zeit sehr zu. Die katholische Kirche seiner Zeit sah sich als einzige Heilsmittlerin, deren ordinierte Priester allein die Menschen von ihren Verfehlungen lossprechen konnten. Die Beichte, die verbunden war mit tätiger Reue, war der Weg um Gott gnädig zu stimmen. Weil die Kirche Geld brauchte, machte sie aus diesem Monopol ein Geschäft. Die Reue konnte in Geldleistungen bestehen, die Vergebung wurde käuflich – man spricht von Ablasshandel. Dieser Weg war Luther zutiefst zuwider. Die Beichte als solche, den Weg der Umkehr und Reue, hat Luther nie für falsch gehalten, aber das Monopol der Kirche, die Käuflichkeit und die Idee, man könne – sei es durch Geld oder auch durch gute Taten ein Anrecht auf Gottes Vergebung erwerben.
Aber auch den anderen Weg hielt Luther für nicht gangbar, den Weg hin zu immer grösserer Vollkommenheit, wie er vor allem im Mönchtum angestrebt wurde. Sich heraushalten aus dieser Welt, verzichten auf Besitz, auf Sexualität, auf ein bürgerliches oder adliges Leben – auch das war für Luther keine Möglichkeit, um sich die Gnade Gottes zu verdienen. Es war vor allem der Römerbrief und gerade auch der heutige Predigttext, der ihn zu seiner Erkenntnis führte: Die Gnade Gottes können wir uns nicht verdienen durch eigene Leistungen, weder durch Geld noch durch gute Taten oder den Versuch eines heiligen Lebens.
„Denn die Menschen sind allzumal Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten.“ – so schreibt es Paulus. Und dann: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“
Gott allein vergibt, macht Menschen gerecht, befreit sie von der Last ihrer Fehler, ihrer Schuld, ihres Scheiterns, ihrer Unvollkommenheit. Diese Gnade können wir uns nicht verdienen, darauf können wir nur vertrauen, das können wir nur glauben. Mit dieser Einsicht sind wir aber auch befreit davon, ruhelos einem Ideal unserer selbst nachzurennen und dem doch nie genügen zu können.
Aber – so fragen vielleicht manche – sind das nicht Fragen des Mittelalters? Wer sorgt sich heute noch um einen gnädigen Gott? Wer fürchtet heute noch die Hölle oder die ewige Verdammnis? Und feiern nicht heute auch viele Katholiken lieber eine Bussfeier als eine Einzelbeichte abzulegen. Und doch: auch heute noch werden Menschen schuldig, auch heute noch verletzen Menschen einander, auch heute noch leiden Menschen unter Fehlern, die sie schier erdrücken können. Da hilft kein leichtfertiges „Schwamm drüber, jeder macht mal Fehler“; da können tiefe Wunden bleiben. Wir neigen heute dazu, solche Erfahrungen zu verdrängen oder zu verharmlosen oder denken, dass wir halt selber damit fertig werden müssen. Aber lehrt uns nicht die psychologische Forschung, lehrt uns nicht unsere eigene Erfahrung, dass Verdrängtes immer wieder an die Oberfläche zurückkehrt, uns behindert und lähmt. Dinge aussprechen können, die uns belasten, Fehler einzugestehen – das ist heilsam und befreiend, wenn wir darauf vertrauen können, dass wir auf Vergebung, auf Liebe und Verständnis stossen, sei es in der Beichte, im seelsorgerlichen Gespräch, im Gebet oder in der Aussprache von Mensch zu Mensch. Ich weiss, dass sich das leichter sagt als es ist. Denn in vielen von uns ist die Haltung tief verwurzelt, Dinge mit sich selber auszumachen, nur keine Schwächen zu zeigen oder aber sich selbst für jeden Fehler so sehr zu verurteilen, dass es uns schwer fällt, auf einen gnädigen Gott oder einen gnädigen Mitmenschen zu vertrauen. Wenn wir aber auf einen gnädigen Gott vertrauen dürfen, wenn wir glauben dürfen, dass nichts, wirklich gar nichts uns endgültig von Gottes Liebe trennen kann, dann brauchen wir - zumindest vor Gott – nichts zu verstecken, brauchen wir nicht vor uns selber davonzulaufen oder uns unserer eigenen Unwürdigkeit zu grämen.
Solcher Glaube kann uns bewahren vor dem schleichenden Gift der Sprachlosigkeit in unserer Beziehung zu Gott und in unseren menschlichen Beziehungen. Wir können das ganz einfach an unseren alltäglichen Beziehungen überprüfen: Wo fällt ein klärendes Gespräch leichter: Da, wo die Frage im Vordergrund steht, wer denn nun recht hat und wer schuld ist? Oder da, wo einer sich fragt, wie er den anderen gnädig stimmen kann? Oder da, wo wir einander vertrauen können, dass eines dem anderen Verständnis entgegenbringt und verzeihen kann? Im ersten Fall ist es das alte Spiel von Sieger und Verlierer, das den Verlierer sprachlos und hilflos macht. Im zweiten Fall kommt es zur Unterwerfung oder zur Sprachlosigkeit, weil nie der richtige Zeitpunkt da ist, man nie die richtigen Worte findet oder es kommt zur Unterwerfung des einen unter den anderen. Nur wo wir Schwäche zeigen können ohne Stärke zu provozieren, werden wir wirklich geliebt. Die meisten wissen wohl ganz gut, wie schwer es manchmal ist, diesen dritten Weg zu gehen. Und wie viele Beziehungen, Freundschaften und Partnerschaften sind schon an den Machtkämpfen, an Sprachlosigkeit oder an Unterwerfung gescheitert. Aber im Vertrauen müssen wir uns üben und Vertrauen macht verletzlich, braucht immer wieder neue Nahrung. Wenn unser Vertrauen enttäuscht wird, wir uns verurteilt oder zurückgewiesen fühlen, dann droht der Rückzug in die Sprachlosigkeit oder der Machtkampf. Sagen können, was uns verletzt und wieder neu Vertrauen wagen, darauf kommt es dann entscheidend an. Und darauf, dass wir erkennen, dass es zum £Weg des Vertrauens letztlich keine Alternative gibt.
Und noch etwas ist mir wichtig: Es geht nicht in erster Linie darum, Vergangenes wieder gut zu machen. Es geht darum, in der Einsicht, dass wir Vergangenes nicht ungeschehen machen können und auch nicht müssen, frei zu werden für einen Weg, der in die Zukunft führt. Und dazu muss Vergangenes ruhen, müssen wir lernen, mit dem, was sich nicht mehr ändern lässt, zu leben und zu verzeihen.
Die Erkenntnis Martin Luthers, dass Gott gnädig ist und wir ihn nicht erst gnädig stimmen müssen, seine Einsicht, dass wir vor Gott weder Recht behalten noch gute Leistungen erbringen müssen – sie waren für ihn eine grosse Befreiung. Und ich denke, dass sie nicht nur im Mittelalter aktuell waren. Auch für uns heute kann das Vertrauen auf einen gnädigen und barmherzigen Gott eine Befreiung sein, dann wenn wir spüren, dass Schuld, Fehler und Unvollkommenheit uns belasten. Denn darin liegt die Zusage, dass wir so sein dürfen wie wir sind und von Gott nicht an unseren Leistungen gemessen und klassiert werden. Und wenn Gott ruhen lässt, was zwischen uns und ihm steht, dann dürfen auch wir den Blick nach vorne richten. Mit unserer Geschichte, mit unseren Fehlern dürfen wir weitergehen, brauchen uns nicht lähmen zu lassen.
Was wir in der Beziehung zu Gott erfahren dürfen, das können wir dann auch in unserem menschlichen Zusammenleben üben. Vertrauen wagen, einander Vertrauen entgegenbringen, miteinander reden, Vergangenes ruhen lassen und miteinander in die Zukunft zu blicken.
Für Paulus gilt: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ Amen.
Vor fast 500 Jahren hat ein junger Mönch namens Martin Luther immer wieder mit der selben Frage gerungen: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Die Höllenangst, die Angst vor ewigen Qualen setzte den Menschen seiner Zeit sehr zu. Die katholische Kirche seiner Zeit sah sich als einzige Heilsmittlerin, deren ordinierte Priester allein die Menschen von ihren Verfehlungen lossprechen konnten. Die Beichte, die verbunden war mit tätiger Reue, war der Weg um Gott gnädig zu stimmen. Weil die Kirche Geld brauchte, machte sie aus diesem Monopol ein Geschäft. Die Reue konnte in Geldleistungen bestehen, die Vergebung wurde käuflich – man spricht von Ablasshandel. Dieser Weg war Luther zutiefst zuwider. Die Beichte als solche, den Weg der Umkehr und Reue, hat Luther nie für falsch gehalten, aber das Monopol der Kirche, die Käuflichkeit und die Idee, man könne – sei es durch Geld oder auch durch gute Taten ein Anrecht auf Gottes Vergebung erwerben.
Aber auch den anderen Weg hielt Luther für nicht gangbar, den Weg hin zu immer grösserer Vollkommenheit, wie er vor allem im Mönchtum angestrebt wurde. Sich heraushalten aus dieser Welt, verzichten auf Besitz, auf Sexualität, auf ein bürgerliches oder adliges Leben – auch das war für Luther keine Möglichkeit, um sich die Gnade Gottes zu verdienen. Es war vor allem der Römerbrief und gerade auch der heutige Predigttext, der ihn zu seiner Erkenntnis führte: Die Gnade Gottes können wir uns nicht verdienen durch eigene Leistungen, weder durch Geld noch durch gute Taten oder den Versuch eines heiligen Lebens.
„Denn die Menschen sind allzumal Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten.“ – so schreibt es Paulus. Und dann: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“
Gott allein vergibt, macht Menschen gerecht, befreit sie von der Last ihrer Fehler, ihrer Schuld, ihres Scheiterns, ihrer Unvollkommenheit. Diese Gnade können wir uns nicht verdienen, darauf können wir nur vertrauen, das können wir nur glauben. Mit dieser Einsicht sind wir aber auch befreit davon, ruhelos einem Ideal unserer selbst nachzurennen und dem doch nie genügen zu können.
Aber – so fragen vielleicht manche – sind das nicht Fragen des Mittelalters? Wer sorgt sich heute noch um einen gnädigen Gott? Wer fürchtet heute noch die Hölle oder die ewige Verdammnis? Und feiern nicht heute auch viele Katholiken lieber eine Bussfeier als eine Einzelbeichte abzulegen. Und doch: auch heute noch werden Menschen schuldig, auch heute noch verletzen Menschen einander, auch heute noch leiden Menschen unter Fehlern, die sie schier erdrücken können. Da hilft kein leichtfertiges „Schwamm drüber, jeder macht mal Fehler“; da können tiefe Wunden bleiben. Wir neigen heute dazu, solche Erfahrungen zu verdrängen oder zu verharmlosen oder denken, dass wir halt selber damit fertig werden müssen. Aber lehrt uns nicht die psychologische Forschung, lehrt uns nicht unsere eigene Erfahrung, dass Verdrängtes immer wieder an die Oberfläche zurückkehrt, uns behindert und lähmt. Dinge aussprechen können, die uns belasten, Fehler einzugestehen – das ist heilsam und befreiend, wenn wir darauf vertrauen können, dass wir auf Vergebung, auf Liebe und Verständnis stossen, sei es in der Beichte, im seelsorgerlichen Gespräch, im Gebet oder in der Aussprache von Mensch zu Mensch. Ich weiss, dass sich das leichter sagt als es ist. Denn in vielen von uns ist die Haltung tief verwurzelt, Dinge mit sich selber auszumachen, nur keine Schwächen zu zeigen oder aber sich selbst für jeden Fehler so sehr zu verurteilen, dass es uns schwer fällt, auf einen gnädigen Gott oder einen gnädigen Mitmenschen zu vertrauen. Wenn wir aber auf einen gnädigen Gott vertrauen dürfen, wenn wir glauben dürfen, dass nichts, wirklich gar nichts uns endgültig von Gottes Liebe trennen kann, dann brauchen wir - zumindest vor Gott – nichts zu verstecken, brauchen wir nicht vor uns selber davonzulaufen oder uns unserer eigenen Unwürdigkeit zu grämen.
Solcher Glaube kann uns bewahren vor dem schleichenden Gift der Sprachlosigkeit in unserer Beziehung zu Gott und in unseren menschlichen Beziehungen. Wir können das ganz einfach an unseren alltäglichen Beziehungen überprüfen: Wo fällt ein klärendes Gespräch leichter: Da, wo die Frage im Vordergrund steht, wer denn nun recht hat und wer schuld ist? Oder da, wo einer sich fragt, wie er den anderen gnädig stimmen kann? Oder da, wo wir einander vertrauen können, dass eines dem anderen Verständnis entgegenbringt und verzeihen kann? Im ersten Fall ist es das alte Spiel von Sieger und Verlierer, das den Verlierer sprachlos und hilflos macht. Im zweiten Fall kommt es zur Unterwerfung oder zur Sprachlosigkeit, weil nie der richtige Zeitpunkt da ist, man nie die richtigen Worte findet oder es kommt zur Unterwerfung des einen unter den anderen. Nur wo wir Schwäche zeigen können ohne Stärke zu provozieren, werden wir wirklich geliebt. Die meisten wissen wohl ganz gut, wie schwer es manchmal ist, diesen dritten Weg zu gehen. Und wie viele Beziehungen, Freundschaften und Partnerschaften sind schon an den Machtkämpfen, an Sprachlosigkeit oder an Unterwerfung gescheitert. Aber im Vertrauen müssen wir uns üben und Vertrauen macht verletzlich, braucht immer wieder neue Nahrung. Wenn unser Vertrauen enttäuscht wird, wir uns verurteilt oder zurückgewiesen fühlen, dann droht der Rückzug in die Sprachlosigkeit oder der Machtkampf. Sagen können, was uns verletzt und wieder neu Vertrauen wagen, darauf kommt es dann entscheidend an. Und darauf, dass wir erkennen, dass es zum £Weg des Vertrauens letztlich keine Alternative gibt.
Und noch etwas ist mir wichtig: Es geht nicht in erster Linie darum, Vergangenes wieder gut zu machen. Es geht darum, in der Einsicht, dass wir Vergangenes nicht ungeschehen machen können und auch nicht müssen, frei zu werden für einen Weg, der in die Zukunft führt. Und dazu muss Vergangenes ruhen, müssen wir lernen, mit dem, was sich nicht mehr ändern lässt, zu leben und zu verzeihen.
Die Erkenntnis Martin Luthers, dass Gott gnädig ist und wir ihn nicht erst gnädig stimmen müssen, seine Einsicht, dass wir vor Gott weder Recht behalten noch gute Leistungen erbringen müssen – sie waren für ihn eine grosse Befreiung. Und ich denke, dass sie nicht nur im Mittelalter aktuell waren. Auch für uns heute kann das Vertrauen auf einen gnädigen und barmherzigen Gott eine Befreiung sein, dann wenn wir spüren, dass Schuld, Fehler und Unvollkommenheit uns belasten. Denn darin liegt die Zusage, dass wir so sein dürfen wie wir sind und von Gott nicht an unseren Leistungen gemessen und klassiert werden. Und wenn Gott ruhen lässt, was zwischen uns und ihm steht, dann dürfen auch wir den Blick nach vorne richten. Mit unserer Geschichte, mit unseren Fehlern dürfen wir weitergehen, brauchen uns nicht lähmen zu lassen.
Was wir in der Beziehung zu Gott erfahren dürfen, das können wir dann auch in unserem menschlichen Zusammenleben üben. Vertrauen wagen, einander Vertrauen entgegenbringen, miteinander reden, Vergangenes ruhen lassen und miteinander in die Zukunft zu blicken.
Für Paulus gilt: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ Amen.
Samstag, 23. Oktober 2010
Predigt zu 2. Korinther 9,6-15 beim Erntedankgottesdienst im Alters- und Pflegeheim Kühlewil am 24.10.2010
Liebe Mitchristen,
Was der Apostel da schreibt, das ist ein ausführlicher und zu Herzen gehender Spendenaufruf. Macht euch keine Sorgen, sagt er, sondern gebt ab von dem Reichtum, den Gott euch schenkt. In meiner Predigt soll es heute aber nicht um einen Spendenaufruf gehen, zumal ja in diesem Gottesdienst gar keine Kollekte vorgesehen ist. Ich will vielmehr unseren Blick lenken auf die Dankbarkeit für das, was Gott uns in unserem Leben schenkt. Nicht die grossen Dinge, nicht der Überfluss an Gütern ist es ja, der uns erkennen lässt, wie kostbar unser Leben ist und wie reich an Gnade wir eigentlich sind. Unser Predigttext ist ja auch nicht nur einen Spendenaufruf, sondern eine Einladung zur Dankbarkeit für die elementaren Dinge des Lebens, die wir so oft einfach als selbstverständlich ansehen oder uns selber, unserer Arbeit und Leistung zuschreiben. Und er ist eine Einladung, darauf zu achten, dass diese elementaren Lebensgrundlagen nicht selbstverständlich sind und dass wir grössere Lebenszufriedenheit, grösseres Glück erfahren, wenn wir fähig werden zur Dankbarkeit und wenn wir das unsere mit anderen teilen, uns miteinander daran freuen können. Paulus schreibt: „Gott aber lässt euch all seine Gnade reichlich zukommen, damit ihr allezeit mit allem reich versorgt seid und darüber hinaus noch Mittel habt zu jedem guten Werk.“ Und: „Der aber dem Säenden Samen gibt und Brot zur Speise, der wird auch euch das Saatgut geben in reichem Masse und die Frucht eurer Gerechtigkeit wachsen lassen.“
Ja, die Dankbarkeit für das scheinbar Selbstverständliche schenkt innere Freiheit und Lebenszufriedenheit. Wenn wir das Geschenk unseres Lebens als Geschenk Gottes wahrnehmen können und statt nach immer mehr zu streben, mit den Samenkörnern, die Gott uns schenkt, den Acker unseres Lebens bebauen und uns an den Früchten freuen, die darauf wachsen, dann kann unser Leben gelingen und dann verlieren wir auch unsere Nächsten nicht aus dem Blick. Denn oft ist es ja die unablässige Selbstsorge, die uns von den anderen trennt.
Diese innere Freiheit und von Herzen kommende Dankbarkeit hat Martin Luther schon 1530 in einer wunderbaren Auslegung des 118. Psalms beschrieben:
„Und wenn wir Menschen nicht so blind und der Güter Gottes so überdrüssig und unachtsam wären, so wäre freilich kein Mensch auf Erden, er habe noch so viel Besitz; wenns zum Tausch kommen sollte, so nähme er kein Kaisertum noch Königreich dafür, wenn er dafür der (uns allen eigenen) Güter beraubt wäre. Denn was kann ein Königreich für ein Schatz sein im Vergleich zu einem gesunden Leibe. … Wenn die Sonne einen Tag nicht schiene, wer wollte nicht lieber tot sein? Oder was hülfe ihm all sein Gut und Herrschaft? Was wäre aller Wein und Sekt in aller Welt, wenn wir einen Tag des Wassers ermangeln sollten? Was wären alle hübschen Schlösser, Häuser, Samt, Seide, Purpur, goldenen Ketten und Edelsteine, alle Pracht, Schmuck und Hoffart, wenn wir ein Vaterunser lang die Luft entbehren sollten? - Solche Güter Gottes sind die grössten und (zugleich) die allerverachtetsten und deshalb, weil sie allgemein sind, dankt niemand Gott dafür, sie nehmen sie und brauchen diesselben täglich immer so dahin, als müsste es so sein …; fahren dieweil zu, haben was uns am Herzen liegt zu tun, sorgen, hadern, streiten, ringen und wüten um überflüssiges Geld und Gut, um Ehre und Wollust und in Summa um das, welches solchen obengenannten Gütern nicht das Wasser reichen könnte.“
Sehen wir einmal von der etwas altertümlichen Sprache Luthers ab, so irritiert uns vielleicht immer noch der moralisierende Unterton. Aber ich denke, dass es viel zu kurz greift, wenn wir die wunderbaren Gedanken Luthers einfach als moralischen Appell: „Gib dich zufrieden mit dem, was du hast“ verstehen würden, zumal das leicht in eine falsche Selbstzufriedenheit umschlagen kann. Das Ringen, etwas erreichen wollen, nach mehr streben, gehört zu uns und das ist auch gut so. Ehrgeiz, Unzufriedenheit mit dem Erreichten sollen nicht verteufelt werden. Aber Luthers Vergleiche können uns helfen, die Dinge wieder ins richtige Verhältnis zu setzen. Es mag uns motivieren und antreiben, immer höhere Ziele zu erreichen, aber all dies kann nichts von dem ersetzen, was zu unseren elementaren Lebensgrundlagen gehört. Und (heute nur als Randbemerkung) diese elementaren Lebensgrundlagen hat Gott allen Menschen zugedacht und es gibt keine Rechtfertigung dafür, sie zu privatisieren und anderen vorzuenthalten.
