Donnerstag, 17. Mai 2012
Predigt zum Auffahrtstag am 17. Mai 2012 (ökumenischer Gottesdienst)
Die Predigt habe ich gemeinsam mit Pastoralassistent Udo Schaufelberger verfasst und anlässlich des ökumenischen Gottesdienstes zum Auftakt der Auffahrtswanderung der bernischen Landeskirchen und der Berner Wanderwege gehalten.
B.B.: Liebe Gemeinde,
nachher werden viele von ihnen diesen Tag nützen, um in unserer wunderbaren Hügellandschaft zu wandern - bergauf und bergab - und hoffentlich diesen Tag geniessen und viele bereichernde Eindrücke mitnehmen können. Auch in der Predigt möchten wir sie auf eine Wanderung einladen, sozusagen auf eine „geistliche Bergwanderung“. Sie beginnt auf dem Ölberg, mit der biblischen Geschichte, die dem heutigen Auffahrtstag seinen Namen gegeben hat.
40 Tage sind seit dem Ostermorgen vergangen. Im NT sind diese 40 Tage eine Zeit der besonderen Gegenwart Jesu. In dieser Zeit wurden die Jüngerinnen und Jünger Jesu in der Gewissheit bestärkt, dass Jesus, der Gekreuzigte nicht im Tode geblieben ist. Es ist eine Zeit der Reifung und der Stärkung, die Zeit, die es braucht, damit die neue Hoffnung, das neue Vertrauen bei den Jüngerinnen und Jüngern Wurzel schlagen kann. Ermutigt und bestärkt, erfüllt von dem Vertrauen, dass Jesus auferstanden und nicht alles zuende ist, können sie nun Abschied nehmen. Dieser Abschied ist geprägt von Zuversicht, ist auch eine Art Mündigerklärung der Jüngerinnen und Jünger.
Am Ende der Geschichte gibt es eine beeindruckende Szene: wie gebannt blicken die Jüngerinnen und Jünger in den Himmel hinauf, der Wolke hinterher, die den Auferstandenen ihren Blicken entzogen hat. Da tauchen zwei Männer in weissen Kleidern auf - wer würde hier nicht an die Geschichte vom leeren Grab denken! Und so wie sie am Ende des Lukasevangeliums fragen „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?“ so fragen sie nun „Was steht ihr da und schaut hinauf zum Himmel?“
Sie verweisen die Jüngerinnen und Jünger auf die Erde. Das ist der Ort, wo sie ihr Leben gestalten sollen, wo sie Verantwortung tragen und die Liebe, die sie erfahren haben, weitertragen sollen. Wer den christlichen Glauben mit einer frommen Weltflucht verwechselt, der hat diese Frage überhört.
Indem der Auferstandene die Jüngerinnen und Jünger verlässt, gibt er ihnen Freiheit und eröffnet ihnen und uns einen Raum, den wir wahrnehmen und in dem wir Verantwortung tragen können, Verantwortung für unser Leben, Verantwortung für die Menschen, die Gott uns anvertraut hat und für seine ganze Schöpfung, Verantwortung auch für die Botschaft vom Reich Gottes, die Jesus verkündet hat. Der Auferstandene geht. Aber er lässt sie nicht allein zurück. „Ihr werdet aber Kraft empfangen, wenn der heilige Geist über euch kommt, und ihr werdet meine Zeugen sein.“
Welchen Weg der Auferstandene uns als seinen Zeuginnen und Zeugen zeigt, danach fragen wir, indem wir nun die Szene von der Auffahrt Jesu auf dem Ölberg verlassen und auf einen zweiten Berg steigen, der schon vorher in der Bibel, im Matthäusevangelium beschrieben ist, den Berg der Versuchung.
U.S.: Welches Bild von Jesus ist uns eigentlich am liebsten? Jesus als Wanderprediger in der Hügellandschaft von Galiläa? Oder macht uns das zu wenig her? Ist uns doch das Bild von Christus lieber, der als Weltenherrscher strahlend und souverän auf einem himmlischen Thron ruht? Wie sich Jesus selber verstanden hat, darüber erfahren wir etwas Wichtiges auf dem zweiten Berg unserer geistlichen Bergwanderung, dem Berg der Versuchung. Auf diesen ‚sehr hohen Berg‘ hinauf hat der Teufel Jesus geführt, weil er ihm alle Königreiche der Welt in ihrer Pracht zeigen will: „Dies alles werde ich dir geben, wenn du dich niederwirfst und mich anbetest“ (Mt 4, 9), so lautet das verführerische Angebot. Doch Jesus sagt ab. Er widersteht der Versuchung zur Macht, und das nicht nur, weil ihm der teuflisch hohe Preis nicht behagt, sondern weil das nicht der Weg ist, den Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern weisen will. Jesus will mit den Seinen selber unterwegs sein, will für sie erfahrbar sein und berührbar. Denn nur in einer solchen Weggemeinschaft können sich die Anderen an ihm orientieren, können sie mit der Zeit selbst Verantwortung übernehmen, um dann wiederum anderen Menschen voranzugehen. Dies aber ist auch die Voraussetzung dafür, dass die Jüngerinnen und Jünger nach Ostern eigenständig einstehen können für ihre neu gewonnene Glaubensüberzeugung, für dieses neue Bewusstsein von Gott, das sich im Evangelium zeigt.
Jesus gibt uns einen wichtigen Wegweiser, in dem er selbst den Weg mit uns geht. Und diese Erfahrung trägt auch noch nach Ostern, nach Auffahrt und Pfingsten und lässt die kirchliche Weggemeinschaft nun seit fast 2000 Jahren unterwegs sein.
Wir dürfen gespannt sein, was uns Jesus noch alles mitgeben wird für unsere geistliche Wanderschaft, die uns auf einen weiteren Berg, den Berg der Seligpreisungen führt.
B.B.: Es tönt auf jeden Fall gut, was wir dort zuerst zu hören bekommen: “Glücklich seid ihr …” Ein glücklicher Mensch sein - wer möchte das nicht! Aber was ist ein glücklicher Mensch? Die Aufzählung in den Seligpreisungen entspricht vermutlich nicht ganz unserem Bild glücklicher Menschen: die Armen im Geiste, die Leidtragenden, die Sanftmütigen, die Barmherzigen, die reinen Herzens sind, die Friedensstifter. Glücklich nennt Jesus sie, weil sie auf Gott vertrauen und weil ihr Vertrauen nicht enttäuscht werden wird. Glücklich nennt er sie, weil sie ihre Berufung, ihre Aufgabe gefunden haben und weil sie mit anderen gemeinsam unterwegs sind. Und sie sind glücklich, weil sie die Sehnsucht nach einem Leben in Gemeinschaft und in Gerechtigkeit wachhalten.
Gegen Ende dieser Bergpredigt gibt Jesus uns die entscheidende Richtschnur für unser Handeln auf diesem Weg: “Wie immer ihr wollt, dass die Leute mit euch umgehen, so geht auch mit ihnen um!” Er macht nicht eine Vielzahl von Vorschriften, stellt keine Regeln auf, sondern macht Mut, selber zu denken und vor allem auf sein Herz zu hören, sich mit anderen zu verbinden und darauf zu achten, was sie nötig haben. Nicht Gehorsam, sondern Mitgefühl und Achtsamkeit kennzeichnen den Weg, den Jesus uns zeigt. Er traut uns zu, selber herauszufinden, was die anderen nötig haben und eigenständig, phantasievoll und kreativ das zu tun, was nötig ist. Und er traut uns auch zu, dass wir einander ermutigen und ermächtigen, unseren Weg eigenständig zu gehen und achtsam zu bleiben füreinander. Augustin hat einmal gesagt: “Liebe - und tu was du willst.” Ist das nicht ein wunderbarer Gedanke? Tu, was du wirklich von Herzen willst, wenn du liebst.
Wenn wir in diesem Geist der Bergpredigt Jesu unterwegs sind, dann können wir einander zu wirklichen Lehrerinnen und Lehrern werden, die einander ermächtigen statt andere nur zu belehren. Denn das ist der Auftrag, den Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern auf dem letzten Berg unserer Wanderung gibt.
“Geht nun hin und macht alle Völker zu Jüngern: Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, und lehrt sie alles halten, was ich euch geboten habe. Und seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.”
U.S.: Auch diese letzte Szene des Matthäusevangeliums spielt also auf einem Berg. Jesus hat die Frauen und Männer seiner Gemeinschaft an diesen Ort in Galiläa geschickt, an dem er ihnen das letzte Mal erscheinen will. Und das ist nicht verwunderlich: denn schon in vielen älteren Schriften der Bibel, z.B. in den Büchern Mose oder bei Jesaja ist der Berg der Ort der besonderen Gottesoffenbarung. Und viele Berggängerinnen und Berggänger teilen diese Erfahrung bis heute. Auch wenn sie nicht immer mit derlei klaren Worten nach Hause kommen, wie Jesus sie seinen Jüngerinnen und Jüngern auf diesem Berg mitgeben hat: „Geht nun, macht alle Völker zu Jüngern, tauft sie und lehrt sie alles, was ich euch geboten habe“.
Alle Völker zu Jüngern machen? Am Ende zu Mitgliedern der reformierten, römisch-katholischen, christkatholischen und all der anderen Kirchen? Dass dieser Auftrag bei vielen nicht gerade auf Gegenliebe trifft, scheint offensichtlich. Aber geht es wirklich darum? Jünger sind zuallererst Menschen, die bereit sind zu lernen in der Schule des Lebens, die bereit sind, sich führen zu lassen auf diesem Weg des Lernens. Und auf diesem Weg der Erkenntnis brauchen wir genau die Orientierungshilfe, die uns Jesus so kraftvoll anbietet. Jesus ist aber nicht einer, dem wir einfach blindlings nachlaufen sollen. Vielmehr sagt er mir: Habe den Mut, zu der Überzeugung zu stehen, die Dich bewegt und gehe nicht hinter sie zurück. Stell Dich der Aufgabe, Deine Glaubenseinsicht eigenständig zu vertreten, so wie ich es Dir vorgemacht habe. Zeige das eigene Profil Deiner Glaubensüberzeugung, denn Du brauchst nicht kreuz und quer Deinen Weg zu gehen.
Es geht also um solche Weggemeinschaft, die aus Schülerinnen und Schülern Lehrer und Lehrerinnen macht, zu eigenständigen Menschen, die im Geist von Jesus handeln. Und mit diesem lebensbejahenden Geist sollen wir die ganze Welt anstecken, sollen wir sie eintauchen, sie taufen. Und das ergibt dann eben nicht das brave Kirchenschaf, diese Karikatur des Kirchgängers, das jedem Prediger blindlings hinterherläuft und auch nicht diese Karikatur des Wanderers, der in roten Kniebundsocken, blind für die Wunder der Natur dahinschreitet, sondern dieser lebensbejahende Geist Jesu führt zu Menschen, die achtsam und bewusst in dieser Welt unterwegs sind - auch bereit, sich für die Wege selber einzusetzen, auf denen wir gehen können. Und genau das tun ja z.B. die engagierten Frauen und Männer bei den „Berner Wanderwegen“ seit nunmehr 75 Jahren.
