Sonntag, 8. April 2012

Predigt zur Passionsgeschichte nach Lukas am Karfreitag, 6. April 2012

Liebe Gemeinde,
früher galt der Karfreitag als der wichtigste protestantische Feiertag. Das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, war an diesem Tag wie erstorben. Kein lauter Ton war zu hören. Das Leben stand gewissermassen still. Auch der Gottesdienst gehörte für viele selbstverständlich dazu. Auch heute noch ist der Karfreitag ruhiger als andere Tage. Sportveranstaltungen und viele andere Wochenendaktivitäten ruhen. Aber immer mehr wird gefragt, ob solche Schutzbestimmungen für den Karfreitag noch Sinn machen, wo doch so vielen gar nicht mehr richtig bewusst ist, was der Karfreitag eigentlich bedeutet
Es geht mir nicht darum, über den allgemeinen Kulturverfall oder den Schwund christlichen Bewusstseins zu jammern. Die traditionelle Passionsfrömmigkeit macht ja auch vielen, die mit Ernst Christen sein wollen, durchaus Mühe. „Was du, Herr, hast erduldet, ist alles meine Last. Ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast.“ Wohl manch einer von uns – und ich schliesse mich ausdrücklich ein – hat Mühe, solche Aussagen heute noch wirklich zu verstehen. Für viele Menschen sind sie einfach sinnlos geworden.
Worauf es mir ankommt ist, dass die Passionsvergessenheit eine Verdrängung und einen Verlust zum Ausdruck bringt. Wir verdrängen Leid und Dunkel, Schuld und Versagen und wir verlieren das Gespür dafür, dass in dem Drama des Karfreitags etwas geschieht, das uns zugute kommt und uns hilft menschlicher zu leben, das Dunkel anzunehmen, weil Jesus es geteilt hat, Schuld und Versagen zu ertragen, weil er sie uns abgenommen hat.
Wenn wir ganz einfach die Passionsgeschichte lesen oder hören und sie meditieren, dann begegnen wir Menschen, die an ihre Grenzen stossen, die versagen, die mitschuldig werden aus Schwäche oder aus Kalkül. Wir begegnen aber auch Menschen, die schlicht menschlich handeln und das Nahe liegende tun. Auf diese Menschen möchte ich heute den Blick richten und mich an ihre Seite stellen. Mag sein, dass wir in manchen von ihnen uns wieder finden können. Was mich an der biblischen Passionsgeschichte des Lukas berührt, das ist ihre Nüchternheit. Da wird nichts beschönigt. Und zugleich ihre Barmherzigkeit, die Botschaft der Vergebung, die über allem steht.
Am Anfang steht ein Verrat. Über die Motive des Judas erfahren wir wenig. Im Lukasevangelium heisst es, der Satan sei in ihn gefahren. Historiker vermuten aufgrund seines Namens, er sei Anhänger einer gewaltsamen Widerstandsbewegung gegen die römische Herrschaft gewesen und von Jesu Gewaltfreiheit und Duldsamkeit enttäuscht.
Als Jesus im Angesicht seines Todes im Garten Gethsemane betet, übermannt seine Jünger der Schlaf. Der Schlaf, die bleierne Müdigkeit – sie ist Ausdruck dafür, dass die Jünger dem, was da geschieht, nicht gewachsen sind. Es ist einfach zu viel. Sie wissen nur zu gut, dass sie jetzt gebraucht würden. Aber sie sind wie gelähmt. Ich denke, dass wir durchaus in unserem eigenen Leben ähnlich Erfahrungen machen. Wichtig ist für mich, dass Jesus die Jünger aufrüttelt, aber dass er sie nicht verdammt. Seine Worte sind eher liebevoll und voller Mitgefühl.
In Petrus begegnen uns menschliche Angst und Feigheit. Dreimal verleugnet er, dass er einer der Gefährten Jesu ist. Er ist in dieser Geschichte alles andere als ein Fels. Er hat schlicht und einfach Angst. Er will sich nicht exponieren, möglichst unsichtbar bleiben. Auch in solcher Angst und Feigheit können wir vielleicht ein Stück von uns selber erkennen. Nicht nur da, wo es darum ginge, uns zu unserem Glauben zu bekennen, das auch. Aber auch da, wo es darum ginge, ein klares Wort zu sagen, ein eindeutiges Ja oder Nein, z.B. wenn Menschen verspottet, ausgegrenzt, als schwarze Schafe abgestempelt werden. Oder da, wo es darauf ankäme, den Leuten nicht nach dem Mund zu reden oder auch für jemanden in die Bresche zu springen und ihn in Schutz zu nehmen. Als der Hahn kräht, verdrängt oder rechtfertigt Petrus sein Versagen nicht, sondern er weint.