Aber gibt es nicht auch Situationen, wo es uns an ganz elementaren Dingen fehlt? Gerade viele von Ihnen hier in Kühlewil, wissen, was es heisst, wenn der Leib nicht gesund ist, wenn man körperliche und seelische Schmerzen leidet, wenn vieles nicht mehr geht. Dieser Mangel, dieser Verlust kann ihnen schwer zu schaffen machen. Niemand darf ihnen dann das Recht zu klagen absprechen. Nein: „gib dich zufrieden und sei stille“ darf dann nicht die einzige Antwort sein. Und dennoch: wir kennen auch die Momente, wo uns der Verlust des Selbstverständlichen die Augen öffnet für seine Kostbarkeit und zur Klage über den Verlust die Dankbarkeit hinzutritt für das was wir gehabt haben und das, was uns noch bleibt. Und diese Dankbarkeit, diese Achtsamkeit für das Gute und Kostbare in unserem Leben, kann uns dann auch die Kraft geben, das Schwere zu tragen. Denn in dieser Dankbarkeit erfahren wir die Kraft Gottes in unseren Herzen. Ihm dürfen wir vertrauen, dass er uns begleitet und trägt und uns unsere Speise gibt zur rechten Zeit.
Zum Schluss soll nochmals Martin Luther das Wort haben mit seiner Auslegung des Ersten Artikels des apostolischen Glaubensbekenntnisses im Kleinen Katechismus: „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.
Was ist das?
Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; mit aller Notdurft und Nahrung dieses Leibes und Lebens mich reichlich und täglich versorget, wider alle Fährlichkeit beschirmet und vor allem Übel behütet und bewahret; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit; daß alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin.“
Amen.
Was der Apostel da schreibt, das ist ein ausführlicher und zu Herzen gehender Spendenaufruf. Macht euch keine Sorgen, sagt er, sondern gebt ab von dem Reichtum, den Gott euch schenkt. In meiner Predigt soll es heute aber nicht um einen Spendenaufruf gehen, zumal ja in diesem Gottesdienst gar keine Kollekte vorgesehen ist. Ich will vielmehr unseren Blick lenken auf die Dankbarkeit für das, was Gott uns in unserem Leben schenkt. Nicht die grossen Dinge, nicht der Überfluss an Gütern ist es ja, der uns erkennen lässt, wie kostbar unser Leben ist und wie reich an Gnade wir eigentlich sind. Unser Predigttext ist ja auch nicht nur einen Spendenaufruf, sondern eine Einladung zur Dankbarkeit für die elementaren Dinge des Lebens, die wir so oft einfach als selbstverständlich ansehen oder uns selber, unserer Arbeit und Leistung zuschreiben. Und er ist eine Einladung, darauf zu achten, dass diese elementaren Lebensgrundlagen nicht selbstverständlich sind und dass wir grössere Lebenszufriedenheit, grösseres Glück erfahren, wenn wir fähig werden zur Dankbarkeit und wenn wir das unsere mit anderen teilen, uns miteinander daran freuen können. Paulus schreibt: „Gott aber lässt euch all seine Gnade reichlich zukommen, damit ihr allezeit mit allem reich versorgt seid und darüber hinaus noch Mittel habt zu jedem guten Werk.“ Und: „Der aber dem Säenden Samen gibt und Brot zur Speise, der wird auch euch das Saatgut geben in reichem Masse und die Frucht eurer Gerechtigkeit wachsen lassen.“
Ja, die Dankbarkeit für das scheinbar Selbstverständliche schenkt innere Freiheit und Lebenszufriedenheit. Wenn wir das Geschenk unseres Lebens als Geschenk Gottes wahrnehmen können und statt nach immer mehr zu streben, mit den Samenkörnern, die Gott uns schenkt, den Acker unseres Lebens bebauen und uns an den Früchten freuen, die darauf wachsen, dann kann unser Leben gelingen und dann verlieren wir auch unsere Nächsten nicht aus dem Blick. Denn oft ist es ja die unablässige Selbstsorge, die uns von den anderen trennt.
Diese innere Freiheit und von Herzen kommende Dankbarkeit hat Martin Luther schon 1530 in einer wunderbaren Auslegung des 118. Psalms beschrieben:
„Und wenn wir Menschen nicht so blind und der Güter Gottes so überdrüssig und unachtsam wären, so wäre freilich kein Mensch auf Erden, er habe noch so viel Besitz; wenns zum Tausch kommen sollte, so nähme er kein Kaisertum noch Königreich dafür, wenn er dafür der (uns allen eigenen) Güter beraubt wäre. Denn was kann ein Königreich für ein Schatz sein im Vergleich zu einem gesunden Leibe. … Wenn die Sonne einen Tag nicht schiene, wer wollte nicht lieber tot sein? Oder was hülfe ihm all sein Gut und Herrschaft? Was wäre aller Wein und Sekt in aller Welt, wenn wir einen Tag des Wassers ermangeln sollten? Was wären alle hübschen Schlösser, Häuser, Samt, Seide, Purpur, goldenen Ketten und Edelsteine, alle Pracht, Schmuck und Hoffart, wenn wir ein Vaterunser lang die Luft entbehren sollten? - Solche Güter Gottes sind die grössten und (zugleich) die allerverachtetsten und deshalb, weil sie allgemein sind, dankt niemand Gott dafür, sie nehmen sie und brauchen diesselben täglich immer so dahin, als müsste es so sein …; fahren dieweil zu, haben was uns am Herzen liegt zu tun, sorgen, hadern, streiten, ringen und wüten um überflüssiges Geld und Gut, um Ehre und Wollust und in Summa um das, welches solchen obengenannten Gütern nicht das Wasser reichen könnte.“
Sehen wir einmal von der etwas altertümlichen Sprache Luthers ab, so irritiert uns vielleicht immer noch der moralisierende Unterton. Aber ich denke, dass es viel zu kurz greift, wenn wir die wunderbaren Gedanken Luthers einfach als moralischen Appell: „Gib dich zufrieden mit dem, was du hast“ verstehen würden, zumal das leicht in eine falsche Selbstzufriedenheit umschlagen kann. Das Ringen, etwas erreichen wollen, nach mehr streben, gehört zu uns und das ist auch gut so. Ehrgeiz, Unzufriedenheit mit dem Erreichten sollen nicht verteufelt werden. Aber Luthers Vergleiche können uns helfen, die Dinge wieder ins richtige Verhältnis zu setzen. Es mag uns motivieren und antreiben, immer höhere Ziele zu erreichen, aber all dies kann nichts von dem ersetzen, was zu unseren elementaren Lebensgrundlagen gehört. Und (heute nur als Randbemerkung) diese elementaren Lebensgrundlagen hat Gott allen Menschen zugedacht und es gibt keine Rechtfertigung dafür, sie zu privatisieren und anderen vorzuenthalten.
Aber gibt es nicht auch Situationen, wo es uns an ganz elementaren Dingen fehlt? Gerade viele von Ihnen hier in Kühlewil, wissen, was es heisst, wenn der Leib nicht gesund ist, wenn man körperliche und seelische Schmerzen leidet, wenn vieles nicht mehr geht. Dieser Mangel, dieser Verlust kann ihnen schwer zu schaffen machen. Niemand darf ihnen dann das Recht zu klagen absprechen. Nein: „gib dich zufrieden und sei stille“ darf dann nicht die einzige Antwort sein. Und dennoch: wir kennen auch die Momente, wo uns der Verlust des Selbstverständlichen die Augen öffnet für seine Kostbarkeit und zur Klage über den Verlust die Dankbarkeit hinzutritt für das was wir gehabt haben und das, was uns noch bleibt. Und diese Dankbarkeit, diese Achtsamkeit für das Gute und Kostbare in unserem Leben, kann uns dann auch die Kraft geben, das Schwere zu tragen. Denn in dieser Dankbarkeit erfahren wir die Kraft Gottes in unseren Herzen. Ihm dürfen wir vertrauen, dass er uns begleitet und trägt und uns unsere Speise gibt zur rechten Zeit.
Zum Schluss soll nochmals Martin Luther das Wort haben mit seiner Auslegung des Ersten Artikels des apostolischen Glaubensbekenntnisses im Kleinen Katechismus: „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.
Was ist das?
Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; mit aller Notdurft und Nahrung dieses Leibes und Lebens mich reichlich und täglich versorget, wider alle Fährlichkeit beschirmet und vor allem Übel behütet und bewahret; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit; daß alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin.“
Amen.
Samstag, 18. September 2010
Predigt zu Psalm 150 und Kol 3,16-17 anlässlich der Wiedereinweihung der Orgel
Liebe Gemeinde
Das Wort Christi wohne mit seinem ganzen Reichtum unter euch: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; singt Gott, von der Gnade erfüllt, in euren Herzen Psalmen, Hymnen und geistliche Lieder. Kol 3, 16
Nun haben wir unsere Orgel wieder - frisch restauriert und neu intoniert, so wie sie die Erbauer im Jahr 1930 vermutlich gedacht hatten. Es war schon ein besonderes Erlebnis, in den letzten Wochen gelegentlich dabei zu sein, wenn Pfeife um Pfeife wieder in die Orgel eingebaut wurde und als der Intonateur dann Ton für Ton überprüft und gestimmt und das Ganze in eine gelunge Harmonie gebracht hat.
Nun haben wir sie wieder - unsere Orgel, damit sie uns dabei unterstützen kann, wenn wir den Dank unserer Herzen in Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern Gott singen, wie es im Kol heisst. Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen, heisst es da - und dann stehen Wort und Musik völlig gleichberechtigt nebeneinander. Damit das Wort Christi reichlich unter uns wohnen kann, feiern wir Gottesdienst. Dazu gehören Lehre und Ermahnung - also die Predigt. Aber ebenso gehören die Lieder und die Musik dazu. Lieder und Musik sagen oft mehr als viele Worte, sprechen uns auf einer anderen Ebene an. Die Klänge der Orgel berühren uns anders als die Worte einer Predigt und im Singen sind wir im wahrsten Sinne des Wortes mit Leib und Seele dabei - und die Orgel ist uns dabei Halt und Stütze. Sie legt musikalisch den Grund, in den wir einstimmen können.
Aber muss es unbedingt die Orgel sein - ein Instrument, das viel Platz braucht und kostspielig ist in Anschaffung und Unterhalt. Wenn wir an der Orgel als Instrument in unserer Kirche festhalten, dann ist das natürlich ein gutes Stück Tradition, Gewohnheit - und das ist ja gewiss nichts Negatives. Als Kirchgemeinde haben wir auch eine kulturelle Verpflichtung und Orgelmusik ist ein erhaltenswertes Stück Kultur und unsere Orgel mit ihrer pneumatischen Steuerung ist ein Kulturdenkmal, von dem man sich nicht einfach leichten Herzens trennt. Ihre grosse Spendenbereitschaft für unsere Orgelrestauration zeigt uns, dass auch ihnen unsere Orgel am Herzen liegt und dafür sind wir dankbar.
Aber ich denke es gibt darüber hinaus noch gute Gründe, die für die Orgel sprechen. Denn zumindest in zweierlei Hinsicht ist die Orgel auch ein Sinnbild für die christliche Gemeinde. Sie braucht Wind, Atem, Pneuma, damit sie erklingen kann und sie hat viele unterschiedliche Register und erst ihr Zusammenklang macht die Schönheit der Musik aus.
Das erste ist also die Luft, der Atem. Ohne Luft, ohne den Atem können wir nicht leben. Ohne Luft gibt die Orgel keinen Ton von sich. Ich habe vorhin gesagt, dass unsere Orgel eine pneumatische Steuerung hat. D.h., die Töne werden erzeugt, indem der Tastendruck Luft durch Bleirohre über Ventile in die entsprechenden Pfeifen leitet. Aber mir geht es nicht um die Technik. Pneumatisch ist nämlich nicht nur ein technischer Ausdruck aus dem Orgelbau, es ist zugleich das griechische Wort für den Atem und für den Geist Gottes. In einem mächtigen Brausen ist er an Pfingsten zugegen, im sanften Flüstern eines Windhauchs offenbart Gott sich dem Elia, als Lebensatem wird er - mit dem schönen Bild des Schöpfungsberichts - Adam in die Nase geblasen. Mit jedem Atemzug atmen wir göttlichen Geist ein und aus. So nahe ist uns Gott. Ist das nicht ein tröstlicher Gedanke, der uns mit Dankbarkeit erfüllen kann. Ich darf leben von dem Atem, den Gott mir schenkt und durch diesen Lebensatem bin und bleibe ich mit Gott und mit allem Leben verbunden.
Und das andere sind die Register. Jedes Register lässt ein anderes Instrument, eine andere Stimme erklingen.
Lobt Gott mit Hörnerschall, mit Harfe und Leier, mit Trommel und Reigentanz, mit Saiten und Flöte, mit klingenden Zimbeln, mit schallenden Zimbeln. Alles was Atem hat lobe den Herrn. So heisst es im Psalm 150. Und so soll auch die Orgel mit ihren verschiedensten Stimmen und Registern zum Lobe Gottes erklingen. Un diese Stimmen und register sind darüber hinaus ein schönes Bild für die Verschiedenheit von uns Menschen. Jeder und jede von uns ist etwas anders und wir haben unsere Eigenart. Das macht es manchmal schwierig: wenn die lauten Trompeten die feinen Flöten übertönen, wenn die schellenden Zimbeln die Harfenklänge verdrängen. Wie in einem Orchester (und wie bei Orgelwerken) soll jedes einmal zum Zug kommen, hat jedes seinen Platz, nicht alle sind Solisten, manche sind im Hintergrund. Wir alle sollen unseren Klang, unsere Farben entfalten zur Ehre Gottes, jeder mit seiner Gabe hat eine Aufgabe. Wir wollen - nicht nur bei der Orgel - all die verschiedenen Tonfarben hören und meine Frage an sie ist: welches ist ihr Klang? Was entspricht ihnen? Welcher Charakter steht ihnen am nächsten?
Ist es der majestätische Hörnerschall. Oder die Klänge von Harfe und Leier, feine Töne, die zu Herzen gehen.
Sind es eher die Streicher, die manchmal melancholisch klingen, Trauer und Schmerz ausdrücken, aber auch Jubel und Freude?
Oder die Flöten oder Pfeifen, warme Klänge vom Holz, heimelig, aber dann auch wieder virtuos, verspielt? Oder die Zimbeln? Fast wie die Glocken
sind sie brillant, sie sollen herausstechen, manchmal fast etwas schrill, auf unserer Orgel eher milde gemacht.
Oder - ich verlasse die Bilder des Psalmes und der Orgel - sind ihr Instrument vor allem die Hände, die zupacken können? oder das kluge Wort, der klare Gedanke? Oder Zeit und Einfühlungsvermögen? Oder etwas ganz anderes?
Welche Tonfarbe ist ihre? Und welche anderen Tonfarben bereiten ihnen Freude?
All die verschiedenen Tonfarben der Orgel, aber eben auch in unserer Gemeinde sind da zum Lob Gottes. Schon am Anfang des Psalms heisst es ja: „Lobt Gott in seinem Heiligtum, lobt ihn in seiner starken Feste, lobt ihn um seiner machtvollen Taten willen, lobt ihn in seiner gewaltigen Grösse“.
Oft scheint es zwar, dass ganz andere Mächte die Welt regieren, aber wie hat der frühere deutsche Bundespräsident Gustav Heinemann einmal so treffend gesagt: "Die Herren der Welt kommen und gehen, aber unser Herr kommt." Und weil wir darauf vertrauen, brauchen wir uns nicht blenden zu lassen, unser Licht nicht unter den Scheffel zu stellen.
Grad auch wenn wir uns nicht so elegant und grossartig fühlen, wenn wir nicht in der ersten Reihe stehen wollen. Alle sind nötig in diesem grossen Orchester Gottes, alle haben einen Platz und eine Stimme. Möge Gott seinen Wind/seinen Geist in die richtigen Kanäle leiten, damit nicht nur unsere Orgel, sondern auch die Vielfalt unserer Gemeinde harmonisch und berührend sich entfalten kann. Amen
Das Wort Christi wohne mit seinem ganzen Reichtum unter euch: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; singt Gott, von der Gnade erfüllt, in euren Herzen Psalmen, Hymnen und geistliche Lieder. Kol 3, 16
Nun haben wir unsere Orgel wieder - frisch restauriert und neu intoniert, so wie sie die Erbauer im Jahr 1930 vermutlich gedacht hatten. Es war schon ein besonderes Erlebnis, in den letzten Wochen gelegentlich dabei zu sein, wenn Pfeife um Pfeife wieder in die Orgel eingebaut wurde und als der Intonateur dann Ton für Ton überprüft und gestimmt und das Ganze in eine gelunge Harmonie gebracht hat.
Nun haben wir sie wieder - unsere Orgel, damit sie uns dabei unterstützen kann, wenn wir den Dank unserer Herzen in Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern Gott singen, wie es im Kol heisst. Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen, heisst es da - und dann stehen Wort und Musik völlig gleichberechtigt nebeneinander. Damit das Wort Christi reichlich unter uns wohnen kann, feiern wir Gottesdienst. Dazu gehören Lehre und Ermahnung - also die Predigt. Aber ebenso gehören die Lieder und die Musik dazu. Lieder und Musik sagen oft mehr als viele Worte, sprechen uns auf einer anderen Ebene an. Die Klänge der Orgel berühren uns anders als die Worte einer Predigt und im Singen sind wir im wahrsten Sinne des Wortes mit Leib und Seele dabei - und die Orgel ist uns dabei Halt und Stütze. Sie legt musikalisch den Grund, in den wir einstimmen können.
Aber muss es unbedingt die Orgel sein - ein Instrument, das viel Platz braucht und kostspielig ist in Anschaffung und Unterhalt. Wenn wir an der Orgel als Instrument in unserer Kirche festhalten, dann ist das natürlich ein gutes Stück Tradition, Gewohnheit - und das ist ja gewiss nichts Negatives. Als Kirchgemeinde haben wir auch eine kulturelle Verpflichtung und Orgelmusik ist ein erhaltenswertes Stück Kultur und unsere Orgel mit ihrer pneumatischen Steuerung ist ein Kulturdenkmal, von dem man sich nicht einfach leichten Herzens trennt. Ihre grosse Spendenbereitschaft für unsere Orgelrestauration zeigt uns, dass auch ihnen unsere Orgel am Herzen liegt und dafür sind wir dankbar.
Aber ich denke es gibt darüber hinaus noch gute Gründe, die für die Orgel sprechen. Denn zumindest in zweierlei Hinsicht ist die Orgel auch ein Sinnbild für die christliche Gemeinde. Sie braucht Wind, Atem, Pneuma, damit sie erklingen kann und sie hat viele unterschiedliche Register und erst ihr Zusammenklang macht die Schönheit der Musik aus.
Das erste ist also die Luft, der Atem. Ohne Luft, ohne den Atem können wir nicht leben. Ohne Luft gibt die Orgel keinen Ton von sich. Ich habe vorhin gesagt, dass unsere Orgel eine pneumatische Steuerung hat. D.h., die Töne werden erzeugt, indem der Tastendruck Luft durch Bleirohre über Ventile in die entsprechenden Pfeifen leitet. Aber mir geht es nicht um die Technik. Pneumatisch ist nämlich nicht nur ein technischer Ausdruck aus dem Orgelbau, es ist zugleich das griechische Wort für den Atem und für den Geist Gottes. In einem mächtigen Brausen ist er an Pfingsten zugegen, im sanften Flüstern eines Windhauchs offenbart Gott sich dem Elia, als Lebensatem wird er - mit dem schönen Bild des Schöpfungsberichts - Adam in die Nase geblasen. Mit jedem Atemzug atmen wir göttlichen Geist ein und aus. So nahe ist uns Gott. Ist das nicht ein tröstlicher Gedanke, der uns mit Dankbarkeit erfüllen kann. Ich darf leben von dem Atem, den Gott mir schenkt und durch diesen Lebensatem bin und bleibe ich mit Gott und mit allem Leben verbunden.