Jesus mutet uns auf diesem letzten Berg des Matthäusevangeliums nicht weniger als die religiöse Eigenständigkeit zu, aber er lässt uns damit nicht allein. Er sagt vielmehr: Es kommt zwar auf Dich an, es hängt aber nicht allein von Dir ab. Denn seid gewiss: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“.
Samstag, 5. Mai 2012
Predigt zu „Viele reden vom Weltuntergang - wir reden vom Leben“ am 22. April 2012
Liebe Mitchristen,
am 21. Dezember dieses Jahres wird die Welt untergehen. So jedenfalls wird in manchen esoterischen Kreisen die Tatsache interpretiert, dass zur Wintersonnenwende 2012 der Mayakalender endet und eine rätselhafte Inschrift in diesem Zusammenhang vom Kommen einer Gottheit berichtet. Vor drei Jahren startete in den Kinos ein Katastrophenfilm des Erfolgsregisseurs Roland Emmerich mit dem Titel 2012, der von dieser Prophezeihung inspiriert war und sich eben auch die Faszinationskraft solcher Weltuntergangsängste zunutze macht.
Es ist nicht die erste und vermutlich auch nicht die letzte Weltuntergangs-prophezeihung und sie beruht wohl auf einer Fehlinterpretation des Mayakalenders. Denn der beruht auf einem zyklischen Denken und umfasst Zyklen zu je 394 Jahren. Relativ sicher ist nur dass am 21. Dezember ein solcher Zyklus endet. Erst wenn man dies mit apokalyptischen Szenarien verbindet, wird daraus mehr als der Übergang zu einem neuen Zyklus. Und ganz abgesehen davon zwingt uns nichts und niemand dazu, aus dem Mayakalender historische Ereignisse abzuleiten. Er ist Ausdruck einer frühen Hochkultur, die ihre Blütezeit zwischen 300 und 900 n.Chr. hatte. Diese Kultur verdient Respekt, aber aus ihr zukünftige Ereignisse ablesen zu wollen, ist für mich nicht nachvollziehbar. Und übrigens gibt es manche, die davon überzeugt scheinen, dass tatsächlich am 21.12. die Welt untergeht und sich trotzdem um ihre Rente sorgen.
Aber gehört nicht die Erwartung des Weltuntergangs und des Kommens Jesu Christi zum Jüngsten Gericht zu den Erwartungen unseres christlichen Glaubens? Ist nicht das Buch der Offenbarung eine manchmal beängstigende Schilderung der Ereignisse am Ende der Welt? Und lassen sich nicht manche Dinge beobachten, die an die Geschehnisse erinnern, die in der Offenbarung geschildert werden - Abfall vom Glauben, Naturkatastrophen, Kriege, Terror und Gewalt? Auch in christlichen Kreisen hat es immer wieder Spekulationen über das Weltende gegeben und Menschen haben historische Ereignisse als Zeichen der Endzeit interpretiert. Ich will und kann hier nur zu allergrösster Vorsicht und Zurückhaltung mahnen. Das Buch der Offenbarung ist keine realistische Schilderung irgendwelcher Ereignisse am Ende der Weltgeschichte, keine Weissagung zukünftiger Ereignisse, die irgendwann genau so eintreffen werden. Es nimmt apokalyptische Vorstellungen auf, um den Erfahrungen der Bedrängnis und Verfolgung, in der die christlichen Gemeinden in Kleinasien in dieser Zeit stehen, einen Sinn zu geben. Es ist eine Zeit der Bewährung und diese Zeit ist begrenzt. Ihr müsst die Hoffnung nicht aufgeben, denn unser Herr kommt gewiss. Gewalt und Verfolgung, das herrschende Unrecht - sie haben nicht das letzte Wort. Das ist die Botschaft der Offenbarung für die Christen Kleinasiens. Der Verfasser der Offenbarung hat die Ereignisse seiner Gegenwart als Zeichen der Endzeit verstanden und mit einem baldigen Weltende gerechnet. Diese Erwartung hat sich in dieser Form nicht bewahrheitet und wir können und müssen diese apokalyptische Vorstellungswelt nicht teilen, um Christinnen und Christen zu sein.
Auch der Abschnitt aus dem Markusevangelium, den wir in der Schriftlesung gehört haben, teilt diese apokalyptische Vorstellungswelt und auch der Evangelist erwartet das Weltende noch zu seinen Lebzeiten. Auch hier gilt: nicht die apokalyptische Vorstellungswelt und das erwartete baldige Weltende sind entscheidend für den christlichen Glauben. Worauf es in meinen Augen in diesem Text ankommt und was die bleibende christliche Botschaft ist, das ist die Erinnerung daran, dass wir weder den Tag noch die Stunde kennen und die Aufforderung zur Wachsamkeit. Wachsamkeit heisst aber nun nicht, irgendwie doch die Zeichen des vermeintlich nahenden Weltendes lesen und interpretieren zu wollen. Wachsamkeit heisst vielmehr: bereit sein, für unser Leben Verantwortung zu übernehmen. Die bodenständige Lebensweisheit eines Bauern aus unserer Gemeinde - oder genauer gesagt seiner längst verstorbenen Mutter - wird diesem Text mehr gerecht als jede noch so tiefe Spekulation über das Weltende. Er sagte mir einmal, dass er von seiner Mutter gelernt habe, sich jeden Tag darum zu bemühen, mit seinen Mitmenschen im Frieden zu leben und seinen Zorn nicht mit in den Schlaf zu nehmen, weil man nie wissen könne, ob man den nächsten Tag noch gemeinsam erlebe. Es ist dieses Bewusstsein der Endlichkeit und unserer Verantwortung, die wir gegenüber unserem Leben, den Mitmenschen und letztlich gegenüber unserem Schöpfer haben, um die es geht.
Viele reden vom Weltuntergang - wir reden vom Leben. Als Christinnen und Christen sollen wir vom Leben reden, vom Geschenk des Lebens, von der Verantwortung, die wir für unser Leben tragen und davon, dass wir im Leben und im Sterben in Gottes Hand sind. Luther’s berühmter Satz, dass er, wenn er wüsste, dass morgen die Welt unterginge, er heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen würde, ist Ausdruck dieser Hinwendung zum Leben. Spekuliert nicht über die Endzeit, sondern setzt Zeichen der Hoffnung. Spekuliert nicht über das Jenseits, sondern wendet euch dem Leben Hier und Jetzt zu. Aber tut es nicht so, als ob nach euch die Sintflut käme, sondern im Wissen darum, dass ihr in diesem Leben eine Berufung, einen Auftrag habt und dass dieses Leben nur dann Sinn macht, wenn ihr eurer Berufung nachlebt. Jeder und jede von uns hat seine eigene Berufung. Sie zu erkennen, ist ein lebenslanger Prozess, ein Prozess mit Wandlungen und Häutungen, auch mit Irrwegen und Zeiten der Verunsicherung. Dieses Leben ist ein Geschenk und in einem Geschenk ist der Schenkende selbst präsent. Entsprechend sorgfältig und achtsam sollen wir mit dem uns Anvertrauten umgehen - mit unserem eigenen Leben, mit unseren Mitmenschen und mit der ganzen Schöpfung.
Auf Endzeitspekulationen - ob sie nun aus dem Mayakalender oder aus der Bibel abgeleitet werden - sollten wir verzichten. Hier gilt: Ihr wisset weder Tag noch Stunde. Wo wir erkennen, dass wir selbst unser Leben und unseren Planeten gefährden - durch unseren Umgang mit den natürlichen Ressourcen, durch die Anhäufung tödlicher Waffen oder dadurch, dass wir durch die ungerechte Verteilung der Mittel bedrohliches Konfliktpotential schaffen, da haben wir nicht Zeichen der Endzeit zu erkennen, sondern Zeichen dafür, unser Handeln zu ändern. Und dasselbe gilt auch für die Ressourcen an Mitgefühl, an Liebe, an Zeit füreinander.
Die Wachsamkeit, zu der wir aufgefordert sind, sie ist weniger Wachsamkeit für die Vorboten einer Endzeit, sondern vielmehr Wachsamkeit für das, was uns hier und heute begegnet, für die Menschen um uns, für die Aufgaben, die jetzt zu tun sind, für die Zeichen der Hoffnung, die uns am Wegrand begegnen, für die Gelegenheiten zur Liebe, zur Begegnung und zur Versöhnung. Und mindestens ebenso sehr, wie wir auf das Kommen Christi am Ende der Zeiten hoffen, sollen wir achtsam sein für das Kommen Christi mitten in diesem Leben. Denn darauf dürfen wir vertrauen, dass Christus jeden Tag neu auf uns zukommt - in den Menschen, die uns begegnen, in Momenten innerer Gewissheit und Ruhe, in Worten die uns Kraft und Lebensmut geben, in den Erfahrungen des Getragen- und Geliebtseins, im Aufleuchten der Kostbarkeit des Lebens. Es sind diese alltäglichen Zeichen, auf die wir achten und für die wir wachsam sein sollen, damit wir bereit sind für das, was bereits jetzt auf uns zukommt. Und festhalten sollen wir an dem Vertrauen, dass das Ende unserer Zeit und das Ende der Weltzeit nicht das Ende der Möglichkeiten Gottes ist. Das ist der Kern der Verheissung der Wiederkunft Christi und der Schaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde. Wir werden immer wieder Angst haben, angesichts der Sorgen unseres eigenen Lebens und angesichts von Entwicklungen, die uns bedrohlich erscheinen. Aber da ist einer, der bei uns ist in unseren Ängsten und der sie von uns nehmen kann. Wenn wir auf ihn vertrauen, werden wir frei, uns dem Leben und den Menschen zuzuwenden, finden wir zu innerer Ruhe und Gelassenheit und können wachsam sein für das, was Gott uns an Möglichkeiten schenkt.
Predigt über Jesaja 12,1-6 am 6. Mai 2012
Liebe Gemeinde!
Wenn es uns gut geht und wir glücklich sind, dann singt es sich leicht, dann wird vielen Menschen die Freude zum Lied, zu einer fröhlichen Melodie. Aber wenn es nichts zu lachen gibt, wenn trübe Gedanken unsere Seele belasten, wenn Not und Trauer unser Leben verdunkeln? Dann ist vielen von uns nicht zum Singen zumute. Aber käme es nicht gerade in solch schweren und dunklen Zeiten unseres Lebens darauf an, dass wir wieder ein neues, ein besseres Lied singen können als das ewige Lied des Jammerns und Klagens – oder uns hineinbegeben in die Gemeinschaft derer, die Lob- und Danklieder singen können? Ich denke, die Kraft der biblischen Botschaft hat nicht zuletzt etwas damit zu tun, dass hier auch im tiefsten Dunkel das Lob Gottes nicht verstummt. Gerade die Psalmen, dieses Gesangbuch der Bibel macht uns das immer wieder bewusst. Wie tief das Dunkel auch sein mag, wie sehr die Beterinnen und Beter in ihrer Not auch am Rande der Verzweiflung sind, vielleicht gar erfüllt von tiefen Hass- und Rachegefühlen – immer münden die Psalmen am Ende in eine andere Melodie, eine Melodie, die Gott preist für seine Güte und ihn zugleich bittet, ja geradezu beschwört, sein Angesicht wieder zuzuwenden, das eigene Schicksal zu wenden.