Pilatus ist das Bild eines Mächtigen, der es allen recht machen will und vor allem seine eigene Position nicht gefährden will. Er opfert einen Unschuldigen. Schnell bemerkt er die Stimmung, kalkuliert die Wirkung eines Freispruchs, wenn man sich beim Kaiser beschweren würde und überlässt Jesus seinem Schicksal. Es ist leicht, auf Pilatus zu zeigen, dieses Musterbeispiel eines Politikers ohne Rückgrat. Aber vielleicht ist es gut, wenn wir uns einen Moment an seine Seite zu stellen. Wer jemals in einer Entscheidungsposition war, der weiss, wie gross die Versuchung ist, die Stimmung auszuloten und mit dem Wind zu segeln und wie schwer es ist, Rückgrat zu zeigen und ein klares Wort zu sagen, für die eignen Überzeugungen einzustehen, erst recht, wenn man keine klaren Überzeugungen hat.
Oder denken sie an die aufgeheizte Volksmenge, die brüllt: „Kreuzige ihn!“. Diese Szene gehört für mich zu den beklemmendsten der Passionsgeschichte. Weil sie in den Kampagnen in Politik und Medien allgegenwärtig ist und weil die Bereitschaft so vieler, mitzubrüllen, zu verurteilen und zu verdammen, immer wieder erschreckend ist.
Erschreckend auch das Verhalten der Soldaten, die den Gefangenen misshandeln und verspotten. Noch dann, als er schon am Kreuz hängt, verspotten sie ihn und die Leute schauen zu. Auch dafür finden sich unschwer Beispiele aus unserer Zeit.
Und dann sind da am Kreuz die beiden Mitverurteilten. Der eine der beiden flüchtet sich in Zynismus und Spott. Der andere aber sucht seine Zuflucht bei Jesus. Er nimmt sein Schicksal an und setzt seine Hoffnung auf Gott.
Am Ende ist da noch der römische Hauptmann, der nicht einfach seinen Job tut, sondern sich berühren und bewegen lässt von dem, was er erfährt. Ganz schlicht stellt er fest: Dieser ist ein frommer Mensch gewesen.
Wenn wir die Passionsgeschichte meditieren, dann begegnen wir auf Schritt und Tritt Menschen, die angesichts des Leidens Jesu schwach sind, die an ihre Grenzen kommen und versagen. Und erst wenn wir uns einen Moment solidarisch an ihre Seite stellen, erkennen wir, dass wir Menschen so eben auch sind – nicht nur hilfreich, edel und gut, sondern mit Grenzen, Schuld und Versagen. Und die Passionsgeschichte kann uns helfen, diese Seiten an uns selber wahrzunehmen und sie anzunehmen, damit wir sie nicht nur auf die anderen projizieren und bei uns selber verdrängen müssen. Und vor allem kann sie uns dazu helfen, weil sie eben diese menschlichen Seiten weder beschönigt noch verdammt und weil sie sie in das Licht göttlicher Gnade und Barmherzigkeit stellt. „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“ bittet Jesus für seine Peiniger. Und Petrus, der ihn verleugnet hat, wird später seine Botschaft weitertragen und mit ihm die anderen Jünger, die bei der Passion die Flucht ergriffen haben.
Jesus verurteilt nicht. er kann uns auch als schwache und versagende Menschen brauchen. Er tritt für uns ein. Wie gut, das zu wissen. In diesem Vertrauen können wir täglich den aufrechten Gang üben und wenn wir hinfallen, dürfen wir uns wieder aufrichten lassen. Wir müssen keine Helden sein, sondern Menschen, die mit Gottes Hilfe ganz alltäglich ihren Weg gehen und sich gerade darin immer wieder Gottes Gnade und Barmherzigkeit gefallen lassen und erfahren dürfen, dass Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist. In dieser Kraft dürfen wir Menschen sein, die füreinander eintreten, so wie Christus für uns alle eingetreten ist.
Amen.

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