Und das andere sind die Register. Jedes Register lässt ein anderes Instrument, eine andere Stimme erklingen.
Lobt Gott mit Hörnerschall, mit Harfe und Leier, mit Trommel und Reigentanz, mit Saiten und Flöte, mit klingenden Zimbeln, mit schallenden Zimbeln. Alles was Atem hat lobe den Herrn. So heisst es im Psalm 150. Und so soll auch die Orgel mit ihren verschiedensten Stimmen und Registern zum Lobe Gottes erklingen. Un diese Stimmen und register sind darüber hinaus ein schönes Bild für die Verschiedenheit von uns Menschen. Jeder und jede von uns ist etwas anders und wir haben unsere Eigenart. Das macht es manchmal schwierig: wenn die lauten Trompeten die feinen Flöten übertönen, wenn die schellenden Zimbeln die Harfenklänge verdrängen. Wie in einem Orchester (und wie bei Orgelwerken) soll jedes einmal zum Zug kommen, hat jedes seinen Platz, nicht alle sind Solisten, manche sind im Hintergrund. Wir alle sollen unseren Klang, unsere Farben entfalten zur Ehre Gottes, jeder mit seiner Gabe hat eine Aufgabe. Wir wollen - nicht nur bei der Orgel - all die verschiedenen Tonfarben hören und meine Frage an sie ist: welches ist ihr Klang? Was entspricht ihnen? Welcher Charakter steht ihnen am nächsten?
Ist es der majestätische Hörnerschall. Oder die Klänge von Harfe und Leier, feine Töne, die zu Herzen gehen.
Sind es eher die Streicher, die manchmal melancholisch klingen, Trauer und Schmerz ausdrücken, aber auch Jubel und Freude?
Oder die Flöten oder Pfeifen, warme Klänge vom Holz, heimelig, aber dann auch wieder virtuos, verspielt? Oder die Zimbeln? Fast wie die Glocken
sind sie brillant, sie sollen herausstechen, manchmal fast etwas schrill, auf unserer Orgel eher milde gemacht.
Oder - ich verlasse die Bilder des Psalmes und der Orgel - sind ihr Instrument vor allem die Hände, die zupacken können? oder das kluge Wort, der klare Gedanke? Oder Zeit und Einfühlungsvermögen? Oder etwas ganz anderes?
Welche Tonfarbe ist ihre? Und welche anderen Tonfarben bereiten ihnen Freude?
All die verschiedenen Tonfarben der Orgel, aber eben auch in unserer Gemeinde sind da zum Lob Gottes. Schon am Anfang des Psalms heisst es ja: „Lobt Gott in seinem Heiligtum, lobt ihn in seiner starken Feste, lobt ihn um seiner machtvollen Taten willen, lobt ihn in seiner gewaltigen Grösse“.
Oft scheint es zwar, dass ganz andere Mächte die Welt regieren, aber wie hat der frühere deutsche Bundespräsident Gustav Heinemann einmal so treffend gesagt: "Die Herren der Welt kommen und gehen, aber unser Herr kommt." Und weil wir darauf vertrauen, brauchen wir uns nicht blenden zu lassen, unser Licht nicht unter den Scheffel zu stellen.
Grad auch wenn wir uns nicht so elegant und grossartig fühlen, wenn wir nicht in der ersten Reihe stehen wollen. Alle sind nötig in diesem grossen Orchester Gottes, alle haben einen Platz und eine Stimme. Möge Gott seinen Wind/seinen Geist in die richtigen Kanäle leiten, damit nicht nur unsere Orgel, sondern auch die Vielfalt unserer Gemeinde harmonisch und berührend sich entfalten kann. Amen
Samstag, 28. August 2010
Predigt über Apostelgeschichte 9,1-9 vom 29.August 2010
Liebe Mitchristen,
es ist eine hochdramatische Geschichte, die unser heutiger Predigttext erzählt. Das Leben des Saulus wird völlig auf den Kopf gestellt. In der Kunst wird Saulus/Paulus meist als gestürzter Reiter dargestellt, obwohl ein Pferd in der biblischen Szene gar nicht vorkommt. Zu naheliegend war wohl der Gedanke, dass da einer vom hohen Ross gestürzt wird und dass Gott ihn dann aufrichtet und ihm einen besseren Weg zeigt.
Nicht umsonst sind der Wandel vom Saulus zum Paulus und das Damaskuserlebnis zu sprichwörtlichen Redensarten geworden. Wir reden von einem Damaskuserlebnis, wenn sich das Leben eines Menschen durch eine plötzliche Begegnung oder eine Erkenntnis grundlegend verändert. Vom Saulus zum Paulus wird einer im Volksmund, wenn er ein ungutes, ja bösartiges Verhalten aufgibt und zur Überraschung seiner Mitmenschen Gutes tut. Paulus selbst erzählt in seinen Briefen auch von dieser Lebenswende. Aber er tut es viel zurückhaltender als die Apostelgeschichte. Höchstens zwischen den Zeilen kann man bei ihm ein dramatisches Ereignis lesen oder aber auch einen allmählichen Wandel. Ihm liegt nicht so sehr an den äusseren Umständen als daran, dass er Christus begegnet war und durch diese Begegnung sich als Apostel berufen und beauftragt wusste.
Unseren Predigttext haben wir dem Prozess der Legendenbildung zu verdanken. Paulus, der anfänglich die christliche Gemeinde misstrauisch beäugt und den christlichen Glauben bekämpft hatte, er hat später wie kein Zweiter zu dessen Wachstum und Verbreitung beigetragen. Er ist zum ersten christlichen Denker geworden und zum Gründer und Lehrmeister vieler Gemeinden. Und er hat uns mit seinen Briefen die ältesten Dokumente unseres christlichen Glaubens geschenkt. Wie war das möglich, dieser radikale Wandel? Das Bedürfnis nach starken Geschichten hat wohl dazu geführt, dass diese Lebenswende immer stärker ausgemalt und dramatisch geschildert wurde. Geschichten und Legenden machen etwas sichtbar, was eigentlich für die Augen unsichtbar ist. Das ist die Kraft und der Sinn von Geschichten und Legenden: nicht dass sie uns erzählen, wie es wirklich gewesen ist, sondern dass sie uns Anteil nehmen lassen an einem Geschehen, dass wir eigentlich weder miterleben noch nacherleben können.
Die Apostelgeschichte ist da noch sehr zurückhaltend. Es geschieht eigentlich wenig mehr als dass einer zu Boden stürzt und eine Stimme hört, die ihn ruft, die sein Tun beim Namen nennt und ihn fragt: Was tust du da? Dass er nicht mehr sehen kann, dürfen wir als Sinnbild dafür verstehen, dass er seine Lebensperspektive verloren hat, dass er mit ihr nichts mehr erkennen kann. Und eine neue Sicht des Lebens muss ihm erst noch zuteil werden. Symbolisch sind auch die drei Tage seiner Erblindung. Es ist die Zeitspanne, die Jona im Dunkel des Walfischbauches verbringt. Es ist aber vor allem die Zeit zwischen Jesu Tod und Auferstehung. Das Damaskuserlebnis ist eine Geschichte von Tod und Auferweckung, der Beginn eines neuen Lebens. Das Entscheidende beim Damaskuserlebnis des Paulus ist der Wandel der Lebensperspektive, die ihm durch die Begegnung mit dem Auferstandenen zuteil wird. Und das ist notwendig ein innerliches Geschehen, dass sich durch nichts beweisen oder zeigen lässt. Da ist etwas Altes vergangen. Etwas Neues beginnt. Etwas Grosses geschieht. Aber es geschieht hinter den geschlossenen Augen des Saulus/Paulus, heimlich, nicht vor den Augen der Welt, nicht sichtbar und beweisbar.
Entscheidend ist also nicht das wunderbare Geschehen und das äusserliche Drama, sondern die innerliche Wendung, die Veränderung der Lebensperspektive. Aber es bleibt eine radikale Wende. Das kann uns berühren. Es kann uns die Geschichte aber auch fremd werden lassen. Denn vermutlich geht es vielen von ihnen ähnlich wie mir. Von einer radikalen Lebenswende, von einer Bekehrung können wir nicht berichten. Wir sind viel eher in unseren Glauben hineingewachsen, sind als Säuglinge getauft worden, vielleicht in die Sonntagsschule und vermutlich in den kirchlichen Unterricht gegangen. Es waren Geschichten, die wir gehört haben, Menschen, die uns begleitet haben, Erfahrungen, die wir gemacht haben - undramtische und alltägliche, die unsere Glaubensgeschichte ausmachen. Ja, und es gehört auf jeden Fall auch ein rechtes Stück Gewohnheit dazu. Wir mögen in unserem Glauben Zweifel und Krisen erlebt haben, aber eine radikale Wende? Eher tragen wir vielleicht eine gesunde Skepsis gegenüber radikalen Bekehrungserfahrungen in uns, die ja nicht selten zu einem fragwürdigen Fanatismus führen können - und weniger zu einer Bekehrung von einem Fanatismus, wie das bei dem Verfolger Paulus war.
Wenn Sie sich in dieser Beschreibung wiedererkennen, dann möchte ich Sie zuerst einmal bestärken. Ist es nicht eine Gnade und ein Geschenk, wenn man seinen Glauben als Heimat und Ort der Geborgenheit erfahren darf und man dazu nicht einer radikalen Krise oder einer radikalen Entwertung der bisherigen Lebensperspektive bedarf? Nein, wir müssen kein Bekehrungserlebnis nachweisen, um wirklich in Gottes Händen zu sein oder echte Christinnen und Christen zu werden. Allerdings hat uns die Geschichte vom Damaskuserlebnis des Saulus/Paulus dennoch etwas zu sagen. Die Frage: Was tust du da? gilt auch uns. Was tue ich in meinen alltäglichen Gewohnheiten? Was nehme ich als selbstverständlich an? Wofür wende ich meine Kräfte auf? Und wo bin ich in Gefahr, mich zu verrennen? Achten wir auf die Warnsignale, die inneren und äusseren Stimmen? Nehmen wir uns die Zeit und die Ruhe, innezuhalten und nachzudenken? Manche Lebenskrisen entstehen ja nicht zuletzt dadurch, dass wir Warnsignale überhören und immer weiterrennen, weil wir meinen, es ginge gar nicht anders. Aber vielleicht will unser Gott uns schon längst einen neuen Weg zeigen.
Und wenn wir dann doch in eine radikale Lebenskrise geraten? Wenn unser Leben radikal durchkreuzt wird durch einen schweren Schicksalsschlag, durch eine bittere Enttäuschung, durch einen äusseren oder inneren Zusammenbruch? Unser Glaube bewahrt uns nicht einfach vor solchen Lebenskrisen, ja, er kann manchmal sogar daran zerbrechen. Aber vielleicht kann dann gerade aus dem, was da ins Wanken gerät und zerbricht, etwas Neues wachsen. Wir können daraus kein Gesetz und keine Methode machen. Die Redensart, dass jede Krise auch eine Chance ist, kann auf manchen auch zynisch wirken. Aber hoffen dürfen wir darauf und uns dafür öffnen, dass uns in den Krisen unseres Lebens eine Kraft zuteil wird, die wir nicht in uns selber tragen und vielleicht tatsächlich unter Schmerzen und Verlusten etwas Neues, Lebendiges und Kostbares das Licht der Welt erblicken darf. Wenn wir Gott nur noch unsere Fragen und unsere Ratlosigkeit bringen können, dann dürfen wir uns immer noch mit alledem ihm in die Arme werfen, uns ihm anvertrauen. Dietrich Bonhoeffer hat das einmal wunderbar formuliert: „Später erfuhr ich, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, etwas aus sich zu machen - sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann … - und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, - dann wirft man sich Gott ganz in die Arme.“ Gott kann auch aus dem, was für uns keinen Sinn mehr ergibt, neues Leben entstehen lassen. Das aber ist kein Rezept und keine Lebensweisheit, sondern eine Hoffnung und ein Vertrauen, das immer wieder neu entstehen muss. Amen.
es ist eine hochdramatische Geschichte, die unser heutiger Predigttext erzählt. Das Leben des Saulus wird völlig auf den Kopf gestellt. In der Kunst wird Saulus/Paulus meist als gestürzter Reiter dargestellt, obwohl ein Pferd in der biblischen Szene gar nicht vorkommt. Zu naheliegend war wohl der Gedanke, dass da einer vom hohen Ross gestürzt wird und dass Gott ihn dann aufrichtet und ihm einen besseren Weg zeigt.
Nicht umsonst sind der Wandel vom Saulus zum Paulus und das Damaskuserlebnis zu sprichwörtlichen Redensarten geworden. Wir reden von einem Damaskuserlebnis, wenn sich das Leben eines Menschen durch eine plötzliche Begegnung oder eine Erkenntnis grundlegend verändert. Vom Saulus zum Paulus wird einer im Volksmund, wenn er ein ungutes, ja bösartiges Verhalten aufgibt und zur Überraschung seiner Mitmenschen Gutes tut. Paulus selbst erzählt in seinen Briefen auch von dieser Lebenswende. Aber er tut es viel zurückhaltender als die Apostelgeschichte. Höchstens zwischen den Zeilen kann man bei ihm ein dramatisches Ereignis lesen oder aber auch einen allmählichen Wandel. Ihm liegt nicht so sehr an den äusseren Umständen als daran, dass er Christus begegnet war und durch diese Begegnung sich als Apostel berufen und beauftragt wusste.
Unseren Predigttext haben wir dem Prozess der Legendenbildung zu verdanken. Paulus, der anfänglich die christliche Gemeinde misstrauisch beäugt und den christlichen Glauben bekämpft hatte, er hat später wie kein Zweiter zu dessen Wachstum und Verbreitung beigetragen. Er ist zum ersten christlichen Denker geworden und zum Gründer und Lehrmeister vieler Gemeinden. Und er hat uns mit seinen Briefen die ältesten Dokumente unseres christlichen Glaubens geschenkt. Wie war das möglich, dieser radikale Wandel? Das Bedürfnis nach starken Geschichten hat wohl dazu geführt, dass diese Lebenswende immer stärker ausgemalt und dramatisch geschildert wurde. Geschichten und Legenden machen etwas sichtbar, was eigentlich für die Augen unsichtbar ist. Das ist die Kraft und der Sinn von Geschichten und Legenden: nicht dass sie uns erzählen, wie es wirklich gewesen ist, sondern dass sie uns Anteil nehmen lassen an einem Geschehen, dass wir eigentlich weder miterleben noch nacherleben können.
Die Apostelgeschichte ist da noch sehr zurückhaltend. Es geschieht eigentlich wenig mehr als dass einer zu Boden stürzt und eine Stimme hört, die ihn ruft, die sein Tun beim Namen nennt und ihn fragt: Was tust du da? Dass er nicht mehr sehen kann, dürfen wir als Sinnbild dafür verstehen, dass er seine Lebensperspektive verloren hat, dass er mit ihr nichts mehr erkennen kann. Und eine neue Sicht des Lebens muss ihm erst noch zuteil werden. Symbolisch sind auch die drei Tage seiner Erblindung. Es ist die Zeitspanne, die Jona im Dunkel des Walfischbauches verbringt. Es ist aber vor allem die Zeit zwischen Jesu Tod und Auferstehung. Das Damaskuserlebnis ist eine Geschichte von Tod und Auferweckung, der Beginn eines neuen Lebens. Das Entscheidende beim Damaskuserlebnis des Paulus ist der Wandel der Lebensperspektive, die ihm durch die Begegnung mit dem Auferstandenen zuteil wird. Und das ist notwendig ein innerliches Geschehen, dass sich durch nichts beweisen oder zeigen lässt. Da ist etwas Altes vergangen. Etwas Neues beginnt. Etwas Grosses geschieht. Aber es geschieht hinter den geschlossenen Augen des Saulus/Paulus, heimlich, nicht vor den Augen der Welt, nicht sichtbar und beweisbar.
Entscheidend ist also nicht das wunderbare Geschehen und das äusserliche Drama, sondern die innerliche Wendung, die Veränderung der Lebensperspektive. Aber es bleibt eine radikale Wende. Das kann uns berühren. Es kann uns die Geschichte aber auch fremd werden lassen. Denn vermutlich geht es vielen von ihnen ähnlich wie mir. Von einer radikalen Lebenswende, von einer Bekehrung können wir nicht berichten. Wir sind viel eher in unseren Glauben hineingewachsen, sind als Säuglinge getauft worden, vielleicht in die Sonntagsschule und vermutlich in den kirchlichen Unterricht gegangen. Es waren Geschichten, die wir gehört haben, Menschen, die uns begleitet haben, Erfahrungen, die wir gemacht haben - undramtische und alltägliche, die unsere Glaubensgeschichte ausmachen. Ja, und es gehört auf jeden Fall auch ein rechtes Stück Gewohnheit dazu. Wir mögen in unserem Glauben Zweifel und Krisen erlebt haben, aber eine radikale Wende? Eher tragen wir vielleicht eine gesunde Skepsis gegenüber radikalen Bekehrungserfahrungen in uns, die ja nicht selten zu einem fragwürdigen Fanatismus führen können - und weniger zu einer Bekehrung von einem Fanatismus, wie das bei dem Verfolger Paulus war.
Wenn Sie sich in dieser Beschreibung wiedererkennen, dann möchte ich Sie zuerst einmal bestärken. Ist es nicht eine Gnade und ein Geschenk, wenn man seinen Glauben als Heimat und Ort der Geborgenheit erfahren darf und man dazu nicht einer radikalen Krise oder einer radikalen Entwertung der bisherigen Lebensperspektive bedarf? Nein, wir müssen kein Bekehrungserlebnis nachweisen, um wirklich in Gottes Händen zu sein oder echte Christinnen und Christen zu werden. Allerdings hat uns die Geschichte vom Damaskuserlebnis des Saulus/Paulus dennoch etwas zu sagen. Die Frage: Was tust du da? gilt auch uns. Was tue ich in meinen alltäglichen Gewohnheiten? Was nehme ich als selbstverständlich an? Wofür wende ich meine Kräfte auf? Und wo bin ich in Gefahr, mich zu verrennen? Achten wir auf die Warnsignale, die inneren und äusseren Stimmen? Nehmen wir uns die Zeit und die Ruhe, innezuhalten und nachzudenken? Manche Lebenskrisen entstehen ja nicht zuletzt dadurch, dass wir Warnsignale überhören und immer weiterrennen, weil wir meinen, es ginge gar nicht anders. Aber vielleicht will unser Gott uns schon längst einen neuen Weg zeigen.
Und wenn wir dann doch in eine radikale Lebenskrise geraten? Wenn unser Leben radikal durchkreuzt wird durch einen schweren Schicksalsschlag, durch eine bittere Enttäuschung, durch einen äusseren oder inneren Zusammenbruch? Unser Glaube bewahrt uns nicht einfach vor solchen Lebenskrisen, ja, er kann manchmal sogar daran zerbrechen. Aber vielleicht kann dann gerade aus dem, was da ins Wanken gerät und zerbricht, etwas Neues wachsen. Wir können daraus kein Gesetz und keine Methode machen. Die Redensart, dass jede Krise auch eine Chance ist, kann auf manchen auch zynisch wirken. Aber hoffen dürfen wir darauf und uns dafür öffnen, dass uns in den Krisen unseres Lebens eine Kraft zuteil wird, die wir nicht in uns selber tragen und vielleicht tatsächlich unter Schmerzen und Verlusten etwas Neues, Lebendiges und Kostbares das Licht der Welt erblicken darf. Wenn wir Gott nur noch unsere Fragen und unsere Ratlosigkeit bringen können, dann dürfen wir uns immer noch mit alledem ihm in die Arme werfen, uns ihm anvertrauen. Dietrich Bonhoeffer hat das einmal wunderbar formuliert: „Später erfuhr ich, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, etwas aus sich zu machen - sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann … - und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, - dann wirft man sich Gott ganz in die Arme.“ Gott kann auch aus dem, was für uns keinen Sinn mehr ergibt, neues Leben entstehen lassen. Das aber ist kein Rezept und keine Lebensweisheit, sondern eine Hoffnung und ein Vertrauen, das immer wieder neu entstehen muss. Amen.