Auch unser heutiger Predigttext ist ein solches Loblied in dunkler Zeit:
Lesung Jes 12
Ein wahrhaft kühner Vorgriff auf eine glückliche und heilvolle Zukunft ist dieses Danklied der Erlösten aus dem Jes – ein kühner Vorgriff in der dunkelsten Stunde des Volkes Israel. Wo die meisten ihr trauriges Schicksal beweinen und Mut und Hoffnungslosigkeit sich breit machen, wagt da einer ein neues Lied anzustimmen, nicht schicksalsergeben oder hadernd, sondern hoffnungsvoll und zuversichtlich.
Israel befindet sich in der babylonischen Gefangenschaft. Wird es je wieder eine glückliche Zukunft, eine Rückkehr in die Heimat geben? War das bittere Exil die gerechte Strafe Gottes, weil die Israeliten so oft von den Weisungen und Wegen ihres Gottes abgewichen waren? Oder war es vielmehr der Beweis der Ohnmacht dieses Gottes? Haben wir es nicht besser verdient oder hat Gott uns im Stich gelassen? Der Verfasser unseres Predigttextes findet sich nicht ab mit dieser trostlosen Alternative. Er kennt die alten Worte des Propheten Jesaja, die etwa 150 Jahre früher gesprochen wurden. Er weiss wie sehr der Prophet sein Volk gewarnt hat, sich nicht allein auf eigene Macht und Stärke zu verlassen, sondern den Weisungen seines Gottes zu folgen. Hat er nicht angeprangert, wie die Grossen und Mächtigen die Armen und Kleinen bedrücken? Hat er sie nicht gewarnt vor dem Vertrauen auf militärische Stärke und sie dazu aufgerufen den Weg des Glaubens, des Friedens und der Gerechtigkeit zu gehen? Ja, das Exil ist wohl wirklich die logische Konsequenz der Irrwege seines Volkes. Und doch ist es für ihn nicht das Ende der Wege Gottes. Denn er weiss auch um Gottes Verheissungen, um seine Treue und Verlässlichkeit. Und so schreibt er die alten Prophetenworte fort und stimmt ein neues Lied an, schreibt und singt an gegen die Resignation und Hoffnungslosigkeit. Er wagt es, von einer Zeit zu reden, in der die Menschen zuversichtlich ans Werk gehen, mit Freuden Wasser schöpfen und erkennen, dass Gott mit ihnen geht. Die Zeit der Vorwürfe, der Anklagen und des Selbstmitleids ist vorbei. Jetzt gilt es, über die gegenwärtige Misere hinauszuschauen und wieder zu träumen von einer guten und heilvollen Zukunft. Erst wenn wir das wieder wagen, kann es auch gelingen, phantasievoll und zuversichtlich vorwärts zu gehen und neue Energien zu entwickeln. Nicht, weil wir Träumer oder billige Optimisten sind, sondern weil wir die Verheissungen unseres Gottes haben.
Singt dem Herrn ein neues Lied – diese Aufforderung steht über dem Sonntag Kantate. Sie ist eine Einladung, das Lob Gottes auch dann nicht verstummen zu lassen, wenn die Erfahrungen unseres Lebens uns ein solches Lob nicht unbedingt nahe legen. Gerade in dunklen Zeiten ist es wichtig für uns, dass wir in den Raum des Gotteslobs eintreten können. Ich habe das ganz bewusst so formuliert. Denn Gott zu loben in schwerer Zeit, das ist mehr als wir eigentlich können. Wenn wir bei einer Trauerfeier, bei der der Abschied fast nicht auszuhalten ist, die Worte Dietrich Bonhoeffers singen: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag“, dann können wir das wohl nur, weil wir uns diese Worte leihen dürfen und sie nicht selber finden müssen. Und ich denke, dass es leichter ist, diese zu singen, als sie einfach zu sprechen. Dieses Lied ist wie ein Raum, in den wir eintreten dürfen, der einfach da ist für uns. Wenn wir dieses Lied singen, dann probieren wir aus, wie das ist, sich in diesem Raum zu bewegen. Und vielleicht können wir ein wenig heimisch darin werden, uns darin bergen in unserer Trauer und spüren, dass da noch eine Kraft ist, die über unsere Trauer hinausweist.
Manche von ihnen haben wohl auch schon die Erfahrung gemacht, wie sich ein tiefer Friede ausbreiten kann, wenn sie am Bett eines schwer kranken oder sterbenden Menschen ein Lied gesungen haben. Oder es ist für mich immer wieder beeindruckend, wie sich das Gesicht eines Menschen verändern kann, wenn ich mit ihm oder für ihn die Worte des 23. Psalms spreche. Und ich denke daran, wie viel gerade älteren Menschen das Lied „So nimm denn meine Hände bedeutet“ – und nicht nur den besonders Frommen. Viele Menschen spüren, dass solche Worte und vor allem solche Lieder ein Raum sind, in dem sie sich bergen können. Sie sind uns geschenkt und wir müssen sie nicht erst machen. Aber entdecken müssen wir diese Räume und wir müssen es wagen, in sie einzutreten. Es sind einladende Räume und niemand darf hineingezwungen werden. Zum Glauben und zum Gottvertrauen kann niemand aufgefordert werden. Das ist nichts was wir machen oder erzwingen können. Und es kann vielleicht besser sein, anderen erst einmal beim Singen zuzuhören, wahrzunehmen wie das tönt und wie die Töne und die Worte in mir anklingen. Aber es ist wichtig für uns, dass wir wissen: wir dürfen die Worte und Melodien ausprobieren. Es kommt nicht darauf an, dass wir jedes einzelne aus vollem Herzen mitsprechen und mitsingen können. Ich möchte sie viel eher einladen, die alten Worte und Melodien einfach einmal auszuprobieren. Das mag durchaus in der Haltung sein: Wie wäre das, wenn wir wirklich von guten Mächten wunderbar geborgen wären – auch wenn ich das momentan kaum glauben kann. Wie wäre das, wenn ich tatsächlich mit Freuden Wasser schöpfen dürfte aus den Quellen der Rettung, auch wenn ich um mich nur Wüste sehe. Ich stelle mir einmal vor, dass da einer ist, der sich um mich sorgt, damit ich keinen Mangel leide und der meinen Tisch reichlich füllt.
Vielleicht denken sie jetzt, dass das alles ein bisschen wenig ist und dass uns das alles und viel mehr in der Bibel zugesagt ist und wir das nicht nur ausprobieren, sondern wirklich glauben sollen. Das stimmt natürlich. Trotzdem denke ich, dass Messlatten und feste Vorschriften im Glauben nicht weiterhelfen. Deshalb möchte ich zum Ausprobieren einladen. Deshalb ist mir das Bild von den Worten und Melodien, die wir uns leihen können, von den Räumen, die wir betreten dürfen so wichtig. Ich denke, dass es Menschen leichter fällt, sich auf den Glauben einzulassen, wenn sie wissen, dass sie nicht dieses oder jenes glauben müssen, sondern ihnen auch Räume fremd bleiben dürfen und sie sich auch eingestehen dürfen, dass ihnen Glaubenssätze und Hoffnungen anderer im Moment fremd bleiben und nicht zugänglich sind. Vielleicht sind es ja Räume, Melodien und Worte, die ihnen zu einer anderen Zeit ihres Lebens wichtig werden. Solche Offenheit und Experimentierfreude wünsche ich mir für unseren Glauben.
Dann können wir auch die Einladung unseres Predigttextes hören, unserem Gott Loblieder zu singen, weil wir nicht vergessen, wie viel Gutes er uns bis hierher getan hat und weil wir glauben, dass er uns auch durch das Dunkel begleitet und unser Dunkel wieder hell machen kann. Mit den Worten unseres Predigtliedes:
„Sollt ich meinem Gott nicht singen! Sollt ich ihm nicht dankbar sein?
Denn ich seh in allen Dingen, wie so gut er’s mit mir mein.
Ist doch nichts als lauter Lieben, das sein treues Herz bewegt,
das ohn Ende hebt und trägt, die in seinem Dienst sich üben.
Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit.“ Amen.
Sonntag, 29. April 2012
Predigt über 2. Kor 4,16-18 am 29. April 2012
Liebe Gemeinde,
„Darum verzagen wir nicht“ oder in der Luther-Übersetzung: „darum werden wir nicht müde“ - es ist eine starke Behauptung des Paulus, mit der unser heutiger Predigttext beginnt. Hat dieser Paulus denn gar keine Ahnung von all den vielen Dingen, die uns so oft müde und verzagt machen?
Manche von uns könnten wohl ein Lied davon singen, dass das Leben uns manchmal ganz schön müde und verzagt machen kann. Mütter und Väter, die versuchen Familie, Beruf, Hobbies und Freundschaften irgendwie zu vereinbaren und es in allen Bereichen möglichst gut machen wollen und darunter leiden, dass sie immer wieder an Grenzen stossen, merken, dass vieles zu kurz kommt und das Gefühl haben, nicht allem gerecht werden zu können. Manch einer und manch eine erlebt heute den Alltag wie einen Hochseilakt, bei dem man jederzeit aus der Balance geraten und abstürzen kann. Und manch einer verliert auch sein Gleichgewicht und stürzt.
Es kann müde und verzagt machen, wenn man immer wieder äusseren Anforderungen gerecht werden will, ob sie nun von der Familie kommen, von Modetrends, von dem, was MAN tut, von Vorgesetzten im Beruf oder von dem, was wir selber für nötig halten und irgendwann vor der Frage steht, welchen Sinn das alles macht. Und manch einen macht es auch müde, immer wieder nach aussen als ein Anderer erscheinen zu müssen, als der für den er sich selber hält, scheinbar verbergen zu müssen, wie einem wirklich zumute ist. „Wir spielen alle Theater“ heisst ein Buch, das im englischen Original schon vor über 50 Jahren erschienen ist und dessen Titel vermutlich heute mehr denn je seine Gültigkeit hat. Wie viele Menschen sind ständig bemüht, ihr Image aufrechtzuerhalten und zahlen dafür einen hohen Preis, weil sie innerlich immer einsamer werden.
Es kann müde und verzagt machen, wenn einem das, worauf man gebaut hat, genommen wird oder unter den Händen zerrinnt - weil vielleicht ein lieber Mensch stirbt, eine Partnerschaft oder eine ganz wichtige Freundschaft zerbricht oder auch einfach nur das, woran man bisher geglaubt hat, plötzlich fraglich wird.
Und manche macht es auch müde und verzagt, wenn sie spüren, wie die körperlichen Kräfte oder die geistigen Fähigkeiten allmählich abnehmen und die Spuren des Alters sich zeigen, Krankheiten und Gebrechen häufiger werden und vielleicht eines nach dem anderen kommt und manchmal kaum Zeit bleibt, wieder einmal Lebensmut und Zuversicht zu entwickeln.
