Liebe Gemeinde,
„Weihnachten ist das Fest der Liebe und des Friedens“, meinte einmal eine Konfirmandin beim Anblick von Kerze, Tannenzweig, Nüssli und Weihnachtsgüetzi im Unterrichtszimmer. Sie sagte es in einem speziellen Ton, der mich veranlasste, nachzufragen, ob sie das nun ernst oder ironisch meine. Es war – da hatte ich mich nicht verhört – ironisch gemeint. Vielleicht braucht es diese Spur von Ironie, wenn Jugendliche erst einmal dem kindlichen Zauber des Weihnachtsfestes entwachsen sind. Wenn sie auf der Suche nach sich selbst sind, vermutlich voller Fragen und in manchem auch desillusioniert, dann braucht es diese Distanzierung. Denn sie haben längst erfahren, dass eben nicht alles heil ist und Frieden ein langer und schwieriger Prozess und nicht nur eine Stimmung über die Festtage. Und auch wir Erwachsene schützen uns ja manches Mal mit solch ironischer Distanz vor überhöhten Erwartungen an das Fest oder tun uns schwer mit den Enttäuschungen, zu denen unsere überhöhten Erwartungen führen.
Trotzdem feiern wir alle Jahre wieder Weihnachten, schmücken unsere Häuser, machen einander Geschenke, hören oder singen weihnachtliche Lieder und mehr Menschen als sonst kommen zu Gottesdiensten. Bei aller ironischen Distanz sehnen wir uns danach, dass eben Weihnachten doch das Fest der Liebe und des Friedens sein möge und wir ahnen vielleicht zutiefst, dass die Botschaft von Weihnachten die Kraft hat, Liebe und Frieden in Menschenherzen zu wecken. Nur, dass sich das nicht einfach machen lässt – weder durch die aufwendigste Dekoration noch durch die kostbarsten Geschenke, weder durch grösste Anstrengungen noch durch das reinste Glaubensbekenntnis.
Im Zentrum des Weihnachtsfestes steht das göttliche Kind in der Krippe, geboren in einem Stall, arm, verletzlich und der Zuwendung bedürftig. In ihm ist Gott gegenwärtig. Dieses Kind soll der Welt Heil und Frieden bringen. Die Geburt dieses göttlichen Kindes bringt die Engel zum Singen. Die Geburt dieses Kindes bringt die Hirten in Bewegung. Göttliches und Menschliches, Himmel und Erde berühren sich im Stall von Bethlehem.
Das ist nun nicht einfach die Feststellung historischer Begebenheiten, die man Fürwahrhalten oder bezweifeln könnte. Da geht es um eine tiefere Wahrheit, die wir bei den christlichen Mystikern auf wunderbare Weise ausgedrückt finden. Sie reden von der Gottesgeburt in der menschlichen Seele. In der Geburt Jesu feiern wir die Gottesgeburt in unseren Herzen. Wenn Gott nicht in uns geboren wird, so bleibt das Geschehen von Bethlehem uns fern, dann bleiben wir uns auch selber fremd. Der christliche Mystiker Angelus Silesius hat es so ausgedrückt: „Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du bleibst doch ewiglich verloren.“ Und für Meister Eckhart vollzieht sich die Gottesgeburt so: „Im innersten Wesen der Seele, im Fünklein der Vernunft, geschieht die Gottesgeburt. In dem Reinsten, Edelsten und Zartesten muss es sein: in jenem tiefen Schweigen, dahin nie gelangte eine Kreatur noch irgendein Bild.“
Diese Mystiker lehren uns: Die Gottesgeburt in unseren Herzen, auf die es wirklich ankommt, die können wir nicht bewirken oder machen. Wir können sie höchstens zulassen, geduldig erwarten und mit Gottes Hilfe wahrnehmen, sie einlassen in unser alltägliches Leben.
Sich in Geduld üben und loslassen können, das sind die Tugenden, die hier gefragt sind. Nur so können Liebe und Frieden gedeihen. Wenn sie nicht in unseren Herzen Wurzel schlagen können, dann werden wir sie auch ausserhalb von uns und unter uns nicht finden. Und das zweite ist: wir sollen lernen, mit anderen Augen zu sehen. Nur mit den Augen des Herzens konnten die Hirten die Engel wahrnehmen und im Kind in der Krippe in diesem ärmlichen Stall das göttliche Kind erkennen. So brauchen auch wir die Augen des Herzens, um das Neue zu erkennen, das mit diesem Kind in uns geboren werden will.