Samstag, 14. August 2010
Predigt vom 15. August 2010 zu 1. Mose 28,10-19
Liebe Mitchristen!
Jakob schläft. Jakob schläft nicht den Schlaf des Gerechten, der nach getaner Arbeit, nach vollbrachtem Tagewerk in sein Bett sinkt, um sich von den Mühen des Tages zu erholen. Denn er hat keine Schlafstätte mehr, kein zuhause, wo er sein Haupt niederlegen könnte. Er ist ein Mensch auf der Flucht, einer, dem sein Bruder nach dem Leben trachtet.
Jakob schläft, weil er völlig erschöpft ist und einfach nicht mehr kann. Beim Morgengrauen ist er in aller Eile aufgebrochen. Den ganzen Tag ist er buchstäblich um sein Leben gelaufen und mit jeder Stunde, mit jeder Minute entfernte er sich weiter von dem Ort, der ihm gerade noch Heimat war, von der Geborgenheit an der Seite der Mutter. Sein Vater Isaak ist tot, Esau, sein Bruder, sein erbittertster Feind, weil er ihn betrogen hat, betrogen um sein Erbe, betrogen um den väterlichen Segen. Ein Gehetzter, ein Flüchtling ist er nun, der noch dazu weiss, dass er mitschuldig ist an seinem unglücklichen Schicksal.
Jakob schläft unter freiem Himmel. Verstört durch den mörderischen Konflikt mit seinem Bruder hat er nicht einmal bemerkt, wie die Nacht hereingebrochen ist. Er hat völlig vergessen sich eine Bleibe zu suchen und muss sich nun im Schutze eines Steines draussen niederlegen. Und er denkt wohl an zuhause, an den Ort den er verlassen hat, die Heimat, die er verloren hat. Er denkt an seinen Vater, den er wohl mehr respektiert als geliebt hat. Denn stets hatte sein Vater ihm den älteren Bruder vorgezogen, den Jäger und Ackerbauern. Er denkt an seinen Vater und seinen Bruder, die er betrogen und hintergangen hat. Und er denkt an Rebekka seine Mutter, die ihn stets behütet und beschützt hat wie ihren Augapfel, der er in der Küche zur Hand gegangen war und bei der er so vieles gelernt hat. Seine Mutter Rebekka war es aber auch, die ihn stets darauf getrimmt hat, hoch hinauf zu kommen, immer der Erste und Beste zu sein. Und sie hat ihn auch zu dem Betrug angestiftet, der ihn nun zum Flüchtling gemacht hat und hat ihm geholfen, den Betrug auszuführen. Nun liegt er, der so hoch hinaus wollte, erschöpft und niedergeschlagen am Boden.
Jakob schläft und im Schlaf überfällt ihn ein Traum. Und es ist kein Alptraum, der ihm den Schlaf raubt. Nein, im Traum öffnet sich ihm der Himmel und dieser Niemandsort im Lande Nirgendwo wird ihm zum heiligen Boden, zum Ort der Gegenwart Gottes. Im Traum steht ihm der Himmel offen und eine Leiter verbindet diesen Niemandsort mit dem offenen Himmel. Kein Weg nach oben ist diese Leiter. Jakob muss ihre Stufen nicht mühsam erklimmen. Er, der immer hoch hinaus wollte, erfährt in diesem Traum, dass sein Ort unten am Boden ist. Die Leiter ist von oben her auf die Erde gerichtet und Engel steigen daran auf und nieder. Nicht er muss den Weg in den Himmel gehen, sondern bekommt gewissermassen Besuch von oben.
Und im Traum steht Gott vor ihm und redet mit ihm: "Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und Isaaks Gott. Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe."
Später hat man sich in Israel diese Geschichte von Generation zu Generation weitererzählt. Land und Nachkommenschaft, so erzählte man sich, habe Gott, dem Jakob verheissen. Aber entscheidend ist nicht der Inhalt der Verheissung, sondern dass hier die Geschichte einer grossen Überraschung erzählt wird. Entscheidend ist, dass Jakob, der am Boden liegt, ein gehetzter Flüchtling, im Traum die Gewissheit erhält, dass Gott bei ihm ist und in auf seinem Weg in eine ungewisse Zukunft mit seinem Segen begleitet.
Jakob erwacht. Und im Erwachen lässt er den Traum nicht einfach hinter sich. Er nimmt die Botschaft dieses Traumes mit auf den Weg, die Botschaft, dass Gott auf seinem Weg mitgeht und ihn nicht allein lässt. Bevor er weitergeht, errichtet er einen Gedenkstein. Nicht er hat einen heiligen Ort aufgesucht, sondern der Ort, an dem er erschöpft zusammengebrochen ist, dieser ganz profane Niemandsort ist ihm zu einem heiligen Ort geworden, weil er hier die Nähe, die Gegenwart Gottes erfahren hat. Der Segen, den Jakob glaubte, sich erlisten zu müssen - hier überkommt er ihn. Er, der so hoch hinaus wollte, der sich seinen Turm bauen wollte, er erfährt, dass die Himmelsleiter den Turmbau überflüssig macht und Gottes Segen ihn da erreicht, wo er es nicht erwartet - umsonst und ohne sein Zutun. Er, der nur sich selbst sah und gar wollte, dass auch Gott ihn mehr im Blick hat als irgend jemand sonst, erlebt nun, wie sein Gott sein Angesicht auf ihn richtet und "via Himmelsleiter" mit ihm redet und ihm seinen Segen und Beistand zusagt.
Mit dieser Zusage, mit dem Segen seines Gottes geht Jakob seinen Weg weiter, seinen Weg in eine unsichere und ungewisse Zukunft. Viele Jahre später wird er zurückkehren als betrogener Betrüger, dem sein Onkel Laban zuerst die falsche Frau unterjubelte und ihn dann noch um seinen Besitz bringen wollte. Er kehrt zurück mit seinen Frauen und seinen Herden, voll Sorge wegen der bevorstehenden Begegnung mit dem Bruder, den er einst betrogen hatte. Doch die Begegnung wird zur Versöhnung und so kann Jakob in seine Heimat zurückkehren. Und auf dem Heimweg sucht er wieder den Ort auf, an dem ihm einst auf der Flucht vor seinem Bruder Esau Gott erschienen war, dieser Ort, an dem er Segen erfahren hatte und der ihm zeitlebens eine Quelle der Kraft und der Gewissheit wurde.
Wo gehen wir Jakobswege? Wo machen wir Jakobserfahrungen? Errichten auch wir Denkmäler unserer Glaubens- und Segenserfahrungen? Viele sind gehetzt und gestresst von dem Zwang etwas aus sich zu machen, etwas zu erreichen, sich ein Image aufzubauen oder zu erhalten. Wie hilfreich wären da Denkmäler für jeden Ort, an dem wir zur Ruhe kommen, uns selber sein können und geliebt werden, so wie wir sind. Zu wissen, dass es solche Orte gibt, mitten in unserem Alltag, ist ungeheuer hilfreich und wichtig. Sie nicht zu übersehen und nicht zu vergessen, kann den Druck von uns nehmen, selber einen Turm in den Himmel bauen zu wollen. Manche leiden unter Schuld, die sie belastet. Ein Denkmal für erfahrene Vergebung, die Zusage, dass Gott Schuld vergibt, heilt und entlastet. Ein Denkmal für jede hilfreiche und zärtliche Hand, die sich Bedrückten und Verfolgten liebevoll entgegenstreckt. All diese Denkmäler in unserem Leben sind Quellen der Kraft und der Nähe Gottes, die uns helfen können auf den ungewissen Wegen, die wir gehen.
Der Traum von der Himmelsleiter führt uns die überraschende und heilsame Gegenwart Gottes vor Augen. Jeder Ort, auch der profanste und alltäglichste, kann uns zu einem Ort werden, an dem der Himmel über uns offen steht. Die Himmelsleiter ist ein Bild göttlichen Segens und ein Gegenbild zu den heillosen Türmen, die wir allzuoft in den Himmel bauen wollen.
Jakob schläft. Jakob träumt. Jakob erwacht. Jakob geht seinen Weg - mit Gottes Segen. Amen.
Jakob schläft. Jakob schläft nicht den Schlaf des Gerechten, der nach getaner Arbeit, nach vollbrachtem Tagewerk in sein Bett sinkt, um sich von den Mühen des Tages zu erholen. Denn er hat keine Schlafstätte mehr, kein zuhause, wo er sein Haupt niederlegen könnte. Er ist ein Mensch auf der Flucht, einer, dem sein Bruder nach dem Leben trachtet.
Jakob schläft, weil er völlig erschöpft ist und einfach nicht mehr kann. Beim Morgengrauen ist er in aller Eile aufgebrochen. Den ganzen Tag ist er buchstäblich um sein Leben gelaufen und mit jeder Stunde, mit jeder Minute entfernte er sich weiter von dem Ort, der ihm gerade noch Heimat war, von der Geborgenheit an der Seite der Mutter. Sein Vater Isaak ist tot, Esau, sein Bruder, sein erbittertster Feind, weil er ihn betrogen hat, betrogen um sein Erbe, betrogen um den väterlichen Segen. Ein Gehetzter, ein Flüchtling ist er nun, der noch dazu weiss, dass er mitschuldig ist an seinem unglücklichen Schicksal.
Jakob schläft unter freiem Himmel. Verstört durch den mörderischen Konflikt mit seinem Bruder hat er nicht einmal bemerkt, wie die Nacht hereingebrochen ist. Er hat völlig vergessen sich eine Bleibe zu suchen und muss sich nun im Schutze eines Steines draussen niederlegen. Und er denkt wohl an zuhause, an den Ort den er verlassen hat, die Heimat, die er verloren hat. Er denkt an seinen Vater, den er wohl mehr respektiert als geliebt hat. Denn stets hatte sein Vater ihm den älteren Bruder vorgezogen, den Jäger und Ackerbauern. Er denkt an seinen Vater und seinen Bruder, die er betrogen und hintergangen hat. Und er denkt an Rebekka seine Mutter, die ihn stets behütet und beschützt hat wie ihren Augapfel, der er in der Küche zur Hand gegangen war und bei der er so vieles gelernt hat. Seine Mutter Rebekka war es aber auch, die ihn stets darauf getrimmt hat, hoch hinauf zu kommen, immer der Erste und Beste zu sein. Und sie hat ihn auch zu dem Betrug angestiftet, der ihn nun zum Flüchtling gemacht hat und hat ihm geholfen, den Betrug auszuführen. Nun liegt er, der so hoch hinaus wollte, erschöpft und niedergeschlagen am Boden.
Jakob schläft und im Schlaf überfällt ihn ein Traum. Und es ist kein Alptraum, der ihm den Schlaf raubt. Nein, im Traum öffnet sich ihm der Himmel und dieser Niemandsort im Lande Nirgendwo wird ihm zum heiligen Boden, zum Ort der Gegenwart Gottes. Im Traum steht ihm der Himmel offen und eine Leiter verbindet diesen Niemandsort mit dem offenen Himmel. Kein Weg nach oben ist diese Leiter. Jakob muss ihre Stufen nicht mühsam erklimmen. Er, der immer hoch hinaus wollte, erfährt in diesem Traum, dass sein Ort unten am Boden ist. Die Leiter ist von oben her auf die Erde gerichtet und Engel steigen daran auf und nieder. Nicht er muss den Weg in den Himmel gehen, sondern bekommt gewissermassen Besuch von oben.
Und im Traum steht Gott vor ihm und redet mit ihm: "Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und Isaaks Gott. Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe."
Später hat man sich in Israel diese Geschichte von Generation zu Generation weitererzählt. Land und Nachkommenschaft, so erzählte man sich, habe Gott, dem Jakob verheissen. Aber entscheidend ist nicht der Inhalt der Verheissung, sondern dass hier die Geschichte einer grossen Überraschung erzählt wird. Entscheidend ist, dass Jakob, der am Boden liegt, ein gehetzter Flüchtling, im Traum die Gewissheit erhält, dass Gott bei ihm ist und in auf seinem Weg in eine ungewisse Zukunft mit seinem Segen begleitet.
Jakob erwacht. Und im Erwachen lässt er den Traum nicht einfach hinter sich. Er nimmt die Botschaft dieses Traumes mit auf den Weg, die Botschaft, dass Gott auf seinem Weg mitgeht und ihn nicht allein lässt. Bevor er weitergeht, errichtet er einen Gedenkstein. Nicht er hat einen heiligen Ort aufgesucht, sondern der Ort, an dem er erschöpft zusammengebrochen ist, dieser ganz profane Niemandsort ist ihm zu einem heiligen Ort geworden, weil er hier die Nähe, die Gegenwart Gottes erfahren hat. Der Segen, den Jakob glaubte, sich erlisten zu müssen - hier überkommt er ihn. Er, der so hoch hinaus wollte, der sich seinen Turm bauen wollte, er erfährt, dass die Himmelsleiter den Turmbau überflüssig macht und Gottes Segen ihn da erreicht, wo er es nicht erwartet - umsonst und ohne sein Zutun. Er, der nur sich selbst sah und gar wollte, dass auch Gott ihn mehr im Blick hat als irgend jemand sonst, erlebt nun, wie sein Gott sein Angesicht auf ihn richtet und "via Himmelsleiter" mit ihm redet und ihm seinen Segen und Beistand zusagt.
Mit dieser Zusage, mit dem Segen seines Gottes geht Jakob seinen Weg weiter, seinen Weg in eine unsichere und ungewisse Zukunft. Viele Jahre später wird er zurückkehren als betrogener Betrüger, dem sein Onkel Laban zuerst die falsche Frau unterjubelte und ihn dann noch um seinen Besitz bringen wollte. Er kehrt zurück mit seinen Frauen und seinen Herden, voll Sorge wegen der bevorstehenden Begegnung mit dem Bruder, den er einst betrogen hatte. Doch die Begegnung wird zur Versöhnung und so kann Jakob in seine Heimat zurückkehren. Und auf dem Heimweg sucht er wieder den Ort auf, an dem ihm einst auf der Flucht vor seinem Bruder Esau Gott erschienen war, dieser Ort, an dem er Segen erfahren hatte und der ihm zeitlebens eine Quelle der Kraft und der Gewissheit wurde.
Wo gehen wir Jakobswege? Wo machen wir Jakobserfahrungen? Errichten auch wir Denkmäler unserer Glaubens- und Segenserfahrungen? Viele sind gehetzt und gestresst von dem Zwang etwas aus sich zu machen, etwas zu erreichen, sich ein Image aufzubauen oder zu erhalten. Wie hilfreich wären da Denkmäler für jeden Ort, an dem wir zur Ruhe kommen, uns selber sein können und geliebt werden, so wie wir sind. Zu wissen, dass es solche Orte gibt, mitten in unserem Alltag, ist ungeheuer hilfreich und wichtig. Sie nicht zu übersehen und nicht zu vergessen, kann den Druck von uns nehmen, selber einen Turm in den Himmel bauen zu wollen. Manche leiden unter Schuld, die sie belastet. Ein Denkmal für erfahrene Vergebung, die Zusage, dass Gott Schuld vergibt, heilt und entlastet. Ein Denkmal für jede hilfreiche und zärtliche Hand, die sich Bedrückten und Verfolgten liebevoll entgegenstreckt. All diese Denkmäler in unserem Leben sind Quellen der Kraft und der Nähe Gottes, die uns helfen können auf den ungewissen Wegen, die wir gehen.
Der Traum von der Himmelsleiter führt uns die überraschende und heilsame Gegenwart Gottes vor Augen. Jeder Ort, auch der profanste und alltäglichste, kann uns zu einem Ort werden, an dem der Himmel über uns offen steht. Die Himmelsleiter ist ein Bild göttlichen Segens und ein Gegenbild zu den heillosen Türmen, die wir allzuoft in den Himmel bauen wollen.
Jakob schläft. Jakob träumt. Jakob erwacht. Jakob geht seinen Weg - mit Gottes Segen. Amen.
Samstag, 17. Juli 2010
Predigt vom 18. Juli 2010 zu Apostelgeschichte 2,41-47
Liebe Gemeinde,
unser heutiger Predigttext führt uns zu den Anfängen der christlichen Gemeinde, der Kirche. Da könnten wir schon ein wenig neidisch werden, angesichts unserer sonntäglich kleinen Schar, wenn wir von dieser boomenden Urgemeinde lesen. 3000 neue Mitglieder an einem einzigen Tag und täglich wurden neue hinzugefügt. Und vielleicht auch etwas ärgerlich, wenn die so mit ihren Wachstumsziffern plagieren. Wird da nicht einiges übertrieben und idealisiert? Wahrscheinlich schon, denn die Apostelgeschichte ist mit einem Abstand von einem halben Jahrhundert zu den Anfängen der christlichen Gemeinden geschrieben und vermutlich war die Wirklichkeit zur Zeit des Lukas längst nicht mehr so ideal wie zur Zeit des Aufbruchs. Und sie konnte es auch nicht sein, wohnt doch den Anfängen und Aufbrüchen immer ein ganz besonderer Zauber, eine ganz besondere Energie inne - sei das in einem neuen Projekt, in einem neugegründeten Unternehmen, in einem Verein, in einer Familie, in einer Kirche. Es wäre unfair und würde niemanden helfen, die Energie und die Wachstumsziffern des Anfangs zum Massstab zu machen und die Gegenwart daran zu messen - sei das zur Zeit des Lukas oder heute.
Lukas erzählt den Christen am Ende des 1. Jahrhunderts diese Geschichte nicht, um sie an solchen beeindruckenden Wachstumsziffern zu messen. Er will sie ins Nachdenken bringen, was denn das Geheimnis dieses Anfangs war, was die Urgemeinde für viele Menschen so attraktiv und glaubwürdig machte. Für Lukas sind es nicht grossartige Prediger oder spektakuläre Ereignisse - auch wenn man das Pfingstgeschehen durchaus spektakulär nennen darf. Es sind ganz einfache Dinge: die Lehre der Apostel, die Gemeinschaft, das Brotbrechen und das Gebet. Und in alledem war es für Lukas das Wirken Gottes, sein pfingstlicher Geist, der die Gemeinde stärkte.
Woran aber zeigte sich dieser besondere Geist? Ich denke als erstes an die Gastfreundschaft. Die ersten Christen trafen sich in Privathäusern, die Gottesdienste waren oft mit gemeinsamen Mahlzeiten verbunden. Unsichtbar stand wohl über diesen christlichen Häusern das Schild „Herzlich willkommen“ und diese Gastfreundschaft wurde gelebt nicht nur gegenüber Menschen mit gleichem Rang und Status. Hier war tatsächlich der Sklave genauso willkommen wie der Grundbesitzer, die vornehme Dame wie die arme Witwe, der Bauer wie der Handwerker oder der Knecht. Weil sie glaubten, dass sie alle unterschiedslos von einer göttlichen Liebe und Zuwendung lebten, die sich niemand selber verdienen konnte, verloren bestehende Unterschiede an Bedeutung. Gerade für die, die sonst am Rande standen, war das eine befreiende Botschaft. Die, die den Massstäben der Gesetzestreuen nicht genügten, konnten aufatmen. Für die Wohlhabenden und Vornehmen war es vermutlich auch ein Lebensgewinn, nicht ihren Status zeigen und verteidigen zu müssen, sondern ihren Besitz und ihre Fähigkeiten für andere einsetzen zu können. Sie merkten plötzlich: wenn wir die Unterschiede und unsere Vorurteile aufgeben und nicht mehr uns und unseren Besitz verteidigen, sondern miteinander teilen, dann werden wir alle reicher und zufriedener.