„Darum verzagen wir nicht“, „darum werden wir nicht müde“ - es ist wirklich eine starke und gar nicht selbstverständliche Behauptung, die Paulus da macht. Seine Begründung mag auf den ersten Blick einleuchten, aber sie löst auch wieder Fragen aus: „Wenn auch unser äusserer Mensch verbraucht wird, so wird doch unser innerer Mensch von Tag zu Tag erneuert.“ Dass unsere Kräfte mit dem Älterwerden abnehmen, das ist eine Erfahrung, die wir alle teilen. Aber wird der innere Mensch automatisch von Tag zu Tag erneuert? Und sind wir heute nicht oft viel mehr damit beschäftigt, den Verbrauch und Verfall des äusseren Menschen aufzuhalten als damit, den inneren Menschen zu erneuern? Und stimmt diese einfache Gegenüberstellung von äusserem und innerem Menschen überhaupt? Zumindest würde ich dieser einfachen Gegenüberstellung gerne einen Satz der Theresa von Avila entgegenhalten: „Tu deinem Leib etwas Gutes, damit deine Seele Lust hat, darin zu wohnen.“ Es stimmt eben nicht, dass es auf das Äussere und Sichtbare nicht ankommt und dass wir uns nur um das Innere und Unsichtbare zu kümmern hätten. Wenn wir unserem Körper etwas Gutes tun, uns um unser äusserliches Wohlbefinden kümmern, dann sind das keine unnötigen Nebensächlichkeiten, sondern es kann durchaus eine Art sein, wie wir unsere Dankbarkeit dafür zeigen, dass Gott uns - um mit Paulus zu sprechen - dieses irdische Gefäss geschenkt hat, damit wir so Sorge dazu tragen, dass unsere Seele Lust hat, darin zu wohnen.
Trotzdem macht Paulus uns auf etwas Wichtiges aufmerksam. Es kommt auf die Erneuerung unseres inneren Menschen an. Auch Paulus weiss sehr wohl darum, wie sehr einem das Leben manchmal müde machen kann. Er hat erfahren, wie manches, was er aufgebaut hat, wieder in Frage gestellt wurde - gerade in der korinthischen Gemeinde. Er hat erlebt, wie sein ganzes bisheriges Leben auf einmal seinen Sinn und seinen Wert verloren hat, weil er als Verfolger der christlichen Gemeinde mit Eifer einen Irrweg verfolgt hatte. Sein Weg als Apostel und Gemeindegründer war mit kräfteraubenden Reisen und Entbehrungen, mit Anfeindungen und Misserfolgen, zeitweise mit Gefangenschaft verbunden. Und zu alledem musste er als Stotterer Spott ertragen und wurde immer wieder von epileptischen Anfällen geplagt.
Für ihn war es wichtig auf das Unsichbare zu schauen und nicht nur auf das Sichtbare. Seine Leiden und Entbehrungen verloren für ihn an Gewicht und Bedeutung, weil er sie im Lichte der Leiden Christi und mit der Hoffnung auf die unendliche Fülle sehen konnte, die Christus verheissen hat. Das war sein innerer Kompass, daran richtete er seinen inneren Menschen aus. Sich immer wieder in diesem Vertrauen zu bestärken, darin sieht Paulus die tägliche Erneuerung des inneren Menschen.
Für mich ist dieses Bild vom inneren Kompass hilfreich als Bild für das, was Paulus mit der Erneuerung des inneren Menschen meint. Einen inneren Kompass brauchen wir, damit wir in unserem Leben nicht die Richtung verlieren und uns immer wieder neu auf das Wesentliche konzentrieren können. Dazu brauchen wir nicht so sehr gute Ratschläge und Lebensweisheiten von der Stange, sondern viel eher die Ermutigung: nimm dir die Zeit und die Ruhe, darauf zu achten, was dir in deinem Leben wirklich wichtig ist. Stürze dich dabei nicht auf das Erstbeste und Naheliegende, sondern versuche weiter zu schauen. Vertraue auch nicht allein auf das Sichtbare, sondern schaue über das hinaus, was vor Augen liegt. Wo es uns geschenkt wird, „hinüber“ zu sehen, unser Leben gewissermassen mit den Augen Gottes zu sehen, als ein Leben, das in Gottes Hand steht, kann sich eine heitere Gelassenheit entwickeln, die uns hilft, nicht müde oder verzagt zu werden. Was ich damit meine, kann ich nicht schöner und treffender ausdrücken als in den Worten des Kabarettisten Hans-Dieter Hüsch:
Ich bin vergnügt, erlöst, befreit.
Gott nahm in seine Hände meine Zeit,
mein Fühlen, Denken, Hören, Sagen,
mein Triumphieren und Verzagen,
das Elend und die Zärtlichkeit.
Was macht, dass ich so fröhlich bin
in meinem kleinen Reich.
Ich sing und tanze her und hin
vom Kindbett bis zur Leich.
Was macht, dass ich so furchtlos bin
an vielen dunklen Tagen.
Es kommt ein Geist in meinen Sinn,
will mich durchs Leben tragen.
Was macht, dass ich so unbeschwert
und mich kein Trübsal hält,
weil mich mein Gott das Lachen lehrt
wohl über alle Welt.
Solch heitere Gelassenheit, weil wir darauf vertrauen dürfen, dass unser Leben in Gottes Hand steht, kann ein innerer Kompass für unser Leben sein. Und weil wir nicht alles von diesem Leben erwarten müssen und weil auch nicht alles auf uns ankommt, können wir hier und jetzt das uns Mögliche tun und uns immer wieder neu auf das Wesentliche konzentrieren. Das müssen keine grossen Dinge sein. Noch einmal möchte ich dazu Hanns Dieter Hüsch zitieren. Vor Jahren beendete er seine Auftritte mit einer kurzen Zugabe als Schlusspunkt:
Ich sah einen Mann
mit seiner Frau
Beide schon älter
Die Frau war blind
Der Mann konnte sehen
Er fütterte sie
Das ist alles
Hüsch schloss mit einem Gute Nacht. Ich mit einem Amen.
Sonntag, 8. April 2012
Predigt zu Joh 20,24-29 am Ostersonntag, 8. April 2012
Am Ostersonntag wird der Gottesdienst in unserer Kirchgemeinde als Gottesdienst für Klein und Gross gefeiert. Deshalb steht in der Regel eine Bilderbuchgeschichte im Zentrum. In diesem Jahr war es "Der Ostermorgen" von Regine Schindler. Für die Erwachsenen gibt es eine kurze Predigt, die im Folgenden zu lesen ist.
Christus ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden! Mit diesem Osterruf haben wir den Gottesdienst begonnen und die Geschichte von Regine Schindler hat uns davon erzählt. Die Ostergeschichte, die gute Nachricht von der Auferstehung Jesu Christi ist das Zentrum unseres Glaubens.
Aber geht es uns modernen Menschen nicht oft wie der biblischen Gestalt des Thomas? Von ihm erzählt das 20. Kap. des Joh: V. 24-29
Es lohnt sich, diese Geschichte ganz genau zu lesen. Thomas ist der exemplarische Skeptiker und Zweifler. Er sucht den eindeutigen Beweis für Jesu Auferstehung. Das Zeugnis seiner Gefährten reicht ihm nicht. Ja, nicht einmal, wenn er den Auferstandenen selbst sehen würde, wäre er überzeugt. Er will seine Hand in seine Wundmale legen, um ganz sicher zu sein. Und genau das bietet ihm der Auferstandene an. Verschafft Thomas sich nun den eindeutigen Beweis. Viele Darstellungen in der Kunstgeschichte scheinen davon überzeugt. Aber wenn wir genau lesen oder hinhören, dann heisst es da nur, das Thomas sagt: „Mein Herr und mein Gott!“ Und auch die Reaktion Jesu redet nur vom Sehen, nicht vom Berühren. Warum ist dieser Unterschied so wichtig? Weil er uns daran erinnert, dass wir der Auferstehungsbotschaft nur glauben können und die Suche nach eindeutigen, überzeugenden Beweisen an dieser Botschaft des Glaubens vorbeizielt.
Die Geschichte des Thomas führt uns haarscharf an die Grenze dessen, was der Glaube an die Auferstehung bedeutet. Er ist nicht ein blosses Führwahrhalten von etwas, das eigentlich widervernünftig ist, sondern das Vertrauen auf eine Wirklichkeit, die höher ist als alle Vernunft. Deshalb geht auch der innerchristliche Streit darum, ob man nun als Christ eine leibliche Auferstehung Jesu Christi für wahr halten muss oder nicht, letztlich am Kern dieser Botschaft vorbei. Ohne Zeichen, ohne Auferstehungserfahrungen hätten die Jüngerinnen und Jünger Jesu nicht glauben können, das Jesus wahrhaftig auferstanden ist. Sie haben Erfahrungen gemacht, die sie mit der inneren Gewissheit erfüllte, dass Jesus lebt. Aber sie haben keine eindeutigen Beweise erhalten. Und sie können und wollen uns auch nicht erklären wie und in welcher Gestalt Jesus auferstanden ist. Die Erfahrungen und Zeichen haben den Glauben in ihnen geweckt. An diesem Glauben haben sie festgehalten und ihn weitergetragen.
Jesus sagt zu Thomas: „Selig, die nicht mehr sehen und glauben!“ Das ist die Situation der Leserinnen und Leser des Joh - und es ist auch unsere Situation. Auch wenn wir nicht die Erfahrungen der Jünger machen, auch wenn wir nicht mehr sehen, so dürfen wir doch vertrauen auf die österliche Botschaft, denn wir haben das Wort der Zeuginnen und Zeugen. In unseren Herzen kann so die innere Gewissheit wachsen, dass das Dunkel und der Tod nicht das Ende ist, sondern neues Licht und Leben von Gott auf uns zukommt. Diese Gewissheit kann wachsen, wenn wir uns auf diesen Glauben einlassen und achtsam werden dafür, dass wir neue und wunderbare Anfänge schon in diesem Leben erfahren dürfen, Zeiten, in denen wir behütet und geführt werden, wiederaufgerichtet und zu neuem Leben erweckt. Im Licht von Ostern muss kein Mensch ohne Hoffnung leben, nicht hier in diesem Leben und auch dann nicht, wenn unser leben zuende geht. Das ist eine ermutigende und eine tröstliche Botschaft. In diesem Vertrauen dürfen wir uns immer wieder neu üben - mit Gottes Hilfe. Amen.
Christus ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden! Mit diesem Osterruf haben wir den Gottesdienst begonnen und die Geschichte von Regine Schindler hat uns davon erzählt. Die Ostergeschichte, die gute Nachricht von der Auferstehung Jesu Christi ist das Zentrum unseres Glaubens.