Wir können nicht den Frieden in der ganzen Welt schaffen, aber wir können den Frieden in uns selber suchen. Wir können nicht einmal den Nächsten zum Frieden zwingen, aber wir können ihm die Hand zum Frieden reichen. Wir können Liebe nicht fordern, aber wir können Liebe schenken ohne Bedingungen und Erwartungen. Wir können nicht verhindern, dass wir von anderen verletzt werden, aber wir können auch in dem, der uns verletzt, den verletzlichen und der Liebe und Zuwendung bedürftigen Menschen sehen. Wir können vielleicht eine Krankheit oder ein schweres Schicksal nicht einfach abschütteln, aber wir können es annehmen und damit leben lernen ohne bitter und hart zu werden. Solange wir danach suchen, wer an unserer Unruhe und unserem Unfrieden schuld ist, werden wir keinen Frieden finden. Wir können nicht alle anderen verändern, aber vielleicht gelingt es uns, mit Gottes Hilfe uns selbst zu verändern und uns berühren zu lassen von diesem weihnachtlichen Frieden. Gott selbst hat diesen Weg gewählt. Er hat nicht mit Feuer und Schwert die Welt verändert, sondern sich selbst. Er hat sich uns gleich gemacht, uns ausgeliefert. Bethlehem und Golgotha stehen für diese Botschaft, dass Gott sich wehrlos in unsere Hände begibt. Es ist an uns, ob wir ihn aus unserem Leben verdrängen oder ob wir ihn in unser Herz einlassen wollen.
Ich wünsche uns allen, dass wir uns berühren lassen von dem Kind in der Krippe, dass wir lernen loszulassen und der Gottesgeburt in unseren Herzen Raum gewähren. Weihnachtlicher Friede möge in unseren Herzen und in unseren Häusern einziehen oder doch die Sehnsucht danach wach bleiben und die Geduld, ihn zu erwarten und unseren Mitmenschen mit offenen Armen zu begegnen. Amen
Montag, 24. Dezember 2012
Sonntag, 9. Dezember 2012
Predigt zum Magnificat Luk 1,46-55 am 2. Adventssonntag, 9. Dezember 2012
Liebe Gemeinde
Das Magnificat, der Lobgesang der Maria, den wir gerade in Wort und Gesang gehört haben, ist zweifellos eine Perle und einer der bekanntesten Texte der Bibel. In der katholischen Tradition ist Maria zu einer zentralen Glaubensgestalt und zum Gegenstand der Verehrung geworden. In unserer reformierten Tradition hingegen ist Maria lange Zeit eine Randfigur geblieben, nicht zuletzt in Abgrenzung zur katholischen Marienverehrung. Erst in den letzten Jahrzehnten, nicht zuletzt durch die Suche von Frauen nach Vorbildern und Identifikationsfiguren in der biblischen Tradition, ist Maria gewissermassen zu einer ökumenischen Gestalt geworden.
Maria galt lange Zeit als Inbegriff der demütigen, sich ganz in Gottes Willen ergebenden Frau. „Ja, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast“, lässt das Lukasevangelium sie auf die Ankündigung der Geburt durch den Engel antworten. Und die Niedrigkeit der Magd kehrt wieder in ihrem Lobgesang. Sie erscheint als eine Frau, die sich ganz zum Gefäss des göttlichen Willens und Wirkens machen lässt. Wir sind heute geneigt, darin ein ideologisch geprägtes Frauenbild zu sehen - und zu kritisieren, mit guten Gründen. Trotzdem enthält dieses Marienbild etwas ganz Entscheidendes: die reine Empfänglichkeit dieser Frau, die sich dem Wirken und der Gegenwart Gottes öffnet und austrägt und wachsen lässt, was Gott in ihr zum Leben erweckt. Solche Empfänglichkeit gehört zu unserem Menschsein - und nicht nur zum Frausein - in Beziehung zu Gott. Achtsamkeit für all das, was in unserem Leben wachsen und sich entfalten möchte, was in uns und durch uns das Licht der Welt erblicken kann. Ein Gespür, eine Sensibilität für die Möglichkeiten, die in uns hineingelegt, die in uns angelegt sind. Ja, auch ein Selbstvertrauen, dass Grosses durch uns wachsen kann. Und gleichzeitig unser Leben so anzunehmen, wie es geworden ist, auch zu den schmerzlichen und schwierigen Seiten Ja zu sagen, selbst wenn der Weg dazu lang sein kann und vielleicht viel Zeit braucht. In den Worten Marias: „Mir geschehe, wie du gesagt hast.“