Dass alle gleichrangig und gleich wertvoll sind, das war besonders beim Brotbrechen, bei der Feier des Abendmahls zu spüren. Leben wir nicht alle letztlich von dem, was Gott uns schenkt? Dürfen wir nicht alle auf Vergebung vertrauen, wo wirscheitern und Fehler machen? Wie sollten wir Grenzen ziehen, wenn Jesus alle eingeladen hat? Im Brechen des Brotes spürten sie, dass da etwas ist, das stärker ist als alles Trennende. Denn es sind ja nicht ihre gemeinsamen Interessen, die sie verbinden und auch nicht ihre Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe, einer gesellschaftlichen Schicht, einem Vaterland - nein, verbunden wussten sie sich in ihrem Vertrauen, dass Gottes Liebe allen gilt und sie in Christus miteinander verbunden sind und dazu berufen, füreinander einzustehen und zueinander Sorge zu tragen. Im Ritual des Brotbrechens erkannten sie: auf die Liebe und Hingabe Jesu können wir uns verlassen und weil das so ist, wollen wir so miteinander leben, dass eines sich auf das andere verlassen kann und niemand im Stich gelassen wird.
In alledem blieben sie beständig in der Apostel Lehre. Sie vergassen nicht, dass sie ihr Leben und ihr Glück nicht sich selbst verdankten, sondern dem Geber allen Lebens. Sie vertrauten darauf, dass ihr Leben einen tieferen Grund und ein Ziel hat. Sie trauten der Kraft der Vergebung und der Kraft der Gemeinschaft. Sie feierten miteinander Gottesdienst, sangen und beteten und hörten auf die Worte der Schrift und auf die Geschichten von Jesus.
Und sie hielten fest am Gebet. Allein und in Gemeinschaft konnten sie Gott danken für das Gute in ihrem Leben und sie konnten ihm anvertrauen, was ihnen Sorgen und Kummer bereitete. So konnten sie bewusster und zugleich gelassener leben, denn ihre Dankbarkeit liess sie das Gute achtsamer wahrnehmen und in ihren Bitten und Klagen vertrauten sie darauf, dass sie in ihren Sorgen und Lasten nicht alleine waren. Es waren Geschichten vom guten Leben, die sie einander erzählten - nicht von einem Leben, das nur Gutes mit sich bringt, nur Glück und Erfolge, aber von einem Leben, dass auch im Schweren und in den Misserfolgen gut bleibt, weil es Gottes Gabe ist, weil wir es miteinander teilen können, weil Gott uns die Kraft geben will, die wir brauchen.
Welche Geschichten vom guten Leben wollen wir einander und unseren Kindern erzählen? Welche Geschichten wollen wir dem kleinen Nick, den wir heute getauft haben erzählen? Sind es Geschichten, in denen Menschen hart und stark sein, etwas aus sich machen und sich durchsetzen müssen? sind es Geschichten, die von den Erfolgreichen und vom Glück des Besitzes reden? Oder sind es Geschichten, die von der Liebe, von der Achtsamkeit, von geteilter Freude und geteiltem Leid handeln? Sind es Geschichten, in denen jeder seines Glückes Schmied ist oder Geschichten, in denen jeder das Seine getrost aus Gottes Hand annehmen kann. Heisst es in unseren Geschichten „gut ist, was sich lohnt“ oder „gut ist, was dem anderen hilft“? Kommt Gott in unseren Geschichten überhaupt vor und wenn ja, ist er dann der kontrollierende Übervater oder der liebevolle und verlässliche Grund allen Lebens. Und erzählen wir unsere Geschichten so, dass die anderen, dass unsere Kinder sie glauben können, weil wir so leben?
Möge Gott uns die Augen dafür öffnen, wie unser Leben gelingen kann und uns helfen, dass wir einander Mut zu einem Leben machen, dass uns miteinander und mit dem Grund unseres Lebens verbindet. Amen.
unser heutiger Predigttext führt uns zu den Anfängen der christlichen Gemeinde, der Kirche. Da könnten wir schon ein wenig neidisch werden, angesichts unserer sonntäglich kleinen Schar, wenn wir von dieser boomenden Urgemeinde lesen. 3000 neue Mitglieder an einem einzigen Tag und täglich wurden neue hinzugefügt. Und vielleicht auch etwas ärgerlich, wenn die so mit ihren Wachstumsziffern plagieren. Wird da nicht einiges übertrieben und idealisiert? Wahrscheinlich schon, denn die Apostelgeschichte ist mit einem Abstand von einem halben Jahrhundert zu den Anfängen der christlichen Gemeinden geschrieben und vermutlich war die Wirklichkeit zur Zeit des Lukas längst nicht mehr so ideal wie zur Zeit des Aufbruchs. Und sie konnte es auch nicht sein, wohnt doch den Anfängen und Aufbrüchen immer ein ganz besonderer Zauber, eine ganz besondere Energie inne - sei das in einem neuen Projekt, in einem neugegründeten Unternehmen, in einem Verein, in einer Familie, in einer Kirche. Es wäre unfair und würde niemanden helfen, die Energie und die Wachstumsziffern des Anfangs zum Massstab zu machen und die Gegenwart daran zu messen - sei das zur Zeit des Lukas oder heute.
Lukas erzählt den Christen am Ende des 1. Jahrhunderts diese Geschichte nicht, um sie an solchen beeindruckenden Wachstumsziffern zu messen. Er will sie ins Nachdenken bringen, was denn das Geheimnis dieses Anfangs war, was die Urgemeinde für viele Menschen so attraktiv und glaubwürdig machte. Für Lukas sind es nicht grossartige Prediger oder spektakuläre Ereignisse - auch wenn man das Pfingstgeschehen durchaus spektakulär nennen darf. Es sind ganz einfache Dinge: die Lehre der Apostel, die Gemeinschaft, das Brotbrechen und das Gebet. Und in alledem war es für Lukas das Wirken Gottes, sein pfingstlicher Geist, der die Gemeinde stärkte.
Woran aber zeigte sich dieser besondere Geist? Ich denke als erstes an die Gastfreundschaft. Die ersten Christen trafen sich in Privathäusern, die Gottesdienste waren oft mit gemeinsamen Mahlzeiten verbunden. Unsichtbar stand wohl über diesen christlichen Häusern das Schild „Herzlich willkommen“ und diese Gastfreundschaft wurde gelebt nicht nur gegenüber Menschen mit gleichem Rang und Status. Hier war tatsächlich der Sklave genauso willkommen wie der Grundbesitzer, die vornehme Dame wie die arme Witwe, der Bauer wie der Handwerker oder der Knecht. Weil sie glaubten, dass sie alle unterschiedslos von einer göttlichen Liebe und Zuwendung lebten, die sich niemand selber verdienen konnte, verloren bestehende Unterschiede an Bedeutung. Gerade für die, die sonst am Rande standen, war das eine befreiende Botschaft. Die, die den Massstäben der Gesetzestreuen nicht genügten, konnten aufatmen. Für die Wohlhabenden und Vornehmen war es vermutlich auch ein Lebensgewinn, nicht ihren Status zeigen und verteidigen zu müssen, sondern ihren Besitz und ihre Fähigkeiten für andere einsetzen zu können. Sie merkten plötzlich: wenn wir die Unterschiede und unsere Vorurteile aufgeben und nicht mehr uns und unseren Besitz verteidigen, sondern miteinander teilen, dann werden wir alle reicher und zufriedener.
Dass alle gleichrangig und gleich wertvoll sind, das war besonders beim Brotbrechen, bei der Feier des Abendmahls zu spüren. Leben wir nicht alle letztlich von dem, was Gott uns schenkt? Dürfen wir nicht alle auf Vergebung vertrauen, wo wirscheitern und Fehler machen? Wie sollten wir Grenzen ziehen, wenn Jesus alle eingeladen hat? Im Brechen des Brotes spürten sie, dass da etwas ist, das stärker ist als alles Trennende. Denn es sind ja nicht ihre gemeinsamen Interessen, die sie verbinden und auch nicht ihre Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe, einer gesellschaftlichen Schicht, einem Vaterland - nein, verbunden wussten sie sich in ihrem Vertrauen, dass Gottes Liebe allen gilt und sie in Christus miteinander verbunden sind und dazu berufen, füreinander einzustehen und zueinander Sorge zu tragen. Im Ritual des Brotbrechens erkannten sie: auf die Liebe und Hingabe Jesu können wir uns verlassen und weil das so ist, wollen wir so miteinander leben, dass eines sich auf das andere verlassen kann und niemand im Stich gelassen wird.
In alledem blieben sie beständig in der Apostel Lehre. Sie vergassen nicht, dass sie ihr Leben und ihr Glück nicht sich selbst verdankten, sondern dem Geber allen Lebens. Sie vertrauten darauf, dass ihr Leben einen tieferen Grund und ein Ziel hat. Sie trauten der Kraft der Vergebung und der Kraft der Gemeinschaft. Sie feierten miteinander Gottesdienst, sangen und beteten und hörten auf die Worte der Schrift und auf die Geschichten von Jesus.
Und sie hielten fest am Gebet. Allein und in Gemeinschaft konnten sie Gott danken für das Gute in ihrem Leben und sie konnten ihm anvertrauen, was ihnen Sorgen und Kummer bereitete. So konnten sie bewusster und zugleich gelassener leben, denn ihre Dankbarkeit liess sie das Gute achtsamer wahrnehmen und in ihren Bitten und Klagen vertrauten sie darauf, dass sie in ihren Sorgen und Lasten nicht alleine waren. Es waren Geschichten vom guten Leben, die sie einander erzählten - nicht von einem Leben, das nur Gutes mit sich bringt, nur Glück und Erfolge, aber von einem Leben, dass auch im Schweren und in den Misserfolgen gut bleibt, weil es Gottes Gabe ist, weil wir es miteinander teilen können, weil Gott uns die Kraft geben will, die wir brauchen.
Welche Geschichten vom guten Leben wollen wir einander und unseren Kindern erzählen? Welche Geschichten wollen wir dem kleinen Nick, den wir heute getauft haben erzählen? Sind es Geschichten, in denen Menschen hart und stark sein, etwas aus sich machen und sich durchsetzen müssen? sind es Geschichten, die von den Erfolgreichen und vom Glück des Besitzes reden? Oder sind es Geschichten, die von der Liebe, von der Achtsamkeit, von geteilter Freude und geteiltem Leid handeln? Sind es Geschichten, in denen jeder seines Glückes Schmied ist oder Geschichten, in denen jeder das Seine getrost aus Gottes Hand annehmen kann. Heisst es in unseren Geschichten „gut ist, was sich lohnt“ oder „gut ist, was dem anderen hilft“? Kommt Gott in unseren Geschichten überhaupt vor und wenn ja, ist er dann der kontrollierende Übervater oder der liebevolle und verlässliche Grund allen Lebens. Und erzählen wir unsere Geschichten so, dass die anderen, dass unsere Kinder sie glauben können, weil wir so leben?
Möge Gott uns die Augen dafür öffnen, wie unser Leben gelingen kann und uns helfen, dass wir einander Mut zu einem Leben machen, dass uns miteinander und mit dem Grund unseres Lebens verbindet. Amen.
Samstag, 3. Juli 2010
Predigt vom 4. Juli 2010 zu 1. Kor 1,18-25
Liebe Gemeinde,
im Jahr 1856 machten Forscher auf dem Palatin in Rom eine interessante Entdeckung. Als sie den Trümmerschutt aus einer alten römischen Kadetten-Anstalt entfernt hatten, fanden sie an der Wand ein Kreuz. Es war mit einem Nagel oder einem Messer primitiv in den Wandverputz eingeritzt. Ein Junge hebt grüßend, betend seine Hand zum Kreuz hin. Am Kreuz hängt ein Mann. Aber sein Kopf ist ein Eselskopf. Darunter steht in ungelenken Buchstaben: Alexamenos betet seinen Gott an! Es ist also eine Karikatur, ein Spott-Kruzifix. Die Forscher glauben, es müsse in der Zeit von 123 bis 126 nach Chr. entstanden sein. Eines der frühesten Bilder des Kreuzes. Aber ein Spott-Bild. Gott am Kreuz? Dieser Gott ist ein Esel, und wer ihn anbetet, ist es auch!
Für uns ist das Kreuz so sehr als Symbol vertraut, dass wir oft gar nicht mehr ahnen, was das für eine kühne Aussage war als die ersten Christen in dem, der da am Kreuz gehangen hat, Gott selbst erkannten. Hiess es nicht sogar in den Heiligen Schriften: „Denn ein Gehängter, ein Gekreuzigter ist verflucht.“ (5. Mose 21,23)? Das griechische Ideal war Weisheit und Erkenntnis, die römische Herrschaft beruhte auf Macht, militärischer Stärke und politischer Klugheit. Ob durch Weisheit oder durch Stärke - man wollte das Leben in den Griff bekommen, sich des Lebens bemächtigen und das Schwache, Fehlerhafte, Unvollkommene ausmerzen. Die Götter waren die Garanten dieser Bemächtigung, an ihrer Macht hatten die Weisen und die Herrschenden Anteil. Die natürliche Ordnung war eine Pyramide und Oben und Unten waren klar verteilt. Und jetzt kamen diese Christen und beteten einen Gekreuzigten, einen Ohnmächtigen, der Macht hilflos und wehrlos Ausgelieferten an!
Eine Torheit sondergleichen musste das für viele ihrer Zeitgenossen sein.
Aber für die, die diesen Glauben annahmen, war es eine Gotteskraft. Denn da hatten auf einmal die, die am unteren Ende der gesellschaftlichen Pyramide standen einen völlig anderen Stellenwert, eine ganz neue Würde. Da konnten die Schwachen, die Verletzlichen, die Fehlerhaften sich plötzlich mit ganz anderen Augen sehen. Da mussten sich die, denen die Weisheit der Weisen unzugänglich blieb, nicht mehr als minderwertig fühlen. Da zeigte sich, dass das Geheimnis Gottes sich nicht den Wissenden und Weisen offenbarte, sondern denen, die sich vom Gekreuzigten berühren liessen und bereit waren, diese Liebe zum Schwachen, Bedürftigen und Verletzlichen zu teilen.
Die Liebe zum Schwachen, Bedürftigen und Verletzlichen ist eines der Herzstücke unseres Glaubens. Und sie ist heute nicht weniger wichtig als vor 2000 Jahren und sie ist auch heute alles andere als selbstverständlich. Was zu Zeiten des Paulus philosophische Weisheit war ist in meinen Augen heute das alleinige Denken in Kategorien von Nutzen, Effizienz und Ertrag. Wer nichts leisten will, ist selber schuld. Wer nicht genug leisten kann, der wird wegrationalisiert und für den ist die staatliche Fürsorge zuständig, zumindest solange wir uns das noch leisten können. Vernünftig handelt, wer sich um sein berufliches Fortkommen kümmert und seine Anstrengungen darauf konzentriert. Bewundert wird der, der etwas erreicht hat, der sich durchsetzt und wir halten den für glücklich, der viel besitzt. Zeit für einen Schwatz, für einen zweckfreien Besuch, für ein freiwilliges Engagement ist fast ein Luxus und es gibt mehr als genug Leute, die von sich sagen: „Ich bin doch nicht so dumm, ein ehrenamtliches Engagement zu übernehmen. Das bringt mir ja nichts, da springt nichts dabei heraus.“ Und vermutlich gibt es noch viel mehr Menschen, die so denken ohne es zu sagen.
Unser christlicher Glaube beruft sich auf einen, der seine besten Jahre damit zugebracht hat, umherzuziehen und den Leuten Geschichten zu erzählen, der sich Zeit genommen hat für Kinder und ihre Mütter und das nicht für weniger wichtig hielt als gelehrte theologische Debatten, der den Blinden gefragt hat: „Was willst du, dass ich dir tue?“ Wir berufen uns auf einen, der seine Kraft eingesetzt hat für die Schwachen, die Verletzlichen, für die, die Fehler gemacht haben und von anderen schief angesehen wurden. Stets hatte er eine Vorliebe für die scheinbar hoffnungslosen Fälle. Er hat sich nicht angepasst als es um sein Leben ging. Er fand seinen Sinn und seinen Auftrag in Hingabe und Opferbereitschaft.
Eine solche Botschaft, ein solcher Glaube mag auch heute für viele unvernünftig klingen, im besten Falle als Ausdruck eines Gutmenschentums, das man vielleicht bewundert, vielleicht auch belächelt. Aber vielleicht ist diese Botschaft viel vernünftiger als manches, was wir im Allgemeinen für vernünftig halten. Denn wenn wir auf unser Herz hören, dann ahnen wir, dass die Zeit, die wir uns füreinander nehmen kostbarer ist als die, die sich in Franken und Rappen auszahlt, das Gefühl, etwas gutes und Sinnvolles zu tun, mehr zählt als vieles andere. Und wir alle kennen die Momente, wo wir spüren, wie unersetzbar ein gutes Wort, eine Umarmung, ein aufmerksames Zuhören ist.
Ein Antiintellektualismus, Spott über die „Gschite“ (die Gescheiten) lässt sich aus dem Predigttext allerdings nicht ableiten. Weisheit, Erkenntnis und Bildung sind auch für Paulus etwas Gutes und Erstrebenswertes. Nur dass sich daran nicht der Wert eines Menschen bemisst und sie nicht zureichend sind, das Leben zu erfassen. Dazu braucht es eine Herzensweisheit, die Achtsamkeit für das Schwache und Verletzliche. Der Gegensatz zur unzulänglichen Weisheit der Welt ist ja nicht die Torheit, sondern die Weisheit Gottes, eine Herzensweisheit und Herzensbildung, die ihr Mass am Gekreuzigten nimmt.
Die Achtsamkeit für das Schwache und Verletzliche brauchen wir aber nicht nur im Umgang mit anderen. Sie können uns auch eine heilsame Gotteskraft sein, wenn wir auf uns selber schauen. Wie oft überfordern wir uns mit Vollkommenheitsidealen, leiden an unseren Unvollkommenheiten und Fehlern. Wenn wir dann scheitern, suchen wir entweder Schuldige oder halten uns selbst für wertlos. Wenn wir Fehler gemacht haben, suchen wir nach Entschuldigungen oder wir verurteilen uns. Und wie oft habe ich schon von Menschen, die aus Gründen des Alters oder ihrer Gesundheit nicht mehr so produktiv sein können, gehört: ich bin doch nichts mehr wert; für was bin ich denn noch da? Die Weisheit des Kreuzes kann uns ermutigen, das eigene Kreuz zu tragen, die Brüche und die Narben des eigenen Lebens anzunehmen. Und dann dankbar wahrzunehmen, was uns noch möglich ist, was gelingt, was für uns Sinn macht. Und uns daran zu freuen, dass wir in Gottes Augen sein dürfen, so wie wir sind und nicht etwas aus uns machen müssen.
Denn das Wort vom Kreuz ist Torheit für die, die verloren gehen, für die aber, die gerettet werden, für uns, ist es Gottes Kraft. Hüten wir uns davor, die Welt nun erneut einzuteilen in Verlorene und Gerettete. Erlernen wir vielmehr die Weisheit des Kreuzes, die nichts und niemand verlorengibt und bitten darum, dass wir uns selbst nicht verlieren an Ideale und Ansprüche, die uns überfordern und einander mit unseren Urteilen und Ansprüchen nicht die Luft zum Leben nehmen. Amen.
im Jahr 1856 machten Forscher auf dem Palatin in Rom eine interessante Entdeckung. Als sie den Trümmerschutt aus einer alten römischen Kadetten-Anstalt entfernt hatten, fanden sie an der Wand ein Kreuz. Es war mit einem Nagel oder einem Messer primitiv in den Wandverputz eingeritzt. Ein Junge hebt grüßend, betend seine Hand zum Kreuz hin. Am Kreuz hängt ein Mann. Aber sein Kopf ist ein Eselskopf. Darunter steht in ungelenken Buchstaben: Alexamenos betet seinen Gott an! Es ist also eine Karikatur, ein Spott-Kruzifix. Die Forscher glauben, es müsse in der Zeit von 123 bis 126 nach Chr. entstanden sein. Eines der frühesten Bilder des Kreuzes. Aber ein Spott-Bild. Gott am Kreuz? Dieser Gott ist ein Esel, und wer ihn anbetet, ist es auch!