Aber geht es uns modernen Menschen nicht oft wie der biblischen Gestalt des Thomas? Von ihm erzählt das 20. Kap. des Joh: V. 24-29
Es lohnt sich, diese Geschichte ganz genau zu lesen. Thomas ist der exemplarische Skeptiker und Zweifler. Er sucht den eindeutigen Beweis für Jesu Auferstehung. Das Zeugnis seiner Gefährten reicht ihm nicht. Ja, nicht einmal, wenn er den Auferstandenen selbst sehen würde, wäre er überzeugt. Er will seine Hand in seine Wundmale legen, um ganz sicher zu sein. Und genau das bietet ihm der Auferstandene an. Verschafft Thomas sich nun den eindeutigen Beweis. Viele Darstellungen in der Kunstgeschichte scheinen davon überzeugt. Aber wenn wir genau lesen oder hinhören, dann heisst es da nur, das Thomas sagt: „Mein Herr und mein Gott!“ Und auch die Reaktion Jesu redet nur vom Sehen, nicht vom Berühren. Warum ist dieser Unterschied so wichtig? Weil er uns daran erinnert, dass wir der Auferstehungsbotschaft nur glauben können und die Suche nach eindeutigen, überzeugenden Beweisen an dieser Botschaft des Glaubens vorbeizielt.
Die Geschichte des Thomas führt uns haarscharf an die Grenze dessen, was der Glaube an die Auferstehung bedeutet. Er ist nicht ein blosses Führwahrhalten von etwas, das eigentlich widervernünftig ist, sondern das Vertrauen auf eine Wirklichkeit, die höher ist als alle Vernunft. Deshalb geht auch der innerchristliche Streit darum, ob man nun als Christ eine leibliche Auferstehung Jesu Christi für wahr halten muss oder nicht, letztlich am Kern dieser Botschaft vorbei. Ohne Zeichen, ohne Auferstehungserfahrungen hätten die Jüngerinnen und Jünger Jesu nicht glauben können, das Jesus wahrhaftig auferstanden ist. Sie haben Erfahrungen gemacht, die sie mit der inneren Gewissheit erfüllte, dass Jesus lebt. Aber sie haben keine eindeutigen Beweise erhalten. Und sie können und wollen uns auch nicht erklären wie und in welcher Gestalt Jesus auferstanden ist. Die Erfahrungen und Zeichen haben den Glauben in ihnen geweckt. An diesem Glauben haben sie festgehalten und ihn weitergetragen.
Jesus sagt zu Thomas: „Selig, die nicht mehr sehen und glauben!“ Das ist die Situation der Leserinnen und Leser des Joh - und es ist auch unsere Situation. Auch wenn wir nicht die Erfahrungen der Jünger machen, auch wenn wir nicht mehr sehen, so dürfen wir doch vertrauen auf die österliche Botschaft, denn wir haben das Wort der Zeuginnen und Zeugen. In unseren Herzen kann so die innere Gewissheit wachsen, dass das Dunkel und der Tod nicht das Ende ist, sondern neues Licht und Leben von Gott auf uns zukommt. Diese Gewissheit kann wachsen, wenn wir uns auf diesen Glauben einlassen und achtsam werden dafür, dass wir neue und wunderbare Anfänge schon in diesem Leben erfahren dürfen, Zeiten, in denen wir behütet und geführt werden, wiederaufgerichtet und zu neuem Leben erweckt. Im Licht von Ostern muss kein Mensch ohne Hoffnung leben, nicht hier in diesem Leben und auch dann nicht, wenn unser leben zuende geht. Das ist eine ermutigende und eine tröstliche Botschaft. In diesem Vertrauen dürfen wir uns immer wieder neu üben - mit Gottes Hilfe. Amen.
Predigt zur Passionsgeschichte nach Lukas am Karfreitag, 6. April 2012
Liebe Gemeinde,
früher galt der Karfreitag als der wichtigste protestantische Feiertag. Das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, war an diesem Tag wie erstorben. Kein lauter Ton war zu hören. Das Leben stand gewissermassen still. Auch der Gottesdienst gehörte für viele selbstverständlich dazu. Auch heute noch ist der Karfreitag ruhiger als andere Tage. Sportveranstaltungen und viele andere Wochenendaktivitäten ruhen. Aber immer mehr wird gefragt, ob solche Schutzbestimmungen für den Karfreitag noch Sinn machen, wo doch so vielen gar nicht mehr richtig bewusst ist, was der Karfreitag eigentlich bedeutet
Es geht mir nicht darum, über den allgemeinen Kulturverfall oder den Schwund christlichen Bewusstseins zu jammern. Die traditionelle Passionsfrömmigkeit macht ja auch vielen, die mit Ernst Christen sein wollen, durchaus Mühe. „Was du, Herr, hast erduldet, ist alles meine Last. Ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast.“ Wohl manch einer von uns – und ich schliesse mich ausdrücklich ein – hat Mühe, solche Aussagen heute noch wirklich zu verstehen. Für viele Menschen sind sie einfach sinnlos geworden.
Worauf es mir ankommt ist, dass die Passionsvergessenheit eine Verdrängung und einen Verlust zum Ausdruck bringt. Wir verdrängen Leid und Dunkel, Schuld und Versagen und wir verlieren das Gespür dafür, dass in dem Drama des Karfreitags etwas geschieht, das uns zugute kommt und uns hilft menschlicher zu leben, das Dunkel anzunehmen, weil Jesus es geteilt hat, Schuld und Versagen zu ertragen, weil er sie uns abgenommen hat.
Wenn wir ganz einfach die Passionsgeschichte lesen oder hören und sie meditieren, dann begegnen wir Menschen, die an ihre Grenzen stossen, die versagen, die mitschuldig werden aus Schwäche oder aus Kalkül. Wir begegnen aber auch Menschen, die schlicht menschlich handeln und das Nahe liegende tun. Auf diese Menschen möchte ich heute den Blick richten und mich an ihre Seite stellen. Mag sein, dass wir in manchen von ihnen uns wieder finden können. Was mich an der biblischen Passionsgeschichte des Lukas berührt, das ist ihre Nüchternheit. Da wird nichts beschönigt. Und zugleich ihre Barmherzigkeit, die Botschaft der Vergebung, die über allem steht.
Am Anfang steht ein Verrat. Über die Motive des Judas erfahren wir wenig. Im Lukasevangelium heisst es, der Satan sei in ihn gefahren. Historiker vermuten aufgrund seines Namens, er sei Anhänger einer gewaltsamen Widerstandsbewegung gegen die römische Herrschaft gewesen und von Jesu Gewaltfreiheit und Duldsamkeit enttäuscht.
Als Jesus im Angesicht seines Todes im Garten Gethsemane betet, übermannt seine Jünger der Schlaf. Der Schlaf, die bleierne Müdigkeit – sie ist Ausdruck dafür, dass die Jünger dem, was da geschieht, nicht gewachsen sind. Es ist einfach zu viel. Sie wissen nur zu gut, dass sie jetzt gebraucht würden. Aber sie sind wie gelähmt. Ich denke, dass wir durchaus in unserem eigenen Leben ähnlich Erfahrungen machen. Wichtig ist für mich, dass Jesus die Jünger aufrüttelt, aber dass er sie nicht verdammt. Seine Worte sind eher liebevoll und voller Mitgefühl.
In Petrus begegnen uns menschliche Angst und Feigheit. Dreimal verleugnet er, dass er einer der Gefährten Jesu ist. Er ist in dieser Geschichte alles andere als ein Fels. Er hat schlicht und einfach Angst. Er will sich nicht exponieren, möglichst unsichtbar bleiben. Auch in solcher Angst und Feigheit können wir vielleicht ein Stück von uns selber erkennen. Nicht nur da, wo es darum ginge, uns zu unserem Glauben zu bekennen, das auch. Aber auch da, wo es darum ginge, ein klares Wort zu sagen, ein eindeutiges Ja oder Nein, z.B. wenn Menschen verspottet, ausgegrenzt, als schwarze Schafe abgestempelt werden. Oder da, wo es darauf ankäme, den Leuten nicht nach dem Mund zu reden oder auch für jemanden in die Bresche zu springen und ihn in Schutz zu nehmen. Als der Hahn kräht, verdrängt oder rechtfertigt Petrus sein Versagen nicht, sondern er weint.
Pilatus ist das Bild eines Mächtigen, der es allen recht machen will und vor allem seine eigene Position nicht gefährden will. Er opfert einen Unschuldigen. Schnell bemerkt er die Stimmung, kalkuliert die Wirkung eines Freispruchs, wenn man sich beim Kaiser beschweren würde und überlässt Jesus seinem Schicksal. Es ist leicht, auf Pilatus zu zeigen, dieses Musterbeispiel eines Politikers ohne Rückgrat. Aber vielleicht ist es gut, wenn wir uns einen Moment an seine Seite zu stellen. Wer jemals in einer Entscheidungsposition war, der weiss, wie gross die Versuchung ist, die Stimmung auszuloten und mit dem Wind zu segeln und wie schwer es ist, Rückgrat zu zeigen und ein klares Wort zu sagen, für die eignen Überzeugungen einzustehen, erst recht, wenn man keine klaren Überzeugungen hat.
Oder denken sie an die aufgeheizte Volksmenge, die brüllt: „Kreuzige ihn!“. Diese Szene gehört für mich zu den beklemmendsten der Passionsgeschichte. Weil sie in den Kampagnen in Politik und Medien allgegenwärtig ist und weil die Bereitschaft so vieler, mitzubrüllen, zu verurteilen und zu verdammen, immer wieder erschreckend ist.
Erschreckend auch das Verhalten der Soldaten, die den Gefangenen misshandeln und verspotten. Noch dann, als er schon am Kreuz hängt, verspotten sie ihn und die Leute schauen zu. Auch dafür finden sich unschwer Beispiele aus unserer Zeit.
Und dann sind da am Kreuz die beiden Mitverurteilten. Der eine der beiden flüchtet sich in Zynismus und Spott. Der andere aber sucht seine Zuflucht bei Jesus. Er nimmt sein Schicksal an und setzt seine Hoffnung auf Gott.
Am Ende ist da noch der römische Hauptmann, der nicht einfach seinen Job tut, sondern sich berühren und bewegen lässt von dem, was er erfährt. Ganz schlicht stellt er fest: Dieser ist ein frommer Mensch gewesen.
Wenn wir die Passionsgeschichte meditieren, dann begegnen wir auf Schritt und Tritt Menschen, die angesichts des Leidens Jesu schwach sind, die an ihre Grenzen kommen und versagen. Und erst wenn wir uns einen Moment solidarisch an ihre Seite stellen, erkennen wir, dass wir Menschen so eben auch sind – nicht nur hilfreich, edel und gut, sondern mit Grenzen, Schuld und Versagen. Und die Passionsgeschichte kann uns helfen, diese Seiten an uns selber wahrzunehmen und sie anzunehmen, damit wir sie nicht nur auf die anderen projizieren und bei uns selber verdrängen müssen. Und vor allem kann sie uns dazu helfen, weil sie eben diese menschlichen Seiten weder beschönigt noch verdammt und weil sie sie in das Licht göttlicher Gnade und Barmherzigkeit stellt. „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“ bittet Jesus für seine Peiniger. Und Petrus, der ihn verleugnet hat, wird später seine Botschaft weitertragen und mit ihm die anderen Jünger, die bei der Passion die Flucht ergriffen haben.