Diese Empfänglichkeit und Passivität, die Bereitschaft, Ja zu sagen, gehören unverzichtbar zu dem, was von Maria zu erzählen ist. Es ist aber nur die eine Seite der Gestalt der Maria. Denn zugleich ist sie eine starke Frau und das Magnificat hat so gar nichts Bescheidenes und Demütiges an sich - auch wenn von der „Niedrigkeit seiner Magd“ die Rede ist. Es ist ein selbstbewusstes und rebellisches Lied. „Grosses hat der Mächtige an mir getan.“ Diese junge Frau soll seliggepriesen werden von allen Geschlechtern. „Mächtige hat er vom Thron gestürzt und Niedrige erhöht, Hungrige hat er gesättigt und Reiche leer ausgehen lassen.“ Diese Frau schweigt nicht und sie sagt mehr als nur Ja. Und so kann sie Frauen, aber auch Männern, Mut machen, Mut zu einem aufrechten Gang und zu selbstbewusstem Handeln. So ist Maria zu einer wichtigen Identifikationsfigur feministischer Theologie geworden - eine Frau, die mutig und selbstbewusst das Wort ergreift und sich nicht einfach abfindet mit den Verhältnissen, so wie sie sind. Und das Magnificat ist mit seiner Hoffnung auf einen Umsturz aller Verhältnisse zu einer Inspirationsquelle einer politischen Theologie geworden, die uns daran erinnert, dass sich das Evangelium niemals auf reine Innerlichkeit und persönliche Frömmigkeit reduzieren lässt, sondern auch im Einsatz für soziale Gerechtigkeit, Humanität und die Bewahrung der Schöpfung Gestalt gewinnen muss.
Nur wenn Beides zur Geltung kommt - die Empfänglichkeit und Passivität und das Selbstbewusst-Rebellische, fängt das Magnificat an zu leuchten. Und diese Verbindung, dieses Leuchten will ich an zwei Dingen festmachen. „Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter, denn hingesehen hat er auf die Niedrigkeit seiner Magd.“ (oder in der Lutherübersetzung: angesehen hat er die Niedrigkeit seiner Magd) So heisst es am Beginn des Magnificat. Es ist klar, dass es hier nicht um ein durch Leistung erworbenes Ansehen oder ein Ansehen aufgrund von Herkunft und Geburt geht. Dieses Ansehen ist nichts als frei geschenkte Zuwendung und Liebe. Solches Ansehen, solche Beachtung richtet einen Menschen auf, lässt ihn wachsen und selbstbewusst werden. Soches Ansehen und solche Beachtung können wir nur empfangen und annehmen. Und wo wir sie empfangen und in uns dankbar aufnehmen, können wir wachsen, kann Neues in uns geboren werden und das was in uns steckt, kann sich entfalten. Beachtung erfahren wir durch Gott, Ansehen schenkt uns Gott und wir können einander Ansehen und Beachtung schenken, einander aufrichten und zum Blühen bringen. Dazu kann uns das Magnificat ermutigen. Wer angesehen wird, blüht auf, gewinnt an Kraft und Mut, kann sich selbst und Gott etwas zutrauen und muss sich auch mit den Verhältnissen nicht mehr einfach abfinden.
Dass Maria angesehen und so aufgerichtet und gross gemacht wird, ist das Eine, das ich hervorheben will. Das Andere möchte ich mit einem Begriff der Philosophin Hannah Arendt in Verbindung bringen. Für sie war »Geburtlichkeit« ein Schlüsselbegriff ihres Denkens. Wo ihr Lehrer Martin Heidegger das Dasein als »Vorlauf zum Tode« begriff, dachte sie vom Beginn her, von der »Geburtlichkeit«: Jeder Mensch, so dachte sie, ist ein neuer Anfang, begabt mit der Freiheit zum gemeinsamen Handeln. In der Weihnachtsgeschichte des Lukasevangeliums kommt das Göttliche durch eine menschliche Geburt in die Welt, als ein Kind, von einer Frau geboren. Diese Frau hat einen Namen, Maria, und von ihr soll erzählt, sie soll seliggepriesen werden von allen Geschlechtern. Sie ist mehr als nur ein namenloses Gefäss göttlichen Wirkens. Dieses Kind wird - wie jedes Kind - angewiesen sein auf Liebe und Fürsorge. Mit dieser einen Geburt setzt Gott einen neuen Anfang und zugleich erinnert er uns an die Anfänglichkeit allen Lebens. Dass wir angesehen sind und auch durch uns Neues in diese Welt kommen kann, diese Botschaft des Magnificat gilt nicht nur der Maria, sie gilt uns allen. Jeder Mensch ist ein neuer Anfang, den Gott schenkt. Durch jeden Menschen kann etwas Göttliches in diese Welt kommen.