Für uns ist das Kreuz so sehr als Symbol vertraut, dass wir oft gar nicht mehr ahnen, was das für eine kühne Aussage war als die ersten Christen in dem, der da am Kreuz gehangen hat, Gott selbst erkannten. Hiess es nicht sogar in den Heiligen Schriften: „Denn ein Gehängter, ein Gekreuzigter ist verflucht.“ (5. Mose 21,23)? Das griechische Ideal war Weisheit und Erkenntnis, die römische Herrschaft beruhte auf Macht, militärischer Stärke und politischer Klugheit. Ob durch Weisheit oder durch Stärke - man wollte das Leben in den Griff bekommen, sich des Lebens bemächtigen und das Schwache, Fehlerhafte, Unvollkommene ausmerzen. Die Götter waren die Garanten dieser Bemächtigung, an ihrer Macht hatten die Weisen und die Herrschenden Anteil. Die natürliche Ordnung war eine Pyramide und Oben und Unten waren klar verteilt. Und jetzt kamen diese Christen und beteten einen Gekreuzigten, einen Ohnmächtigen, der Macht hilflos und wehrlos Ausgelieferten an!
Eine Torheit sondergleichen musste das für viele ihrer Zeitgenossen sein.
Aber für die, die diesen Glauben annahmen, war es eine Gotteskraft. Denn da hatten auf einmal die, die am unteren Ende der gesellschaftlichen Pyramide standen einen völlig anderen Stellenwert, eine ganz neue Würde. Da konnten die Schwachen, die Verletzlichen, die Fehlerhaften sich plötzlich mit ganz anderen Augen sehen. Da mussten sich die, denen die Weisheit der Weisen unzugänglich blieb, nicht mehr als minderwertig fühlen. Da zeigte sich, dass das Geheimnis Gottes sich nicht den Wissenden und Weisen offenbarte, sondern denen, die sich vom Gekreuzigten berühren liessen und bereit waren, diese Liebe zum Schwachen, Bedürftigen und Verletzlichen zu teilen.
Die Liebe zum Schwachen, Bedürftigen und Verletzlichen ist eines der Herzstücke unseres Glaubens. Und sie ist heute nicht weniger wichtig als vor 2000 Jahren und sie ist auch heute alles andere als selbstverständlich. Was zu Zeiten des Paulus philosophische Weisheit war ist in meinen Augen heute das alleinige Denken in Kategorien von Nutzen, Effizienz und Ertrag. Wer nichts leisten will, ist selber schuld. Wer nicht genug leisten kann, der wird wegrationalisiert und für den ist die staatliche Fürsorge zuständig, zumindest solange wir uns das noch leisten können. Vernünftig handelt, wer sich um sein berufliches Fortkommen kümmert und seine Anstrengungen darauf konzentriert. Bewundert wird der, der etwas erreicht hat, der sich durchsetzt und wir halten den für glücklich, der viel besitzt. Zeit für einen Schwatz, für einen zweckfreien Besuch, für ein freiwilliges Engagement ist fast ein Luxus und es gibt mehr als genug Leute, die von sich sagen: „Ich bin doch nicht so dumm, ein ehrenamtliches Engagement zu übernehmen. Das bringt mir ja nichts, da springt nichts dabei heraus.“ Und vermutlich gibt es noch viel mehr Menschen, die so denken ohne es zu sagen.
Unser christlicher Glaube beruft sich auf einen, der seine besten Jahre damit zugebracht hat, umherzuziehen und den Leuten Geschichten zu erzählen, der sich Zeit genommen hat für Kinder und ihre Mütter und das nicht für weniger wichtig hielt als gelehrte theologische Debatten, der den Blinden gefragt hat: „Was willst du, dass ich dir tue?“ Wir berufen uns auf einen, der seine Kraft eingesetzt hat für die Schwachen, die Verletzlichen, für die, die Fehler gemacht haben und von anderen schief angesehen wurden. Stets hatte er eine Vorliebe für die scheinbar hoffnungslosen Fälle. Er hat sich nicht angepasst als es um sein Leben ging. Er fand seinen Sinn und seinen Auftrag in Hingabe und Opferbereitschaft.
Eine solche Botschaft, ein solcher Glaube mag auch heute für viele unvernünftig klingen, im besten Falle als Ausdruck eines Gutmenschentums, das man vielleicht bewundert, vielleicht auch belächelt. Aber vielleicht ist diese Botschaft viel vernünftiger als manches, was wir im Allgemeinen für vernünftig halten. Denn wenn wir auf unser Herz hören, dann ahnen wir, dass die Zeit, die wir uns füreinander nehmen kostbarer ist als die, die sich in Franken und Rappen auszahlt, das Gefühl, etwas gutes und Sinnvolles zu tun, mehr zählt als vieles andere. Und wir alle kennen die Momente, wo wir spüren, wie unersetzbar ein gutes Wort, eine Umarmung, ein aufmerksames Zuhören ist.
Ein Antiintellektualismus, Spott über die „Gschite“ (die Gescheiten) lässt sich aus dem Predigttext allerdings nicht ableiten. Weisheit, Erkenntnis und Bildung sind auch für Paulus etwas Gutes und Erstrebenswertes. Nur dass sich daran nicht der Wert eines Menschen bemisst und sie nicht zureichend sind, das Leben zu erfassen. Dazu braucht es eine Herzensweisheit, die Achtsamkeit für das Schwache und Verletzliche. Der Gegensatz zur unzulänglichen Weisheit der Welt ist ja nicht die Torheit, sondern die Weisheit Gottes, eine Herzensweisheit und Herzensbildung, die ihr Mass am Gekreuzigten nimmt.
Die Achtsamkeit für das Schwache und Verletzliche brauchen wir aber nicht nur im Umgang mit anderen. Sie können uns auch eine heilsame Gotteskraft sein, wenn wir auf uns selber schauen. Wie oft überfordern wir uns mit Vollkommenheitsidealen, leiden an unseren Unvollkommenheiten und Fehlern. Wenn wir dann scheitern, suchen wir entweder Schuldige oder halten uns selbst für wertlos. Wenn wir Fehler gemacht haben, suchen wir nach Entschuldigungen oder wir verurteilen uns. Und wie oft habe ich schon von Menschen, die aus Gründen des Alters oder ihrer Gesundheit nicht mehr so produktiv sein können, gehört: ich bin doch nichts mehr wert; für was bin ich denn noch da? Die Weisheit des Kreuzes kann uns ermutigen, das eigene Kreuz zu tragen, die Brüche und die Narben des eigenen Lebens anzunehmen. Und dann dankbar wahrzunehmen, was uns noch möglich ist, was gelingt, was für uns Sinn macht. Und uns daran zu freuen, dass wir in Gottes Augen sein dürfen, so wie wir sind und nicht etwas aus uns machen müssen.
Denn das Wort vom Kreuz ist Torheit für die, die verloren gehen, für die aber, die gerettet werden, für uns, ist es Gottes Kraft. Hüten wir uns davor, die Welt nun erneut einzuteilen in Verlorene und Gerettete. Erlernen wir vielmehr die Weisheit des Kreuzes, die nichts und niemand verlorengibt und bitten darum, dass wir uns selbst nicht verlieren an Ideale und Ansprüche, die uns überfordern und einander mit unseren Urteilen und Ansprüchen nicht die Luft zum Leben nehmen. Amen.
Samstag, 12. Juni 2010
Predigt vom 13. Juni 2010 zu 5. Mose 26,5-9 und Phil 2,5-11
Liebe Mitchristen,
Generationen gemeinsam unterwegs - so lautete das Motto des diesjährigen Kirchensonntags Anfang Februar und wir haben in Oberbalm daraus auch das Jahresthema für unsere Kirchgemeinde gemacht. Es geht uns dabei weniger um neue Anlässe, sondern darum, von Zeit zu Zeit uns selbst und anderen in Erinnerung zu rufen, wie wichtig und auch wie verletzlich das Zusammenleben der Generationen ist. Es gehört zu den ganz wichtigen Schätzen unserer dörflichen Strukturen, dass es da in den Vereinen, bei Festen und Anlässen noch zu einer Begegnung der Generationen kommt, Junge und Alte an einem Ort miteinander feiern. In Oberbalm gehören dazu zahlreiche Vereinsfeste, aber auch der Racletteabend, das Schulfest zum Abschluss des Schuljahres, der Bettagslauf, der Basar im November und manch anderes mehr. Das ist nicht selbstverständlich. An vielen Orten, besonders in städtischen Gebieten sind solche gemeinsamen Orte selten geworden. Und es ist auch nicht ausgemacht, dass das in 20 oder 30 Jahren bei uns immer noch so sein wird. Es braucht Menschen dazu, die sich dafür engagieren, denen Traditionen wichtig genug sind, um sie zu pflegen und die offen genug sind, flexibel mit Traditionen umzugehen und neue Wege zu gehen.
Ein wunderbares Beispiel, wie Generationen gemeinsam unterwegs sein können, haben wir heute mit der Musikgesellschaft Oberbalm vor uns. Die Ältesten sind schon im AHV-Alter, die Jüngsten noch schulpflichtig. In eurer sonstigen Freizeit sind eure Interessen und auch eure musikalischen Vorlieben vermutlich ziemlich unterschiedlich. Aber ihr habt es geschafft, gemeinsam unterwegs zu sein. Was es dazu braucht, ist zuerst einmal Engagement und die Bereitschaft, etwas zu investieren. Erst kürzlich ist wieder die Einladung zu einem neuen Jungbläserkurs ins Haus geflattert. Es ist vermutlich den wenigsten wirklich bewusst, wieviel Geld und Engagement in die Ausbildung der Jungbläser investiert wird. Aber ohne dieses finanzielle, zeitliche und ideelle Engagement gäbe es schon bald keine MGO mehr. Ich denke, ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass es euch gelungen ist, Tradition und Neues zu verbinden. Die Älteren unter euch hätten sich vor 30/40 Jahren vermutlich kaum vorstellen können, dass sie einmal Eric Clapton und Abba auf ihren Instrumenten zu spielen haben. Gleichzeitig sind aber auch die Jungen bereit, sich auf Marschmusik, traditionelle Blasmusik und Kirchenchoräle einzulassen. Das verbindet. Ohne diese gegenseitige Toleranz wäre ein gemeinsames Musizieren kaum möglich.
Das lässt sich in mancher Hinsicht mit unserer Kirchgemeinde vergleichen. Dass die Generationen gemeinsam unterwegs sein können, einander begegnen und Verständnis füreinander entwickeln, das ist ein zentrales Anliegen unseres Glaubens und unserer kirchlichen Arbeit. Und auch in der Kirche ist vermutlich den wenigsten wirklich bewusst, wieviel an Geld und Engagement gerade in die Kinder- und Jugendarbeit investiert wird. Die ganze kirchliche Unterweisung, Sonntagsschule, Kindernachmittage, Kinderlager, Gottesdienste für Klein und Gross - all das bedeutet ein grosses finanzielles Engagement, ist ein wesentlicher Teil meiner Arbeit und braucht das Engagement von vielen Freiwilligen, denen es ein Anliegen ist, dass die Jungen in unserer Kirchgemeinde heimisch werden. Es geht in alledem aber auch um die Weitergabe unseres Glaubens. Was heisst das: Weitergabe des Glaubens? Viel zu lange wurde darunter eine Sammlung von Lehrsätzen verstanden, die man lernen konnte und die man zu glauben hatte. Es war allenfalls den Gelehrten, den Theologen vorbehalten, diese Glaubenssätze zu diskutieren. Glauben aber muss etwas mit dem Leben, mit den jeweils eigenen Lebenserfahrungen zu tun haben, sonst ist er nur noch toter Glaube oder eine abstrakte Weltanschauung. Einige der Älteren haben es vielleicht noch erlebt, wie der Glaube im kirchlichen Unterricht autoritär verkündet wurde, als etwas, das man auswendig lernen konnte und musste. Und so manche haben das hingenommen und sich dann still verabschiedet. Ich selbst habe noch einen solchen kirchlichen Unterricht genossen, wo wir vor allem auswendig gelernt haben. In der Schule habe ich einen ganz anderen Unterricht erlebt. Da wurden Glaubensaussagen und biblische Texte kontrovers diskutiert. Da ging es auch um Sinn- und Lebensfragen und politische und gesellschaftliche Themen. Manchmal konnte dies aber auch ins andere Extrem kippen. Hauptsache die Kids haben spannende Themen und gute Erlebnisse. Bibel und Glaubenstraditionen wurden nur noch am Rande und eher verschämt ins Spiel gebracht.
Die beiden Bibeltexte, die ich vor der Predigt gelesen habe, erinnern mich an eine ganz wichtige biblische Tradition: es sind Bekenntnistexte, die vermutlich im Gottesdienst gesprochen wurden. Aber es sind nicht Bekenntnistexte, die auf absolute Wahrheiten verweisen, sondern Kürzestgeschichten des Glaubens, die auf andere Geschichten verweisen. Wenn wir nach unserem Glauben fragen, dann können wir nur Geschichten erzählen - die Geschichten des Volkes Israel, die Jesusgeschichten und unsere eigenen Geschichten. Im 5. Buch Mose ist es die Geschichte von der Befreiung des Volkes Israel aus der Gefangenschaft und Sklaverei in Ägypten, die das Zentrum des Glaubens bildet. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir heute genug zum Leben haben, über unsere eigenes Schicksal bestimmen können, eine Lebensperspektive besitzen und in Freiheit leben. Wir sind dafür auch verantwortlich und haben Sorge dazu zu tragen. Wir sind Fremde gewesen und wissen, was es heisst, ausgegrenzt und ausgenutzt zu werden. Das verpflichtet uns. Unsere Mütter und Väter haben in der Not zu Gott gerufen und er war für sie da. Sollten wir nicht auch in guten Tagen zu ihm rufen und wenn wir Sorgen haben uns ihm zuwenden? So haben die Israeliten ihren Glauben verstanden. Können wir uns nicht in manchem davon wiederfinden mit unseren heutigen Erfahrungen und den Erfahrungen unserer Mütter und Väter?
Auch der Text aus dem Philipperbrief ist ein solcher gottesdienstlicher Bekenntnistext. Wenn die ersten Christen nach ihrem Glauben gefragt wurden, antworteten sie mit ihren eigenen Geschichten und der Jesusgeschichte. Wir glauben an einen Gott, der in Jesus ganz an unserer Seite ist, der bei den Schwächsten und Bedürftigsten ist. Dieser Jesus hat uns Selbstvertrauen gegeben. Er hat uns gezeigt, was Liebe zum Nächsten heisst, was Verzeihen, wie wir Menschen ermutigen können. Und vor allem hat er uns gezeigt, dass jeder Mensch Achtung, Respekt und Zuwendung verdient und nicht ausgenutzt und nicht abgeschrieben werden darf. Wir glauben an einen Gott der uns Demut lehrt, weil er in Jesus selber demütig war und sogar sein Leben hingegeben hat. Er hat uns gezeigt, dass Demut nicht Unterwürfigkeit ist, sondern die Fähigkeit zum aufrechten Gang ohne Überheblichkeit. Es sind die Geschichten vom blinden Bartimäus, von Zachäus, dem Zöllner, von der Ehebrecherin, die sich in diesem Bekenntnis spiegeln. Es ist die Geschichte vom barmherzigen Samariter und vom Vater mit den ungleichen Söhnen, es ist das Liebesgebot und Jesu Würde und aufrechter Gang vor Pilatus und dem Hohen Rat und viele andere, die in diesem Bekenntnis nachklingen und zusammengefasst sind. Können wir diese Geschichten mit unseren Erfahrungen verbinden? Können sie uns Mut machen, Selbstvertrauen und Gottvertrauen geben, unsere Einstellung zum Leben und zu unseren Mitmenschen prägen?
Weitergabe des Glaubens geschieht da, wo wir einander Geschichten erzählen und miteinander feiern. Glaube muss immer auch mit meinen Erfahrungen zu tun haben, sonst bleibt er eine tote Lehre. Aber wo ich meine Erfahrungen zum alleinigen Massstab mache, vergesse ich, dass der Horizont grösser und weiter ist, als das was ich erfahre und begreife. Auf den Reichtum der Erfahrungen früherer Generationen können wir nicht verzichten, aber wir dürfen auch nicht unsere Erfahrungen als Ältere zum alleinigen Massstab machen, an dem wir die Jungen messen. Wie eine Musikgesellschaft Marschmusik, Kirchenchoral und Popmusik zu verbinden versucht, so wollen wir die Erfahrungen unterschiedlicher Menschen und Generationen mit dem Glauben ins Gespräch bringen. Dazu braucht es Menschen in allen Generationen, die sich auf diese Geschichten einlassen, ihre eigenen Geschichten erzählen und ihre Fragen stellen, nach dem Sinn des Lebens fragen und diese Fragen nicht allein mit sich selbst ausmachen. Auch im Glauben braucht es Neugier für das Instrument, die Bereitschaft, die alten Melodien auszuprobieren und die Kreativität, mit diesem Instrument ganz neue Melodien und Töne zu spielen.
Das Instrument aber ist die von Gott geschenkte Liebe zum Leben und zu den Menschen, das Geschenk der Freiheit und die Fähigkeit, verantwortung zu übernehmen. Amen.
Generationen gemeinsam unterwegs - so lautete das Motto des diesjährigen Kirchensonntags Anfang Februar und wir haben in Oberbalm daraus auch das Jahresthema für unsere Kirchgemeinde gemacht. Es geht uns dabei weniger um neue Anlässe, sondern darum, von Zeit zu Zeit uns selbst und anderen in Erinnerung zu rufen, wie wichtig und auch wie verletzlich das Zusammenleben der Generationen ist. Es gehört zu den ganz wichtigen Schätzen unserer dörflichen Strukturen, dass es da in den Vereinen, bei Festen und Anlässen noch zu einer Begegnung der Generationen kommt, Junge und Alte an einem Ort miteinander feiern. In Oberbalm gehören dazu zahlreiche Vereinsfeste, aber auch der Racletteabend, das Schulfest zum Abschluss des Schuljahres, der Bettagslauf, der Basar im November und manch anderes mehr. Das ist nicht selbstverständlich. An vielen Orten, besonders in städtischen Gebieten sind solche gemeinsamen Orte selten geworden. Und es ist auch nicht ausgemacht, dass das in 20 oder 30 Jahren bei uns immer noch so sein wird. Es braucht Menschen dazu, die sich dafür engagieren, denen Traditionen wichtig genug sind, um sie zu pflegen und die offen genug sind, flexibel mit Traditionen umzugehen und neue Wege zu gehen.
Ein wunderbares Beispiel, wie Generationen gemeinsam unterwegs sein können, haben wir heute mit der Musikgesellschaft Oberbalm vor uns. Die Ältesten sind schon im AHV-Alter, die Jüngsten noch schulpflichtig. In eurer sonstigen Freizeit sind eure Interessen und auch eure musikalischen Vorlieben vermutlich ziemlich unterschiedlich. Aber ihr habt es geschafft, gemeinsam unterwegs zu sein. Was es dazu braucht, ist zuerst einmal Engagement und die Bereitschaft, etwas zu investieren. Erst kürzlich ist wieder die Einladung zu einem neuen Jungbläserkurs ins Haus geflattert. Es ist vermutlich den wenigsten wirklich bewusst, wieviel Geld und Engagement in die Ausbildung der Jungbläser investiert wird. Aber ohne dieses finanzielle, zeitliche und ideelle Engagement gäbe es schon bald keine MGO mehr. Ich denke, ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass es euch gelungen ist, Tradition und Neues zu verbinden. Die Älteren unter euch hätten sich vor 30/40 Jahren vermutlich kaum vorstellen können, dass sie einmal Eric Clapton und Abba auf ihren Instrumenten zu spielen haben. Gleichzeitig sind aber auch die Jungen bereit, sich auf Marschmusik, traditionelle Blasmusik und Kirchenchoräle einzulassen. Das verbindet. Ohne diese gegenseitige Toleranz wäre ein gemeinsames Musizieren kaum möglich.