Jesus verurteilt nicht. er kann uns auch als schwache und versagende Menschen brauchen. Er tritt für uns ein. Wie gut, das zu wissen. In diesem Vertrauen können wir täglich den aufrechten Gang üben und wenn wir hinfallen, dürfen wir uns wieder aufrichten lassen. Wir müssen keine Helden sein, sondern Menschen, die mit Gottes Hilfe ganz alltäglich ihren Weg gehen und sich gerade darin immer wieder Gottes Gnade und Barmherzigkeit gefallen lassen und erfahren dürfen, dass Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist. In dieser Kraft dürfen wir Menschen sein, die füreinander eintreten, so wie Christus für uns alle eingetreten ist.
Amen.
früher galt der Karfreitag als der wichtigste protestantische Feiertag. Das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, war an diesem Tag wie erstorben. Kein lauter Ton war zu hören. Das Leben stand gewissermassen still. Auch der Gottesdienst gehörte für viele selbstverständlich dazu. Auch heute noch ist der Karfreitag ruhiger als andere Tage. Sportveranstaltungen und viele andere Wochenendaktivitäten ruhen. Aber immer mehr wird gefragt, ob solche Schutzbestimmungen für den Karfreitag noch Sinn machen, wo doch so vielen gar nicht mehr richtig bewusst ist, was der Karfreitag eigentlich bedeutet
Es geht mir nicht darum, über den allgemeinen Kulturverfall oder den Schwund christlichen Bewusstseins zu jammern. Die traditionelle Passionsfrömmigkeit macht ja auch vielen, die mit Ernst Christen sein wollen, durchaus Mühe. „Was du, Herr, hast erduldet, ist alles meine Last. Ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast.“ Wohl manch einer von uns – und ich schliesse mich ausdrücklich ein – hat Mühe, solche Aussagen heute noch wirklich zu verstehen. Für viele Menschen sind sie einfach sinnlos geworden.
Worauf es mir ankommt ist, dass die Passionsvergessenheit eine Verdrängung und einen Verlust zum Ausdruck bringt. Wir verdrängen Leid und Dunkel, Schuld und Versagen und wir verlieren das Gespür dafür, dass in dem Drama des Karfreitags etwas geschieht, das uns zugute kommt und uns hilft menschlicher zu leben, das Dunkel anzunehmen, weil Jesus es geteilt hat, Schuld und Versagen zu ertragen, weil er sie uns abgenommen hat.
Wenn wir ganz einfach die Passionsgeschichte lesen oder hören und sie meditieren, dann begegnen wir Menschen, die an ihre Grenzen stossen, die versagen, die mitschuldig werden aus Schwäche oder aus Kalkül. Wir begegnen aber auch Menschen, die schlicht menschlich handeln und das Nahe liegende tun. Auf diese Menschen möchte ich heute den Blick richten und mich an ihre Seite stellen. Mag sein, dass wir in manchen von ihnen uns wieder finden können. Was mich an der biblischen Passionsgeschichte des Lukas berührt, das ist ihre Nüchternheit. Da wird nichts beschönigt. Und zugleich ihre Barmherzigkeit, die Botschaft der Vergebung, die über allem steht.
Am Anfang steht ein Verrat. Über die Motive des Judas erfahren wir wenig. Im Lukasevangelium heisst es, der Satan sei in ihn gefahren. Historiker vermuten aufgrund seines Namens, er sei Anhänger einer gewaltsamen Widerstandsbewegung gegen die römische Herrschaft gewesen und von Jesu Gewaltfreiheit und Duldsamkeit enttäuscht.
Als Jesus im Angesicht seines Todes im Garten Gethsemane betet, übermannt seine Jünger der Schlaf. Der Schlaf, die bleierne Müdigkeit – sie ist Ausdruck dafür, dass die Jünger dem, was da geschieht, nicht gewachsen sind. Es ist einfach zu viel. Sie wissen nur zu gut, dass sie jetzt gebraucht würden. Aber sie sind wie gelähmt. Ich denke, dass wir durchaus in unserem eigenen Leben ähnlich Erfahrungen machen. Wichtig ist für mich, dass Jesus die Jünger aufrüttelt, aber dass er sie nicht verdammt. Seine Worte sind eher liebevoll und voller Mitgefühl.
In Petrus begegnen uns menschliche Angst und Feigheit. Dreimal verleugnet er, dass er einer der Gefährten Jesu ist. Er ist in dieser Geschichte alles andere als ein Fels. Er hat schlicht und einfach Angst. Er will sich nicht exponieren, möglichst unsichtbar bleiben. Auch in solcher Angst und Feigheit können wir vielleicht ein Stück von uns selber erkennen. Nicht nur da, wo es darum ginge, uns zu unserem Glauben zu bekennen, das auch. Aber auch da, wo es darum ginge, ein klares Wort zu sagen, ein eindeutiges Ja oder Nein, z.B. wenn Menschen verspottet, ausgegrenzt, als schwarze Schafe abgestempelt werden. Oder da, wo es darauf ankäme, den Leuten nicht nach dem Mund zu reden oder auch für jemanden in die Bresche zu springen und ihn in Schutz zu nehmen. Als der Hahn kräht, verdrängt oder rechtfertigt Petrus sein Versagen nicht, sondern er weint.
Pilatus ist das Bild eines Mächtigen, der es allen recht machen will und vor allem seine eigene Position nicht gefährden will. Er opfert einen Unschuldigen. Schnell bemerkt er die Stimmung, kalkuliert die Wirkung eines Freispruchs, wenn man sich beim Kaiser beschweren würde und überlässt Jesus seinem Schicksal. Es ist leicht, auf Pilatus zu zeigen, dieses Musterbeispiel eines Politikers ohne Rückgrat. Aber vielleicht ist es gut, wenn wir uns einen Moment an seine Seite zu stellen. Wer jemals in einer Entscheidungsposition war, der weiss, wie gross die Versuchung ist, die Stimmung auszuloten und mit dem Wind zu segeln und wie schwer es ist, Rückgrat zu zeigen und ein klares Wort zu sagen, für die eignen Überzeugungen einzustehen, erst recht, wenn man keine klaren Überzeugungen hat.
Oder denken sie an die aufgeheizte Volksmenge, die brüllt: „Kreuzige ihn!“. Diese Szene gehört für mich zu den beklemmendsten der Passionsgeschichte. Weil sie in den Kampagnen in Politik und Medien allgegenwärtig ist und weil die Bereitschaft so vieler, mitzubrüllen, zu verurteilen und zu verdammen, immer wieder erschreckend ist.
Erschreckend auch das Verhalten der Soldaten, die den Gefangenen misshandeln und verspotten. Noch dann, als er schon am Kreuz hängt, verspotten sie ihn und die Leute schauen zu. Auch dafür finden sich unschwer Beispiele aus unserer Zeit.
Und dann sind da am Kreuz die beiden Mitverurteilten. Der eine der beiden flüchtet sich in Zynismus und Spott. Der andere aber sucht seine Zuflucht bei Jesus. Er nimmt sein Schicksal an und setzt seine Hoffnung auf Gott.
Am Ende ist da noch der römische Hauptmann, der nicht einfach seinen Job tut, sondern sich berühren und bewegen lässt von dem, was er erfährt. Ganz schlicht stellt er fest: Dieser ist ein frommer Mensch gewesen.
Wenn wir die Passionsgeschichte meditieren, dann begegnen wir auf Schritt und Tritt Menschen, die angesichts des Leidens Jesu schwach sind, die an ihre Grenzen kommen und versagen. Und erst wenn wir uns einen Moment solidarisch an ihre Seite stellen, erkennen wir, dass wir Menschen so eben auch sind – nicht nur hilfreich, edel und gut, sondern mit Grenzen, Schuld und Versagen. Und die Passionsgeschichte kann uns helfen, diese Seiten an uns selber wahrzunehmen und sie anzunehmen, damit wir sie nicht nur auf die anderen projizieren und bei uns selber verdrängen müssen. Und vor allem kann sie uns dazu helfen, weil sie eben diese menschlichen Seiten weder beschönigt noch verdammt und weil sie sie in das Licht göttlicher Gnade und Barmherzigkeit stellt. „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“ bittet Jesus für seine Peiniger. Und Petrus, der ihn verleugnet hat, wird später seine Botschaft weitertragen und mit ihm die anderen Jünger, die bei der Passion die Flucht ergriffen haben.
Jesus verurteilt nicht. er kann uns auch als schwache und versagende Menschen brauchen. Er tritt für uns ein. Wie gut, das zu wissen. In diesem Vertrauen können wir täglich den aufrechten Gang üben und wenn wir hinfallen, dürfen wir uns wieder aufrichten lassen. Wir müssen keine Helden sein, sondern Menschen, die mit Gottes Hilfe ganz alltäglich ihren Weg gehen und sich gerade darin immer wieder Gottes Gnade und Barmherzigkeit gefallen lassen und erfahren dürfen, dass Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist. In dieser Kraft dürfen wir Menschen sein, die füreinander eintreten, so wie Christus für uns alle eingetreten ist.
Amen.
Samstag, 25. Februar 2012
Predigt über Jesaja 5,1-7 vom 26. Februar 2012
Liebe Gemeinde,
dürfen wir uns Gott als einen enttäuschten und verletzten Liebhaber vorstellen? Unser Predigttext aus dem Buch des Propheten Jesaja ist ein Liebeslied, ein Lied, das von einer enttäuschten und verletzten Liebe singt. Es ist ein ungewohntes Gefäss, in das der Prophet seine Botschaft kleidet. Hätte er nicht einfach dem Volk die Leviten lesen können, den Menschen ihr Unrecht vorhalten? Ist Gott nicht der Herrscher und Richter, der sein Volk, seine Menschen souverän zur Rechenschaft ziehen könnte? Dass der Prophet seine Botschaft in die Gestalt eines Gleichnisses, eines Liebesliedes kleidet, ist nicht einfach eine originelle Verkleidung. Es ist die Botschaft selbst. Gott ist und bleibt der Liebende. So dramatisch am Ende unseres Predigttextes der verwüstete und preisgegebene Weinberg vor unseren Augen steht und der Vorwurf von Rechtsbruch und Schlechtigkeit im Raum – die Geschichte ist offen. Weil Gott der Liebende bleibt, weil er als Liebender und eben nicht als blinde Justitia auftritt, bleibt noch die Wut des enttäuschten Liebhabers ein Werben um seine Liebe, ein Werben Gottes um sein Volk und seine Menschen.
Eindrücklich singt uns der Prophet von seinem Freund, dem Weinbergbesitzer. Viel Zeit und Mühe hat er für seinen Weinberg aufgewendet. Wir sehen ihn richtig vor uns, wie er mit dem Werkzeug in der Hand seien Weinberg umgräbt, die Steine hinausschafft, edle Reben darin pflanzt, einen Turm baut und eine Kelter gräbt. Schweiss und Mühe gehört dazu. Und wir dürfen uns den Weinbergbesitzer vorstellen, wie er nach all der Arbeit erschöpft dasitzt und stolz und glücklich seinen Weinberg betrachtet. Nun wird er seine Früchte bringen. Er hegt und pflegt seinen Weinberg. Was hätte man noch tun können, das ich nicht getan habe? Aber der Weinberg bringt nichts als schlechte Trauben. Wie gross ist die Enttäuschung - und die Enttäuschung verwandelt sich in Wut.