Gott setzt einen neuen Anfang, damit wir anfänglich leben können, empfänglich werden für die Neuanfänge in unserem Leben, für das, was durch uns geboren werden möchte. Dankbar empfangen und mutig ins Leben treten lassen - das will uns Gott schenken und dazu will er uns ermutigen. Amen.
Das Magnificat, der Lobgesang der Maria, den wir gerade in Wort und Gesang gehört haben, ist zweifellos eine Perle und einer der bekanntesten Texte der Bibel. In der katholischen Tradition ist Maria zu einer zentralen Glaubensgestalt und zum Gegenstand der Verehrung geworden. In unserer reformierten Tradition hingegen ist Maria lange Zeit eine Randfigur geblieben, nicht zuletzt in Abgrenzung zur katholischen Marienverehrung. Erst in den letzten Jahrzehnten, nicht zuletzt durch die Suche von Frauen nach Vorbildern und Identifikationsfiguren in der biblischen Tradition, ist Maria gewissermassen zu einer ökumenischen Gestalt geworden.
Maria galt lange Zeit als Inbegriff der demütigen, sich ganz in Gottes Willen ergebenden Frau. „Ja, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast“, lässt das Lukasevangelium sie auf die Ankündigung der Geburt durch den Engel antworten. Und die Niedrigkeit der Magd kehrt wieder in ihrem Lobgesang. Sie erscheint als eine Frau, die sich ganz zum Gefäss des göttlichen Willens und Wirkens machen lässt. Wir sind heute geneigt, darin ein ideologisch geprägtes Frauenbild zu sehen - und zu kritisieren, mit guten Gründen. Trotzdem enthält dieses Marienbild etwas ganz Entscheidendes: die reine Empfänglichkeit dieser Frau, die sich dem Wirken und der Gegenwart Gottes öffnet und austrägt und wachsen lässt, was Gott in ihr zum Leben erweckt. Solche Empfänglichkeit gehört zu unserem Menschsein - und nicht nur zum Frausein - in Beziehung zu Gott. Achtsamkeit für all das, was in unserem Leben wachsen und sich entfalten möchte, was in uns und durch uns das Licht der Welt erblicken kann. Ein Gespür, eine Sensibilität für die Möglichkeiten, die in uns hineingelegt, die in uns angelegt sind. Ja, auch ein Selbstvertrauen, dass Grosses durch uns wachsen kann. Und gleichzeitig unser Leben so anzunehmen, wie es geworden ist, auch zu den schmerzlichen und schwierigen Seiten Ja zu sagen, selbst wenn der Weg dazu lang sein kann und vielleicht viel Zeit braucht. In den Worten Marias: „Mir geschehe, wie du gesagt hast.“
Diese Empfänglichkeit und Passivität, die Bereitschaft, Ja zu sagen, gehören unverzichtbar zu dem, was von Maria zu erzählen ist. Es ist aber nur die eine Seite der Gestalt der Maria. Denn zugleich ist sie eine starke Frau und das Magnificat hat so gar nichts Bescheidenes und Demütiges an sich - auch wenn von der „Niedrigkeit seiner Magd“ die Rede ist. Es ist ein selbstbewusstes und rebellisches Lied. „Grosses hat der Mächtige an mir getan.“ Diese junge Frau soll seliggepriesen werden von allen Geschlechtern. „Mächtige hat er vom Thron gestürzt und Niedrige erhöht, Hungrige hat er gesättigt und Reiche leer ausgehen lassen.“ Diese Frau schweigt nicht und sie sagt mehr als nur Ja. Und so kann sie Frauen, aber auch Männern, Mut machen, Mut zu einem aufrechten Gang und zu selbstbewusstem Handeln. So ist Maria zu einer wichtigen Identifikationsfigur feministischer Theologie geworden - eine Frau, die mutig und selbstbewusst das Wort ergreift und sich nicht einfach abfindet mit den Verhältnissen, so wie sie sind. Und das Magnificat ist mit seiner Hoffnung auf einen Umsturz aller Verhältnisse zu einer Inspirationsquelle einer politischen Theologie geworden, die uns daran erinnert, dass sich das Evangelium niemals auf reine Innerlichkeit und persönliche Frömmigkeit reduzieren lässt, sondern auch im Einsatz für soziale Gerechtigkeit, Humanität und die Bewahrung der Schöpfung Gestalt gewinnen muss.