Das lässt sich in mancher Hinsicht mit unserer Kirchgemeinde vergleichen. Dass die Generationen gemeinsam unterwegs sein können, einander begegnen und Verständnis füreinander entwickeln, das ist ein zentrales Anliegen unseres Glaubens und unserer kirchlichen Arbeit. Und auch in der Kirche ist vermutlich den wenigsten wirklich bewusst, wieviel an Geld und Engagement gerade in die Kinder- und Jugendarbeit investiert wird. Die ganze kirchliche Unterweisung, Sonntagsschule, Kindernachmittage, Kinderlager, Gottesdienste für Klein und Gross - all das bedeutet ein grosses finanzielles Engagement, ist ein wesentlicher Teil meiner Arbeit und braucht das Engagement von vielen Freiwilligen, denen es ein Anliegen ist, dass die Jungen in unserer Kirchgemeinde heimisch werden. Es geht in alledem aber auch um die Weitergabe unseres Glaubens. Was heisst das: Weitergabe des Glaubens? Viel zu lange wurde darunter eine Sammlung von Lehrsätzen verstanden, die man lernen konnte und die man zu glauben hatte. Es war allenfalls den Gelehrten, den Theologen vorbehalten, diese Glaubenssätze zu diskutieren. Glauben aber muss etwas mit dem Leben, mit den jeweils eigenen Lebenserfahrungen zu tun haben, sonst ist er nur noch toter Glaube oder eine abstrakte Weltanschauung. Einige der Älteren haben es vielleicht noch erlebt, wie der Glaube im kirchlichen Unterricht autoritär verkündet wurde, als etwas, das man auswendig lernen konnte und musste. Und so manche haben das hingenommen und sich dann still verabschiedet. Ich selbst habe noch einen solchen kirchlichen Unterricht genossen, wo wir vor allem auswendig gelernt haben. In der Schule habe ich einen ganz anderen Unterricht erlebt. Da wurden Glaubensaussagen und biblische Texte kontrovers diskutiert. Da ging es auch um Sinn- und Lebensfragen und politische und gesellschaftliche Themen. Manchmal konnte dies aber auch ins andere Extrem kippen. Hauptsache die Kids haben spannende Themen und gute Erlebnisse. Bibel und Glaubenstraditionen wurden nur noch am Rande und eher verschämt ins Spiel gebracht.
Die beiden Bibeltexte, die ich vor der Predigt gelesen habe, erinnern mich an eine ganz wichtige biblische Tradition: es sind Bekenntnistexte, die vermutlich im Gottesdienst gesprochen wurden. Aber es sind nicht Bekenntnistexte, die auf absolute Wahrheiten verweisen, sondern Kürzestgeschichten des Glaubens, die auf andere Geschichten verweisen. Wenn wir nach unserem Glauben fragen, dann können wir nur Geschichten erzählen - die Geschichten des Volkes Israel, die Jesusgeschichten und unsere eigenen Geschichten. Im 5. Buch Mose ist es die Geschichte von der Befreiung des Volkes Israel aus der Gefangenschaft und Sklaverei in Ägypten, die das Zentrum des Glaubens bildet. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir heute genug zum Leben haben, über unsere eigenes Schicksal bestimmen können, eine Lebensperspektive besitzen und in Freiheit leben. Wir sind dafür auch verantwortlich und haben Sorge dazu zu tragen. Wir sind Fremde gewesen und wissen, was es heisst, ausgegrenzt und ausgenutzt zu werden. Das verpflichtet uns. Unsere Mütter und Väter haben in der Not zu Gott gerufen und er war für sie da. Sollten wir nicht auch in guten Tagen zu ihm rufen und wenn wir Sorgen haben uns ihm zuwenden? So haben die Israeliten ihren Glauben verstanden. Können wir uns nicht in manchem davon wiederfinden mit unseren heutigen Erfahrungen und den Erfahrungen unserer Mütter und Väter?
Auch der Text aus dem Philipperbrief ist ein solcher gottesdienstlicher Bekenntnistext. Wenn die ersten Christen nach ihrem Glauben gefragt wurden, antworteten sie mit ihren eigenen Geschichten und der Jesusgeschichte. Wir glauben an einen Gott, der in Jesus ganz an unserer Seite ist, der bei den Schwächsten und Bedürftigsten ist. Dieser Jesus hat uns Selbstvertrauen gegeben. Er hat uns gezeigt, was Liebe zum Nächsten heisst, was Verzeihen, wie wir Menschen ermutigen können. Und vor allem hat er uns gezeigt, dass jeder Mensch Achtung, Respekt und Zuwendung verdient und nicht ausgenutzt und nicht abgeschrieben werden darf. Wir glauben an einen Gott der uns Demut lehrt, weil er in Jesus selber demütig war und sogar sein Leben hingegeben hat. Er hat uns gezeigt, dass Demut nicht Unterwürfigkeit ist, sondern die Fähigkeit zum aufrechten Gang ohne Überheblichkeit. Es sind die Geschichten vom blinden Bartimäus, von Zachäus, dem Zöllner, von der Ehebrecherin, die sich in diesem Bekenntnis spiegeln. Es ist die Geschichte vom barmherzigen Samariter und vom Vater mit den ungleichen Söhnen, es ist das Liebesgebot und Jesu Würde und aufrechter Gang vor Pilatus und dem Hohen Rat und viele andere, die in diesem Bekenntnis nachklingen und zusammengefasst sind. Können wir diese Geschichten mit unseren Erfahrungen verbinden? Können sie uns Mut machen, Selbstvertrauen und Gottvertrauen geben, unsere Einstellung zum Leben und zu unseren Mitmenschen prägen?
Weitergabe des Glaubens geschieht da, wo wir einander Geschichten erzählen und miteinander feiern. Glaube muss immer auch mit meinen Erfahrungen zu tun haben, sonst bleibt er eine tote Lehre. Aber wo ich meine Erfahrungen zum alleinigen Massstab mache, vergesse ich, dass der Horizont grösser und weiter ist, als das was ich erfahre und begreife. Auf den Reichtum der Erfahrungen früherer Generationen können wir nicht verzichten, aber wir dürfen auch nicht unsere Erfahrungen als Ältere zum alleinigen Massstab machen, an dem wir die Jungen messen. Wie eine Musikgesellschaft Marschmusik, Kirchenchoral und Popmusik zu verbinden versucht, so wollen wir die Erfahrungen unterschiedlicher Menschen und Generationen mit dem Glauben ins Gespräch bringen. Dazu braucht es Menschen in allen Generationen, die sich auf diese Geschichten einlassen, ihre eigenen Geschichten erzählen und ihre Fragen stellen, nach dem Sinn des Lebens fragen und diese Fragen nicht allein mit sich selbst ausmachen. Auch im Glauben braucht es Neugier für das Instrument, die Bereitschaft, die alten Melodien auszuprobieren und die Kreativität, mit diesem Instrument ganz neue Melodien und Töne zu spielen.
Das Instrument aber ist die von Gott geschenkte Liebe zum Leben und zu den Menschen, das Geschenk der Freiheit und die Fähigkeit, verantwortung zu übernehmen. Amen.
Samstag, 29. Mai 2010
Predigt am 30. Mai über Röm 11,33-36
Liebe Gemeinde,
o Tiefe des Reichtums, schreibt Paulus. Wie kein Zweiter seiner Zeit hat Paulus versucht seinen Glauben, das was ihn zutiefst in seinem Herzen berührte, bewegte und erfüllte und sein Leben radikal verändert hat, zu durchdenken, in Worte zu fassen und für andere darzulegen und nachvollziehbar zu machen. Im Römerbrief tut er dies am Ausführlichsten und Umfassendsten. In immer neuen Anläufen formuliert er Grundeinsichten seines Glaubens und setzt sich mit Einwänden auseinander. Und dann dieser Abschnitt, der unser heutiger Predigttext ist. Die Argumentation bricht ab. "O Tiefe" kann er nur noch ausrufen. Und doch ist es keine unbestimmte Tiefe sondern es heisst: "O welch eine Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!" Der theologische Denker Paulus kapituliert vor dem Geheimnis Gottes, aber diese Kapitulation ist kein achselzuckendes "das kann man eh nicht begreifen" und erst recht kein gleichgültiges "was sich nicht beweisen lässt geht mich auch nichts an". Nein, das ganze Denken des Paulus mündet in Anbetung und Lobpreis. Wohl kann er keine letztgültigen Beweise liefern und viele Fragen bleiben unbeantwortet, aber am Ende steht nicht Ratlosigkeit und Resignation, sondern eine tief verwurzelte Glaubensgewissheit, ein Wissen des Herzens, dass dankbar dem Geheimnis Gottes entgegentritt.
Es ist diese Denkbewegung des Paulus, die mich fasziniert und ermutigt, ermutigt zum Denken und zum Glauben. Umgangssprachlich gelten Glauben und Denken ja heute fast als Gegensätze. Paulus steht für eine andere Haltung. Für ihn sind Glauben und Denken Geschwister. Ein Glaube, der das Denken scheut, verkommt zum blossen Fürwahrhalten, zur Unterwerfung und ist nichts anderes als Aberglaube. Aber umgekehrt gilt auch: Wenn wir nur glauben, was wir auch wirklich wissen, dann sperren wir Gott in unser Denken ein, dann ist er nicht mehr das Geheimnis dieser Welt, sondern nur noch das Ergebnis unserer Logik. Mit unserem Denken vergewissern wir uns, dass unser Glaube Sinn macht, dass er nicht willkürlich und beliebig ist, aber zugleich respektieren wir im Glauben das Geheimnis unseres Gottes, weil wir wissen, dass nur etwas den Namen "GOTT" verdient, das höher ist als all unsere Vernunft. Der Philosoph Kierkegaard hat einmal gesagt: Wenn ein junger Mensch am Beginn seines Studiums sagt: "Ich weiss, dass ich nichts weiss", dann ist das Faulheit. Wenn ein Sokrates am Ende seines Lebens zu dieser Einsicht gelangt, dann ist es Weisheit. Ich denke, in bezug auf unseren Glauben liesse es sich ähnlich formulieren.
Es ist ein langer Weg, den Paulus bis zu unserem Predigttext gegangen ist. Am Anfang steht für ihn die Erfahrung: In Jesus Christus hat Gott sich mir gezeigt als liebender und treuer Gott, der will, dass ich leben kann. Bei allem, was mir widerfahren mag, werde ich niemals vergessen, dass ich aus dieser Liebe lebe. Daraus ergibt sich für ihn die zweite Grundeinsicht: Wir müssen nichts dazu tun, dass Gott uns liebt, kein Gesetz erfüllen, keine Leistungen erbringen. Gott liebt uns bedingungslos – in der reformatorischen Tradition heisst das „ohne Werke des Gesetzes, allein aus Glauben“. Und die dritte Einsicht: Diese Liebe Gottes, die Einladung zum Glauben gilt allen Menschen, nicht nur den Juden.
Diese drei Glaubenseinsichten des Paulus sind bleibend wichtig. Wir glauben an einen Gott, den wir zwar nicht fassen können, der Geheimnis bleibt, aber auf dessen Liebe und Treue wir vertrauen dürfen, weil er uns in Jesus Christus begegnet mit einem menschlichen Gesicht. Wir brauchen an unserem Scheitern, unseren Fehlern nicht zu verzweifeln, weil unser Heil nicht von unserer Vollkommenheit abhängt. Befreit von Leistungs- und Vollkommenheitsdruck dürfen wir aufatmen und können unser Bestes geben. Und ohne die Öffnung hin zu allen Menschen, die Paulus entdeckt hat, hätten wir wohl heute keinen Zugang zum christlichen Glauben.
Aber aus diesen Einsichten entstehen wieder neue Fragen, mit denen Paulus konfrontiert wird. Zu seiner Zeit die Gewichtigste war: Wenn es nur auf den Glauben allein und gar nicht auf das Erfüllen des Gesetzes ankommt, werden dann die Menschen nicht geradezu zur Sünde verführt. Oder moderner formuliert: gehen da nicht alle ethischen Massstäbe verloren, bricht da nicht die ganze Ordnung zusammen? Kann denn jeder tun und lassen was er will, weil der liebe Gott sowieso alle zwei Augen zudrückt? Ist der, der sich dann noch um das Gute bemüht, letzlich dumm? Nein, sagt Paulus, aber erstens kann niemand das Gesetz vollkommen erfüllen und zweitens ist Gott nicht der mit dem grossen Kassenbuch, der am Ende abrechnet. Euer Denken ist falsch. Ihr tut Gutes, weil ihr meint, dass es euch im Himmel belohnt wird. Den Himmel könnt ihr euch nicht verdienen, den will Gott euch schenken. Aber können wir nicht Gutes tun aus Freude und Dankbarkeit, aus Liebe zu Gott und zu den Menschen ohne Spekulation auf himmlischen Lohn? Wir sollten uns nicht zu schnell von solch altmodischem Denken von himmlischem Lohn frei fühlen. Ist nicht schon unser irdischer Alltag viel zu sehr von der Frage geprägt, ob sich etwas auch lohnt? Und glauben wir nicht zu oft, dass es für alles Strafen und Drohungen braucht, weil sonst ja der der Dumme ist, der sich an die Regeln hält? Paulus sagt: Gott liebt euch, da könnt ihr nichts hinzufügen und nichts wegnehmen, das könnt ihr nur annehmen. Aber zugleich sagt er: Gott beansprucht nicht einfach die Einhaltung von Vorschriften und Gesetzen (und alles, was nicht verboten ist, ist dann erlaubt); er beansprucht euer ganzes Leben, eure Herzen. Euer Tun sei nicht Berechnung und Furcht vor Strafe, sondern Liebe, Freude und Einsicht. Befolgt nicht einfach Gesetze, sondern gebraucht euer Herz und eure Vernunft und tut, wozu sie euch führen. Grenzenlose, bedingungslose Liebe und radikaler Anspruch sind in Gott vereint. O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis.
Aber bleibt nicht auch der Glaube ein Geschenk? Wie aber kann dann der Glaube für Paulus die Bedingung der Gerechtigkeit sein? Und was geschieht mit denen, die nicht glauben. Für Paulus war damit vor allem die Frage nach dem Schicksal Israels verbunden. Er ist überzeugt, dass Gott Israel erwählt hat und dass er treu ist. Aber die Mehrheit Israels kann Jesus nicht als Messias, gar als Sohn Gottes ansehen. Hat Gott nun seine Erwählung zurückgenommen? Ist er Israel untreu geworden? Das ist für Paulus unmöglich. Aber eine Antwort auf die Frage kann er nicht geben. Wenn Gott das Heil aller Menschen will und Glaube ein Geschenk ist, wieso gibt es dann den Unglauben? Vorsicht ist auf jeden Fall geboten bei unseren Versuchen, die Menschen in Gläubige und Ungläubige, Gerettete und Verworfene einzuteilen oder anderen ihren Unglauben oder anderen Glauben vorzuwerfen. Und wer von uns kann wissen, ob Gott nicht mit anderen Menschen andere Wege geht. Den eigenen Glauben ganz ernst nehmen, ihn pflegen, sein Wachstum suchen und dankbar sein für dieses Geschenk und zugleich tolerant und offen für den Glauben und die Zweifel anderer, das scheint mir der beste Weg zu sein, das Geheimnis des Lebens, das Geheimnis unseres Gottes zu respektieren.
Paulus ruft in unserem Predigttext zwei alttestamentliche Schriften in Erinnerung, Hiob und den Exilspropheten Jesaja. Das harte und unbegreifliche Schicksal eines Mannes, dem – trotz seines Glaubens und frommen Lebenswandels – alles genommen wird, für den das Leben zur Hölle wird und das Schicksal des Volkes Israel, das in der Gefangenschaft anfängt zu fragen: Wo ist denn unser Gott? Paulus erinnert daran, dass wir in unserem Leben immer wieder an Grenzen unseres Verstehens stossen, dass längst nicht alles Sinn macht und aufgeht. Persönliches Leid, Krankheit und Tod, aber auch die Erfahrung von Krieg, menschlichem Hass und Gewalt oder von Naturkatastrophen – sie gehören zu den grössten Anfechtungen des Glaubens. Da zweifeln wir an einem Gott, der alles so herrlich regieret. Und dennoch sagt Paulus: Auch dann wenn ihr Gott gar nicht mehr versteht, wenn euch seine Wege unbegreiflich und rätselhaft sind, dürft ihr mit all euren Fragen und Zweifeln zu ihm kommen, nicht in Erwartung der Antwort auf alle Fragen, aber in dem Vertrauen, dass er euch Kraft schenkt und Glaubensgewissheit in eure Herzen zurückkehren kann – nicht als Voraussetzung, aber am Ziel eines schwierigen und vielleicht langen Weges. Glaubensgewissheit, die erkennt, dass unsere Erkenntnis nicht reicht, Gottes Wege mit uns und mit unserer Welt zu durchschauen, Glaubensgewissheit, die aber darum weiss, dass der nahe und der ferne Gott derselbe sind, nämlich der, der uns in Jesus Christus bedingungslos liebt und dem unser Schicksal und das Schicksal allen Lebens nicht gleichgültig ist.
Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.
o Tiefe des Reichtums, schreibt Paulus. Wie kein Zweiter seiner Zeit hat Paulus versucht seinen Glauben, das was ihn zutiefst in seinem Herzen berührte, bewegte und erfüllte und sein Leben radikal verändert hat, zu durchdenken, in Worte zu fassen und für andere darzulegen und nachvollziehbar zu machen. Im Römerbrief tut er dies am Ausführlichsten und Umfassendsten. In immer neuen Anläufen formuliert er Grundeinsichten seines Glaubens und setzt sich mit Einwänden auseinander. Und dann dieser Abschnitt, der unser heutiger Predigttext ist. Die Argumentation bricht ab. "O Tiefe" kann er nur noch ausrufen. Und doch ist es keine unbestimmte Tiefe sondern es heisst: "O welch eine Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!" Der theologische Denker Paulus kapituliert vor dem Geheimnis Gottes, aber diese Kapitulation ist kein achselzuckendes "das kann man eh nicht begreifen" und erst recht kein gleichgültiges "was sich nicht beweisen lässt geht mich auch nichts an". Nein, das ganze Denken des Paulus mündet in Anbetung und Lobpreis. Wohl kann er keine letztgültigen Beweise liefern und viele Fragen bleiben unbeantwortet, aber am Ende steht nicht Ratlosigkeit und Resignation, sondern eine tief verwurzelte Glaubensgewissheit, ein Wissen des Herzens, dass dankbar dem Geheimnis Gottes entgegentritt.
Es ist diese Denkbewegung des Paulus, die mich fasziniert und ermutigt, ermutigt zum Denken und zum Glauben. Umgangssprachlich gelten Glauben und Denken ja heute fast als Gegensätze. Paulus steht für eine andere Haltung. Für ihn sind Glauben und Denken Geschwister. Ein Glaube, der das Denken scheut, verkommt zum blossen Fürwahrhalten, zur Unterwerfung und ist nichts anderes als Aberglaube. Aber umgekehrt gilt auch: Wenn wir nur glauben, was wir auch wirklich wissen, dann sperren wir Gott in unser Denken ein, dann ist er nicht mehr das Geheimnis dieser Welt, sondern nur noch das Ergebnis unserer Logik. Mit unserem Denken vergewissern wir uns, dass unser Glaube Sinn macht, dass er nicht willkürlich und beliebig ist, aber zugleich respektieren wir im Glauben das Geheimnis unseres Gottes, weil wir wissen, dass nur etwas den Namen "GOTT" verdient, das höher ist als all unsere Vernunft. Der Philosoph Kierkegaard hat einmal gesagt: Wenn ein junger Mensch am Beginn seines Studiums sagt: "Ich weiss, dass ich nichts weiss", dann ist das Faulheit. Wenn ein Sokrates am Ende seines Lebens zu dieser Einsicht gelangt, dann ist es Weisheit. Ich denke, in bezug auf unseren Glauben liesse es sich ähnlich formulieren.
Es ist ein langer Weg, den Paulus bis zu unserem Predigttext gegangen ist. Am Anfang steht für ihn die Erfahrung: In Jesus Christus hat Gott sich mir gezeigt als liebender und treuer Gott, der will, dass ich leben kann. Bei allem, was mir widerfahren mag, werde ich niemals vergessen, dass ich aus dieser Liebe lebe. Daraus ergibt sich für ihn die zweite Grundeinsicht: Wir müssen nichts dazu tun, dass Gott uns liebt, kein Gesetz erfüllen, keine Leistungen erbringen. Gott liebt uns bedingungslos – in der reformatorischen Tradition heisst das „ohne Werke des Gesetzes, allein aus Glauben“. Und die dritte Einsicht: Diese Liebe Gottes, die Einladung zum Glauben gilt allen Menschen, nicht nur den Juden.