Enttäuschte Liebe, vergebliche Liebesmüh. Vielleicht könnten manche von uns auch solche Geschichten erzählen, solche Lieder singen. Menschen, die sich um einen anderen Menschen bemüht haben, die überzeugt sind, ihr Bestes getan zu haben, die viel in ihre Liebe investiert haben und enttäuscht worden sind. Eltern, die ihren Kindern viel gegeben haben an Liebe und Zuwendung, an persönlichen Opfern und die sich plötzlich fragen: Wozu das alles? Was bekomme ich denn zurück. Oder auch Menschen, die sich einer Sache, einer Aufgabe verschrieben haben und ihre Zeit und ihre Kraft, ja, ihre ganze Liebe darin investiert haben und eines Tages sich fragen: Wo bleibt der Dank? Was bekomme ich zurück? Enttäuschte Liebe, verletzte Gefühle, der Eindruck: es war alles umsonst, vergebene Liebesmüh – vielleicht können wir das nachvollziehen. Menschen, die viel gegeben, die viel investiert haben und deren Liebe gross ist, die sind besonders verletzlich und sie können an den Punkt kommen, wo sie den Bettel hinschmeissen möchten, wo die Liebe die Gestalt der Wut und der Aggression annimmt. Ich habe das bewusst so formuliert. Jemand hat einmal gesagt: Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit. Das ist eine sehr weise Einsicht, denn wo Gleichgültigkeit herrscht, da hat die Liebe keinen Platz mehr. Die Wut und Aggression des Weinbergbesitzers, der seinen Weinberg der Verwüstung preisgeben will, sie ist und bleibt eine Gestalt seiner Liebe. Würde er es wirklich tun – er würde gewiss dasitzen und wie ein Schlosshund heulen. Es würde ihm das Herz brechen und wer weiss, ob er es nicht im selben Moment bereuen würde. Der aber, der gleichgültig geworden ist, der würde kalt lächelnd weitergehen – im Gefühl, dass es dem Weinberg ja nur recht geschieht. Ich glaube, wir können uns diesen entscheidenden Unterschied nicht genug bewusst machen. Wenn wir enttäuscht werden oder auch, wenn uns Wut und Enttäuschung entgegenschlägt, kann es ganz wichtig sein, wenn wir nicht vergessen, dass sie so etwas wie die Kehrseite der Liebe sind und nicht das Ende. Erst wo die Gleichgültigkeit Einzug hält ist die Liebe meist wirklich zu Ende.
Wie aber soll ein Mensch reagieren, dem so viel Wut und Enttäuschung vor die Füsse geworfen wird? Eine mögliche Reaktion – und vielleicht nicht die seltenste – ist es, resigniert aufzugeben. Das war’s dann wohl, es hat keinen Sinn mehr. Diese Reaktion sieht nur noch die Enttäuschung und Wut und nimmt sie nicht mehr als Gestalt der Liebe wahr. Dann bleibt nur noch das Zerstörerische und Hoffnungslose übrig. Auch im Glauben gibt es dieses Muster: Menschen, die Gott nur als den allmächtigen Richter sehen können, dessen wachsames Auge noch alles kontrolliert und dessen erhobener Zeigefinger allgegenwärtig ist. Und irgendwann bleibt ihnen nur noch die Befreiung, der Abschied von diesem Gott und sie merken gar nicht, dass es nur ein falsches Gottesbild ist, von dem sie Abschied nehmen.
Eine andere Reaktion ist es, die Gegenrechnung aufzumachen. Dieses Muster kommt in unseren Beziehungen oft vor. Und wie oft hast du mich enttäuscht, welche Fehler hast du gemacht? Wer ist Schuld? Und wer trägt mehr Schuld? Ich brauche nicht lange zu erklären, wie zerstörerisch dieses Muster ist, zumal ja in der Regel die objektiven Massstäbe fehlen, um Schuld zu beurteilen. So häufig diese Reaktion unter uns ist, so sehr fällt mir doch auf, dass sie im Glauben, in unserem Verhältnis zu Gott eigentlich unmöglich ist. Wer sich von Gott zur Rechenschaft gezogen weiss, spürt wohl intuitiv, dass er hier keine Gegenrechnung aufmachen kann und da wo Menschen Gott zur Rechenschaft ziehen, klagen und ihn anklagen, da kommen sie zu ihm mit ihren Zweifeln und Fragen angesichts von Not und Elend in der Welt, von Ungerechtigkeit und Leid oder weil sie in ihrem persönlichen Schicksal nichts mehr spüren von der Gegenwart eines liebenden Gottes. Das aber ist etwas ganz anderes als das Aufrechnen von Schuld.
Eine dritte Möglichkeit ist die demütige Unterwerfung. Auch dieses Muster gibt es in unseren Beziehungen. Und ich denke, dass es ebenfalls ein ungesundes Muster ist, weil es nicht partnerschaftlich, sondern herrschaftlich ist. Wer sich immer unterwirft, verliert die Selbstachtung und die Achtung des Anderen. Oder könnten Sie jemand auf Dauer lieben, der sich niemals wehrt und immer nur versucht, es ihnen in allem recht zu machen? Aber vielleicht fragen sie sich, ob nicht in unserem Verhältnis zu Gott solch demütige Unterwerfung angemessen ist. Ist er nicht der allmächtige Herrscher, der gar nicht im Unrecht sein kann? Schon Paulus hat es ja festgehalten und die Reformatoren haben es unterstrichen: Wir sind allzumal Sünder und bedürfen der Vergebung unseres Gottes. Und trotzdem behaupte ich: Gott will nicht demütige Unterwerfung, sondern Menschen, die ihm aufrecht gegenüber treten, Menschen, die sich zur Verantwortung ziehen lassen. Die paulinische und reformatorische Einsicht ist nicht dazu da, dass wir stets gebeugten Hauptes und schuldbewusst herumlaufen. Gott will gerade und aufrechte Menschen. Im Lied vom Weinbergbesitzer appelliert der Prophet ja an die Einsicht der Menschen. Rechtsbruch und Schlechtigkeit sind ja offensichtlich. Und er hofft darauf, dass die Menschen zu freier Einsicht kommen und umkehren zu Recht und Gerechtigkeit.
So bleibt also die vierte Möglichkeit. Konfrontiert mit der Wut und Aggression enttäuschter Liebe können wir das Werben um unsere Liebe erkennen, das darin steckt. Konfrontiert mit Vorwürfen können wir Verantwortung übernehmen für das, was wir aus freier Einsicht annehmen können, wofür wir uns auch wirklich verantwortlich fühlen. Wir können um Vergebung bitten und wir können verzeihen. Und wir können versuchen, auch das Unlösbare zu akzeptieren, all das was wir verschieden sehen. Und ich glaube, dass es auch im Verhältnis zu Gott, im Glauben, um genau diese freie und aufrechte Verantwortlichkeit, dieses Gegenüber geht. Rechtsspruch und Gerechtigkeit sind Gottes Massstäbe für unser Handeln. Werden wir ihnen gerecht oder wo scheitern wir an ihnen? Wofür wollen wir Gott um Vergebung bitten? Vor allem aber: Erkennen wir, wie sehr Gott um uns wirbt und uns auch in der Konfrontation mit unserem Versagen, unserer Schuld, seine Liebe zeigt?
Denn das ist ganz entscheidend an diesem Text: Gott ist nicht der Richter, sondern bleibt auch angesichts der ins Auge gefassten Preisgabe des Weinbergs der Liebende, der um seine Menschen wirbt. Trotzdem ist ja nicht wegzudiskutieren, dass der Weinberg am Ende verwüstet daliegen könnte. Die Vorstellung, Gott könnte aus enttäuschter Liebe sein Volk, er könnte uns Menschen aufgeben, sie macht mir Mühe. Und erzählt die Bibel nicht immer wieder davon, wie Gott einen neuen Anfang mit seinen Menschen, mit uns macht? Ist nicht das ganze Neue Testament in immer neuen Anläufen die Verkündigung frohen Botschaft, dass Gott Frieden mit uns gemacht, sich selbst mit uns versöhnt hat? Aber umgekehrt: Ist Liebe, die völlig einseitig von Gott ausginge und von uns ganz unabhängig wäre, überhaupt noch Liebe. Ist Liebe, deren Ende nicht mehr gedacht werden darf, noch Liebe oder einfach ein unentrinnbares Schicksal?
Wichtig ist mir bei all diesen Fragen dreierlei: Erstens: Das Lied des Propheten vom Weinberg seines Freundes hat ein offenes Ende. Es ist nicht der Beschluss, den Weinberg der Verwüstung preiszugeben, sondern fasst diese äusserste Möglichkeit ins Auge – aus Liebe und um damit um Liebe und Umkehr zu werben. Die Botschaft lautet: Gott liebt euch und es ist ihm nicht egal, was ihr tut. Erst wo die Trennung denkbar wird ist die Liebe nicht ein unentrinnbares, aber letztlich gleichgültiges Schicksal, sondern eine lebendige Beziehung, die wachsen kann. Das zweite: Das Lied hat zwar ein offenes Ende. Im Horizont der Botschaft von Jesus stehen aber drohende Verwüstung und erhoffter Neuanfang nicht gleichgewichtig nebeneinander: Gott hat uns in Jesus Christus mit sich versöhnt. Der Zugang zu ihm ist offen. Seine Liebe bleibt. Für jeden. Immer. Und das dritte: Das Ende des Liedes ist offen, weil es nicht über uns redet, nicht das Urteil über uns spricht, sondern uns anredet und um uns wirbt. Am Ende des Liedes ist der Ball bei uns. Wir sind gefragt. Wir sind gefragt, wie wir es halten mit Recht und Gerechtigkeit, mit Rechtsbruch und Schlechtigkeit. Wir sind gefragt – als die Geliebten – was wir für diese Liebe tun wollen im Alltag unseres Lebens. Gott gibt uns die Freiheit, auf seine Liebe zu antworten. Amen.
dürfen wir uns Gott als einen enttäuschten und verletzten Liebhaber vorstellen? Unser Predigttext aus dem Buch des Propheten Jesaja ist ein Liebeslied, ein Lied, das von einer enttäuschten und verletzten Liebe singt. Es ist ein ungewohntes Gefäss, in das der Prophet seine Botschaft kleidet. Hätte er nicht einfach dem Volk die Leviten lesen können, den Menschen ihr Unrecht vorhalten? Ist Gott nicht der Herrscher und Richter, der sein Volk, seine Menschen souverän zur Rechenschaft ziehen könnte? Dass der Prophet seine Botschaft in die Gestalt eines Gleichnisses, eines Liebesliedes kleidet, ist nicht einfach eine originelle Verkleidung. Es ist die Botschaft selbst. Gott ist und bleibt der Liebende. So dramatisch am Ende unseres Predigttextes der verwüstete und preisgegebene Weinberg vor unseren Augen steht und der Vorwurf von Rechtsbruch und Schlechtigkeit im Raum – die Geschichte ist offen. Weil Gott der Liebende bleibt, weil er als Liebender und eben nicht als blinde Justitia auftritt, bleibt noch die Wut des enttäuschten Liebhabers ein Werben um seine Liebe, ein Werben Gottes um sein Volk und seine Menschen.
Eindrücklich singt uns der Prophet von seinem Freund, dem Weinbergbesitzer. Viel Zeit und Mühe hat er für seinen Weinberg aufgewendet. Wir sehen ihn richtig vor uns, wie er mit dem Werkzeug in der Hand seien Weinberg umgräbt, die Steine hinausschafft, edle Reben darin pflanzt, einen Turm baut und eine Kelter gräbt. Schweiss und Mühe gehört dazu. Und wir dürfen uns den Weinbergbesitzer vorstellen, wie er nach all der Arbeit erschöpft dasitzt und stolz und glücklich seinen Weinberg betrachtet. Nun wird er seine Früchte bringen. Er hegt und pflegt seinen Weinberg. Was hätte man noch tun können, das ich nicht getan habe? Aber der Weinberg bringt nichts als schlechte Trauben. Wie gross ist die Enttäuschung - und die Enttäuschung verwandelt sich in Wut.
Enttäuschte Liebe, vergebliche Liebesmüh. Vielleicht könnten manche von uns auch solche Geschichten erzählen, solche Lieder singen. Menschen, die sich um einen anderen Menschen bemüht haben, die überzeugt sind, ihr Bestes getan zu haben, die viel in ihre Liebe investiert haben und enttäuscht worden sind. Eltern, die ihren Kindern viel gegeben haben an Liebe und Zuwendung, an persönlichen Opfern und die sich plötzlich fragen: Wozu das alles? Was bekomme ich denn zurück. Oder auch Menschen, die sich einer Sache, einer Aufgabe verschrieben haben und ihre Zeit und ihre Kraft, ja, ihre ganze Liebe darin investiert haben und eines Tages sich fragen: Wo bleibt der Dank? Was bekomme ich zurück? Enttäuschte Liebe, verletzte Gefühle, der Eindruck: es war alles umsonst, vergebene Liebesmüh – vielleicht können wir das nachvollziehen. Menschen, die viel gegeben, die viel investiert haben und deren Liebe gross ist, die sind besonders verletzlich und sie können an den Punkt kommen, wo sie den Bettel hinschmeissen möchten, wo die Liebe die Gestalt der Wut und der Aggression annimmt. Ich habe das bewusst so formuliert. Jemand hat einmal gesagt: Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit. Das ist eine sehr weise Einsicht, denn wo Gleichgültigkeit herrscht, da hat die Liebe keinen Platz mehr. Die Wut und Aggression des Weinbergbesitzers, der seinen Weinberg der Verwüstung preisgeben will, sie ist und bleibt eine Gestalt seiner Liebe. Würde er es wirklich tun – er würde gewiss dasitzen und wie ein Schlosshund heulen. Es würde ihm das Herz brechen und wer weiss, ob er es nicht im selben Moment bereuen würde. Der aber, der gleichgültig geworden ist, der würde kalt lächelnd weitergehen – im Gefühl, dass es dem Weinberg ja nur recht geschieht. Ich glaube, wir können uns diesen entscheidenden Unterschied nicht genug bewusst machen. Wenn wir enttäuscht werden oder auch, wenn uns Wut und Enttäuschung entgegenschlägt, kann es ganz wichtig sein, wenn wir nicht vergessen, dass sie so etwas wie die Kehrseite der Liebe sind und nicht das Ende. Erst wo die Gleichgültigkeit Einzug hält ist die Liebe meist wirklich zu Ende.
Wie aber soll ein Mensch reagieren, dem so viel Wut und Enttäuschung vor die Füsse geworfen wird? Eine mögliche Reaktion – und vielleicht nicht die seltenste – ist es, resigniert aufzugeben. Das war’s dann wohl, es hat keinen Sinn mehr. Diese Reaktion sieht nur noch die Enttäuschung und Wut und nimmt sie nicht mehr als Gestalt der Liebe wahr. Dann bleibt nur noch das Zerstörerische und Hoffnungslose übrig. Auch im Glauben gibt es dieses Muster: Menschen, die Gott nur als den allmächtigen Richter sehen können, dessen wachsames Auge noch alles kontrolliert und dessen erhobener Zeigefinger allgegenwärtig ist. Und irgendwann bleibt ihnen nur noch die Befreiung, der Abschied von diesem Gott und sie merken gar nicht, dass es nur ein falsches Gottesbild ist, von dem sie Abschied nehmen.
Eine andere Reaktion ist es, die Gegenrechnung aufzumachen. Dieses Muster kommt in unseren Beziehungen oft vor. Und wie oft hast du mich enttäuscht, welche Fehler hast du gemacht? Wer ist Schuld? Und wer trägt mehr Schuld? Ich brauche nicht lange zu erklären, wie zerstörerisch dieses Muster ist, zumal ja in der Regel die objektiven Massstäbe fehlen, um Schuld zu beurteilen. So häufig diese Reaktion unter uns ist, so sehr fällt mir doch auf, dass sie im Glauben, in unserem Verhältnis zu Gott eigentlich unmöglich ist. Wer sich von Gott zur Rechenschaft gezogen weiss, spürt wohl intuitiv, dass er hier keine Gegenrechnung aufmachen kann und da wo Menschen Gott zur Rechenschaft ziehen, klagen und ihn anklagen, da kommen sie zu ihm mit ihren Zweifeln und Fragen angesichts von Not und Elend in der Welt, von Ungerechtigkeit und Leid oder weil sie in ihrem persönlichen Schicksal nichts mehr spüren von der Gegenwart eines liebenden Gottes. Das aber ist etwas ganz anderes als das Aufrechnen von Schuld.
Eine dritte Möglichkeit ist die demütige Unterwerfung. Auch dieses Muster gibt es in unseren Beziehungen. Und ich denke, dass es ebenfalls ein ungesundes Muster ist, weil es nicht partnerschaftlich, sondern herrschaftlich ist. Wer sich immer unterwirft, verliert die Selbstachtung und die Achtung des Anderen. Oder könnten Sie jemand auf Dauer lieben, der sich niemals wehrt und immer nur versucht, es ihnen in allem recht zu machen? Aber vielleicht fragen sie sich, ob nicht in unserem Verhältnis zu Gott solch demütige Unterwerfung angemessen ist. Ist er nicht der allmächtige Herrscher, der gar nicht im Unrecht sein kann? Schon Paulus hat es ja festgehalten und die Reformatoren haben es unterstrichen: Wir sind allzumal Sünder und bedürfen der Vergebung unseres Gottes. Und trotzdem behaupte ich: Gott will nicht demütige Unterwerfung, sondern Menschen, die ihm aufrecht gegenüber treten, Menschen, die sich zur Verantwortung ziehen lassen. Die paulinische und reformatorische Einsicht ist nicht dazu da, dass wir stets gebeugten Hauptes und schuldbewusst herumlaufen. Gott will gerade und aufrechte Menschen. Im Lied vom Weinbergbesitzer appelliert der Prophet ja an die Einsicht der Menschen. Rechtsbruch und Schlechtigkeit sind ja offensichtlich. Und er hofft darauf, dass die Menschen zu freier Einsicht kommen und umkehren zu Recht und Gerechtigkeit.
So bleibt also die vierte Möglichkeit. Konfrontiert mit der Wut und Aggression enttäuschter Liebe können wir das Werben um unsere Liebe erkennen, das darin steckt. Konfrontiert mit Vorwürfen können wir Verantwortung übernehmen für das, was wir aus freier Einsicht annehmen können, wofür wir uns auch wirklich verantwortlich fühlen. Wir können um Vergebung bitten und wir können verzeihen. Und wir können versuchen, auch das Unlösbare zu akzeptieren, all das was wir verschieden sehen. Und ich glaube, dass es auch im Verhältnis zu Gott, im Glauben, um genau diese freie und aufrechte Verantwortlichkeit, dieses Gegenüber geht. Rechtsspruch und Gerechtigkeit sind Gottes Massstäbe für unser Handeln. Werden wir ihnen gerecht oder wo scheitern wir an ihnen? Wofür wollen wir Gott um Vergebung bitten? Vor allem aber: Erkennen wir, wie sehr Gott um uns wirbt und uns auch in der Konfrontation mit unserem Versagen, unserer Schuld, seine Liebe zeigt?
Denn das ist ganz entscheidend an diesem Text: Gott ist nicht der Richter, sondern bleibt auch angesichts der ins Auge gefassten Preisgabe des Weinbergs der Liebende, der um seine Menschen wirbt. Trotzdem ist ja nicht wegzudiskutieren, dass der Weinberg am Ende verwüstet daliegen könnte. Die Vorstellung, Gott könnte aus enttäuschter Liebe sein Volk, er könnte uns Menschen aufgeben, sie macht mir Mühe. Und erzählt die Bibel nicht immer wieder davon, wie Gott einen neuen Anfang mit seinen Menschen, mit uns macht? Ist nicht das ganze Neue Testament in immer neuen Anläufen die Verkündigung frohen Botschaft, dass Gott Frieden mit uns gemacht, sich selbst mit uns versöhnt hat? Aber umgekehrt: Ist Liebe, die völlig einseitig von Gott ausginge und von uns ganz unabhängig wäre, überhaupt noch Liebe. Ist Liebe, deren Ende nicht mehr gedacht werden darf, noch Liebe oder einfach ein unentrinnbares Schicksal?
Wichtig ist mir bei all diesen Fragen dreierlei: Erstens: Das Lied des Propheten vom Weinberg seines Freundes hat ein offenes Ende. Es ist nicht der Beschluss, den Weinberg der Verwüstung preiszugeben, sondern fasst diese äusserste Möglichkeit ins Auge – aus Liebe und um damit um Liebe und Umkehr zu werben. Die Botschaft lautet: Gott liebt euch und es ist ihm nicht egal, was ihr tut. Erst wo die Trennung denkbar wird ist die Liebe nicht ein unentrinnbares, aber letztlich gleichgültiges Schicksal, sondern eine lebendige Beziehung, die wachsen kann. Das zweite: Das Lied hat zwar ein offenes Ende. Im Horizont der Botschaft von Jesus stehen aber drohende Verwüstung und erhoffter Neuanfang nicht gleichgewichtig nebeneinander: Gott hat uns in Jesus Christus mit sich versöhnt. Der Zugang zu ihm ist offen. Seine Liebe bleibt. Für jeden. Immer. Und das dritte: Das Ende des Liedes ist offen, weil es nicht über uns redet, nicht das Urteil über uns spricht, sondern uns anredet und um uns wirbt. Am Ende des Liedes ist der Ball bei uns. Wir sind gefragt. Wir sind gefragt, wie wir es halten mit Recht und Gerechtigkeit, mit Rechtsbruch und Schlechtigkeit. Wir sind gefragt – als die Geliebten – was wir für diese Liebe tun wollen im Alltag unseres Lebens. Gott gibt uns die Freiheit, auf seine Liebe zu antworten. Amen.
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