Diese drei Glaubenseinsichten des Paulus sind bleibend wichtig. Wir glauben an einen Gott, den wir zwar nicht fassen können, der Geheimnis bleibt, aber auf dessen Liebe und Treue wir vertrauen dürfen, weil er uns in Jesus Christus begegnet mit einem menschlichen Gesicht. Wir brauchen an unserem Scheitern, unseren Fehlern nicht zu verzweifeln, weil unser Heil nicht von unserer Vollkommenheit abhängt. Befreit von Leistungs- und Vollkommenheitsdruck dürfen wir aufatmen und können unser Bestes geben. Und ohne die Öffnung hin zu allen Menschen, die Paulus entdeckt hat, hätten wir wohl heute keinen Zugang zum christlichen Glauben.
Aber aus diesen Einsichten entstehen wieder neue Fragen, mit denen Paulus konfrontiert wird. Zu seiner Zeit die Gewichtigste war: Wenn es nur auf den Glauben allein und gar nicht auf das Erfüllen des Gesetzes ankommt, werden dann die Menschen nicht geradezu zur Sünde verführt. Oder moderner formuliert: gehen da nicht alle ethischen Massstäbe verloren, bricht da nicht die ganze Ordnung zusammen? Kann denn jeder tun und lassen was er will, weil der liebe Gott sowieso alle zwei Augen zudrückt? Ist der, der sich dann noch um das Gute bemüht, letzlich dumm? Nein, sagt Paulus, aber erstens kann niemand das Gesetz vollkommen erfüllen und zweitens ist Gott nicht der mit dem grossen Kassenbuch, der am Ende abrechnet. Euer Denken ist falsch. Ihr tut Gutes, weil ihr meint, dass es euch im Himmel belohnt wird. Den Himmel könnt ihr euch nicht verdienen, den will Gott euch schenken. Aber können wir nicht Gutes tun aus Freude und Dankbarkeit, aus Liebe zu Gott und zu den Menschen ohne Spekulation auf himmlischen Lohn? Wir sollten uns nicht zu schnell von solch altmodischem Denken von himmlischem Lohn frei fühlen. Ist nicht schon unser irdischer Alltag viel zu sehr von der Frage geprägt, ob sich etwas auch lohnt? Und glauben wir nicht zu oft, dass es für alles Strafen und Drohungen braucht, weil sonst ja der der Dumme ist, der sich an die Regeln hält? Paulus sagt: Gott liebt euch, da könnt ihr nichts hinzufügen und nichts wegnehmen, das könnt ihr nur annehmen. Aber zugleich sagt er: Gott beansprucht nicht einfach die Einhaltung von Vorschriften und Gesetzen (und alles, was nicht verboten ist, ist dann erlaubt); er beansprucht euer ganzes Leben, eure Herzen. Euer Tun sei nicht Berechnung und Furcht vor Strafe, sondern Liebe, Freude und Einsicht. Befolgt nicht einfach Gesetze, sondern gebraucht euer Herz und eure Vernunft und tut, wozu sie euch führen. Grenzenlose, bedingungslose Liebe und radikaler Anspruch sind in Gott vereint. O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis.
Aber bleibt nicht auch der Glaube ein Geschenk? Wie aber kann dann der Glaube für Paulus die Bedingung der Gerechtigkeit sein? Und was geschieht mit denen, die nicht glauben. Für Paulus war damit vor allem die Frage nach dem Schicksal Israels verbunden. Er ist überzeugt, dass Gott Israel erwählt hat und dass er treu ist. Aber die Mehrheit Israels kann Jesus nicht als Messias, gar als Sohn Gottes ansehen. Hat Gott nun seine Erwählung zurückgenommen? Ist er Israel untreu geworden? Das ist für Paulus unmöglich. Aber eine Antwort auf die Frage kann er nicht geben. Wenn Gott das Heil aller Menschen will und Glaube ein Geschenk ist, wieso gibt es dann den Unglauben? Vorsicht ist auf jeden Fall geboten bei unseren Versuchen, die Menschen in Gläubige und Ungläubige, Gerettete und Verworfene einzuteilen oder anderen ihren Unglauben oder anderen Glauben vorzuwerfen. Und wer von uns kann wissen, ob Gott nicht mit anderen Menschen andere Wege geht. Den eigenen Glauben ganz ernst nehmen, ihn pflegen, sein Wachstum suchen und dankbar sein für dieses Geschenk und zugleich tolerant und offen für den Glauben und die Zweifel anderer, das scheint mir der beste Weg zu sein, das Geheimnis des Lebens, das Geheimnis unseres Gottes zu respektieren.
Paulus ruft in unserem Predigttext zwei alttestamentliche Schriften in Erinnerung, Hiob und den Exilspropheten Jesaja. Das harte und unbegreifliche Schicksal eines Mannes, dem – trotz seines Glaubens und frommen Lebenswandels – alles genommen wird, für den das Leben zur Hölle wird und das Schicksal des Volkes Israel, das in der Gefangenschaft anfängt zu fragen: Wo ist denn unser Gott? Paulus erinnert daran, dass wir in unserem Leben immer wieder an Grenzen unseres Verstehens stossen, dass längst nicht alles Sinn macht und aufgeht. Persönliches Leid, Krankheit und Tod, aber auch die Erfahrung von Krieg, menschlichem Hass und Gewalt oder von Naturkatastrophen – sie gehören zu den grössten Anfechtungen des Glaubens. Da zweifeln wir an einem Gott, der alles so herrlich regieret. Und dennoch sagt Paulus: Auch dann wenn ihr Gott gar nicht mehr versteht, wenn euch seine Wege unbegreiflich und rätselhaft sind, dürft ihr mit all euren Fragen und Zweifeln zu ihm kommen, nicht in Erwartung der Antwort auf alle Fragen, aber in dem Vertrauen, dass er euch Kraft schenkt und Glaubensgewissheit in eure Herzen zurückkehren kann – nicht als Voraussetzung, aber am Ziel eines schwierigen und vielleicht langen Weges. Glaubensgewissheit, die erkennt, dass unsere Erkenntnis nicht reicht, Gottes Wege mit uns und mit unserer Welt zu durchschauen, Glaubensgewissheit, die aber darum weiss, dass der nahe und der ferne Gott derselbe sind, nämlich der, der uns in Jesus Christus bedingungslos liebt und dem unser Schicksal und das Schicksal allen Lebens nicht gleichgültig ist.
Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.
Samstag, 15. Mai 2010
Predigt am 16. Mai 2010 über 1. Mose 32,23-32
Liebe Gemeinde,
Jakobs Ringen mit Gott am Fluss Jabbok gehört zu den faszinierendsten Geschichten des Alten Testaments. Dieser Jakob ist auf der Flucht vor seinem Bruder und wohl auch auf der Flucht vor sich selbst. Seinen Bruder hat er betrogen, dass väterliche Erbe hat er sich erschlichen. Später ist er selbst zum betrogenen Betrüger geworden, überlistet von seinem Onkel und Schwiegervater Laban. Mit Geduld und Ausdauer kann er schliesslich doch noch die Frau heiraten, die er liebt. Und mit List und Geschick bringt er es zu einer ansehnlichen Herde. Vorbildlich können wir diesen Jakob in moralischer Hinsicht wohl kaum nennen, mit all seinen Listen und Betrügereien. Vorbildlich ist er höchstens in seiner Beharrlichkeit und darin, dass er versucht, aus seinem Leben das Beste zu machen und auch nach Niederlagen und Rückschlägen immer wieder aufsteht. Ausgerechnet diesen Jakob aber macht Gott zum Stammvater Israels.
Nach Jahren in der Fremde steht er nun vor der Rückkehr in die Heimat und zugleich vor der Wiederbegegnung mit seinem Bruder. An einem Fluss, den er zu überqueren hat - ein uraltes mythologisches Bild für Übergangs- und Schwellensituationen im Leben - bekommt er es in einem nächtlichen Traum mit einem geheimnisvollen Widersacher zu tun. Ohne zu ahnen, mit wem er ringt, hält er seinem Widersacher stand bis zur Morgenröte. „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Mit diesen Worten ringt er seinem Gegenüber den Segen ab. Bis zum Ende der Geschichte weiss Jakob nicht, mit wem er da ringt. Da ist kein unerschütterliches Gottvertrauen, keiner, der von Anfang an weiss, dass es mit Gottes Hilfe nur gut ausgehen kann. Das weiss und darauf vertraut er erst am Ende. Zuerst einmal ist da einer, der weiss, dass es um sein Leben geht, der ringt und kämpft und nicht aufgibt.
Für mich verdichtet sich in diesem nächtlichen Traum das ganze Leben Jakobs. Hat er nicht in seinem ganzen Leben um Segen und Gelingen gerungen? Er wollte das Zwei, das er bei seiner Geburt am Rücken trug, unbedingt loswerden. Und es ist ihm gelungen - aber um welchen Preis? War es das wert? Konnte er sein eigenes Vorgehen nocht gutheissen? Hat es sich gelohnt, dafür mit Jahren in der Fremde und der Feindschaft seines Bruders Esau zu bezahlen? Unbedingt wollte er die schöne Rahel zur Frau haben. Er bezahlte dafür mit Geduld und Warten und jahrelangem Dienst. Er hat sein Ziel erreicht, aber es hat ihn etwas gekostet. Und welchen Preis bezahlte Lea, die Ungeliebte - und Rahel, die lange Kinderlose? Und hat er sich mit seiner List, die ihm zulasten seines Onkels und Schwiegervaters Laban eine ansehnliche Herde einbrachte, sich nicht auch noch dessen Feindschaft zugezogen?
Doch mehr als all das wog wohl die Angst vor der Wiederbegegnung mit seinem Bruder Esau. Der Betrug und die daraus entstandene Feindschaft der Brüder, das ist der entscheidende Bruch im Leben des Jakob. Nur wenn es gelingt, diesen Bruch zu heilen, kann sein ganzes Leben heil werden. Und nur wenn er sich dieser Wiederbegegnung stellt, kann er das herausfinden.
Gibt es in unserem Leben nicht auch Situationen, in denen wir ringen und kämpfen müssen und nicht wissen, mit wem wir es zu tun haben. Ich denke dabei an Menschen, die plötzlich mit einer bedrohlichen ärztlichen Diagnose konfrontiert sind und all die Fragen aushalten müssen, was wohl auf sie zukommt, ob sie kämpfen oder loslassen sollen, ob ihre Kräfte reichen, welchen Sinn das alles haben mag. Ich denke aber auch an jene, die durch den Tod eines geliebten Menschen, eine enttäuschte Liebe, materielle Sorgen oder psychische Ängste, den Glauben an das Leben verloren haben und nicht wissen wie es weitergehen soll, die damit ringen, dem Leben einen Sinn abzugewinnen und etwas zu finden, wofür es sich zu leben lohnt. Ich denke an Menschen, die in ihrem Beruf oder in der Familie schleichend oder plötzlich den Sinn verlieren und ausgebrannt sind. Wie können sie darum kämpfen, dass ihr Tun für sie wieder Sinn macht, das Feuer wieder brennt? Wo müssen sie loslassen und vielleicht völlig neue Wege gehen? Ich denke, wir alle kennen solche Situationen, in denen wir mit dem Leben, in denen wir mit Gott ringen, auch wenn sie längst nicht immer so dramatisch sind.
Auch wenn wir unseren Halt im Glauben gefunden haben, erspart uns das dieses Ringen nicht. Nicht ungebrochenes und unerschütterliches Gottvertrauen sollen wir uns erhoffen, aber den Mut des Jakob, zu ringen und zu kämpfen, wo es nötig ist, nicht aufzugeben, unseren Glauben nicht loszulassen.
Für mich enthält die Jakobsgeschichte eine grossartige Zusage. Auch in dem für uns vielleicht sinnlosen Ringen, in dem was wir nicht begreifen, haben wir es letztlich mit Gott zu tun. Und wenn wir wie Jakob standhalten, uns nicht entmutigen lassen, die Hoffnung nicht aufgeben, dann lässt Gott sich seinen Segen abringen. Jakob ist am Ende des Kampfes gezeichnet, er hinkt an der Hüfte, aber er ist nicht überwunden. Auch für uns gilt: wir sind wohl von den Erfahrungen unseres Lebens gezeichnet, tragen Verletzungen davon. Aber auch wir dürfen sagen: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“
Diese Worte Jakobs nimmt auch die Motette von Johann Sebastian Bach auf, die wir nach der Predigt vom Chor hören werden. In dieser Motette hat der Angeredete aber einen Namen. Es ist Jesus. In seinem Geschick können wir unser Leben bergen, denn Jesus ist nicht nur vom Leben, sondern sogar vom Tode gezeichnet und hat standgehalten. Darauf gründen wir unser Vertrauen, von dem der Sopran singt: „Weil du mein Gott und Vater bist, dein Kind wirst du verlassen nicht, du väterliches Herz.“
Seinen Segen schenkt uns Gott. Verdienen können wir ihn nicht. Aber beharrlich daran festhalten, dass er uns seinen Segen verheissen hat und niemals resigniert aufgeben. Wir können nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Und auch wenn wir mit Gott ringen müssen in unserem Leben: er will uns nicht besiegen, sondern uns segnen.
Jakobs Ringen mit Gott am Fluss Jabbok gehört zu den faszinierendsten Geschichten des Alten Testaments. Dieser Jakob ist auf der Flucht vor seinem Bruder und wohl auch auf der Flucht vor sich selbst. Seinen Bruder hat er betrogen, dass väterliche Erbe hat er sich erschlichen. Später ist er selbst zum betrogenen Betrüger geworden, überlistet von seinem Onkel und Schwiegervater Laban. Mit Geduld und Ausdauer kann er schliesslich doch noch die Frau heiraten, die er liebt. Und mit List und Geschick bringt er es zu einer ansehnlichen Herde. Vorbildlich können wir diesen Jakob in moralischer Hinsicht wohl kaum nennen, mit all seinen Listen und Betrügereien. Vorbildlich ist er höchstens in seiner Beharrlichkeit und darin, dass er versucht, aus seinem Leben das Beste zu machen und auch nach Niederlagen und Rückschlägen immer wieder aufsteht. Ausgerechnet diesen Jakob aber macht Gott zum Stammvater Israels.
Nach Jahren in der Fremde steht er nun vor der Rückkehr in die Heimat und zugleich vor der Wiederbegegnung mit seinem Bruder. An einem Fluss, den er zu überqueren hat - ein uraltes mythologisches Bild für Übergangs- und Schwellensituationen im Leben - bekommt er es in einem nächtlichen Traum mit einem geheimnisvollen Widersacher zu tun. Ohne zu ahnen, mit wem er ringt, hält er seinem Widersacher stand bis zur Morgenröte. „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Mit diesen Worten ringt er seinem Gegenüber den Segen ab. Bis zum Ende der Geschichte weiss Jakob nicht, mit wem er da ringt. Da ist kein unerschütterliches Gottvertrauen, keiner, der von Anfang an weiss, dass es mit Gottes Hilfe nur gut ausgehen kann. Das weiss und darauf vertraut er erst am Ende. Zuerst einmal ist da einer, der weiss, dass es um sein Leben geht, der ringt und kämpft und nicht aufgibt.
Für mich verdichtet sich in diesem nächtlichen Traum das ganze Leben Jakobs. Hat er nicht in seinem ganzen Leben um Segen und Gelingen gerungen? Er wollte das Zwei, das er bei seiner Geburt am Rücken trug, unbedingt loswerden. Und es ist ihm gelungen - aber um welchen Preis? War es das wert? Konnte er sein eigenes Vorgehen nocht gutheissen? Hat es sich gelohnt, dafür mit Jahren in der Fremde und der Feindschaft seines Bruders Esau zu bezahlen? Unbedingt wollte er die schöne Rahel zur Frau haben. Er bezahlte dafür mit Geduld und Warten und jahrelangem Dienst. Er hat sein Ziel erreicht, aber es hat ihn etwas gekostet. Und welchen Preis bezahlte Lea, die Ungeliebte - und Rahel, die lange Kinderlose? Und hat er sich mit seiner List, die ihm zulasten seines Onkels und Schwiegervaters Laban eine ansehnliche Herde einbrachte, sich nicht auch noch dessen Feindschaft zugezogen?
Doch mehr als all das wog wohl die Angst vor der Wiederbegegnung mit seinem Bruder Esau. Der Betrug und die daraus entstandene Feindschaft der Brüder, das ist der entscheidende Bruch im Leben des Jakob. Nur wenn es gelingt, diesen Bruch zu heilen, kann sein ganzes Leben heil werden. Und nur wenn er sich dieser Wiederbegegnung stellt, kann er das herausfinden.
Gibt es in unserem Leben nicht auch Situationen, in denen wir ringen und kämpfen müssen und nicht wissen, mit wem wir es zu tun haben. Ich denke dabei an Menschen, die plötzlich mit einer bedrohlichen ärztlichen Diagnose konfrontiert sind und all die Fragen aushalten müssen, was wohl auf sie zukommt, ob sie kämpfen oder loslassen sollen, ob ihre Kräfte reichen, welchen Sinn das alles haben mag. Ich denke aber auch an jene, die durch den Tod eines geliebten Menschen, eine enttäuschte Liebe, materielle Sorgen oder psychische Ängste, den Glauben an das Leben verloren haben und nicht wissen wie es weitergehen soll, die damit ringen, dem Leben einen Sinn abzugewinnen und etwas zu finden, wofür es sich zu leben lohnt. Ich denke an Menschen, die in ihrem Beruf oder in der Familie schleichend oder plötzlich den Sinn verlieren und ausgebrannt sind. Wie können sie darum kämpfen, dass ihr Tun für sie wieder Sinn macht, das Feuer wieder brennt? Wo müssen sie loslassen und vielleicht völlig neue Wege gehen? Ich denke, wir alle kennen solche Situationen, in denen wir mit dem Leben, in denen wir mit Gott ringen, auch wenn sie längst nicht immer so dramatisch sind.
Auch wenn wir unseren Halt im Glauben gefunden haben, erspart uns das dieses Ringen nicht. Nicht ungebrochenes und unerschütterliches Gottvertrauen sollen wir uns erhoffen, aber den Mut des Jakob, zu ringen und zu kämpfen, wo es nötig ist, nicht aufzugeben, unseren Glauben nicht loszulassen.
Für mich enthält die Jakobsgeschichte eine grossartige Zusage. Auch in dem für uns vielleicht sinnlosen Ringen, in dem was wir nicht begreifen, haben wir es letztlich mit Gott zu tun. Und wenn wir wie Jakob standhalten, uns nicht entmutigen lassen, die Hoffnung nicht aufgeben, dann lässt Gott sich seinen Segen abringen. Jakob ist am Ende des Kampfes gezeichnet, er hinkt an der Hüfte, aber er ist nicht überwunden. Auch für uns gilt: wir sind wohl von den Erfahrungen unseres Lebens gezeichnet, tragen Verletzungen davon. Aber auch wir dürfen sagen: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“
Diese Worte Jakobs nimmt auch die Motette von Johann Sebastian Bach auf, die wir nach der Predigt vom Chor hören werden. In dieser Motette hat der Angeredete aber einen Namen. Es ist Jesus. In seinem Geschick können wir unser Leben bergen, denn Jesus ist nicht nur vom Leben, sondern sogar vom Tode gezeichnet und hat standgehalten. Darauf gründen wir unser Vertrauen, von dem der Sopran singt: „Weil du mein Gott und Vater bist, dein Kind wirst du verlassen nicht, du väterliches Herz.“
Seinen Segen schenkt uns Gott. Verdienen können wir ihn nicht. Aber beharrlich daran festhalten, dass er uns seinen Segen verheissen hat und niemals resigniert aufgeben. Wir können nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Und auch wenn wir mit Gott ringen müssen in unserem Leben: er will uns nicht besiegen, sondern uns segnen.
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