Nur wenn Beides zur Geltung kommt - die Empfänglichkeit und Passivität und das Selbstbewusst-Rebellische, fängt das Magnificat an zu leuchten. Und diese Verbindung, dieses Leuchten will ich an zwei Dingen festmachen. „Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter, denn hingesehen hat er auf die Niedrigkeit seiner Magd.“ (oder in der Lutherübersetzung: angesehen hat er die Niedrigkeit seiner Magd) So heisst es am Beginn des Magnificat. Es ist klar, dass es hier nicht um ein durch Leistung erworbenes Ansehen oder ein Ansehen aufgrund von Herkunft und Geburt geht. Dieses Ansehen ist nichts als frei geschenkte Zuwendung und Liebe. Solches Ansehen, solche Beachtung richtet einen Menschen auf, lässt ihn wachsen und selbstbewusst werden. Soches Ansehen und solche Beachtung können wir nur empfangen und annehmen. Und wo wir sie empfangen und in uns dankbar aufnehmen, können wir wachsen, kann Neues in uns geboren werden und das was in uns steckt, kann sich entfalten. Beachtung erfahren wir durch Gott, Ansehen schenkt uns Gott und wir können einander Ansehen und Beachtung schenken, einander aufrichten und zum Blühen bringen. Dazu kann uns das Magnificat ermutigen. Wer angesehen wird, blüht auf, gewinnt an Kraft und Mut, kann sich selbst und Gott etwas zutrauen und muss sich auch mit den Verhältnissen nicht mehr einfach abfinden.
Dass Maria angesehen und so aufgerichtet und gross gemacht wird, ist das Eine, das ich hervorheben will. Das Andere möchte ich mit einem Begriff der Philosophin Hannah Arendt in Verbindung bringen. Für sie war »Geburtlichkeit« ein Schlüsselbegriff ihres Denkens. Wo ihr Lehrer Martin Heidegger das Dasein als »Vorlauf zum Tode« begriff, dachte sie vom Beginn her, von der »Geburtlichkeit«: Jeder Mensch, so dachte sie, ist ein neuer Anfang, begabt mit der Freiheit zum gemeinsamen Handeln. In der Weihnachtsgeschichte des Lukasevangeliums kommt das Göttliche durch eine menschliche Geburt in die Welt, als ein Kind, von einer Frau geboren. Diese Frau hat einen Namen, Maria, und von ihr soll erzählt, sie soll seliggepriesen werden von allen Geschlechtern. Sie ist mehr als nur ein namenloses Gefäss göttlichen Wirkens. Dieses Kind wird - wie jedes Kind - angewiesen sein auf Liebe und Fürsorge. Mit dieser einen Geburt setzt Gott einen neuen Anfang und zugleich erinnert er uns an die Anfänglichkeit allen Lebens. Dass wir angesehen sind und auch durch uns Neues in diese Welt kommen kann, diese Botschaft des Magnificat gilt nicht nur der Maria, sie gilt uns allen. Jeder Mensch ist ein neuer Anfang, den Gott schenkt. Durch jeden Menschen kann etwas Göttliches in diese Welt kommen.
Gott setzt einen neuen Anfang, damit wir anfänglich leben können, empfänglich werden für die Neuanfänge in unserem Leben, für das, was durch uns geboren werden möchte. Dankbar empfangen und mutig ins Leben treten lassen - das will uns Gott schenken und dazu will er uns ermutigen. Amen.
Samstag, 24. November 2012
Predigt zu Jes 65,17-19.23-25 am Ewigkeitssonntag 25. November 2012
Liebe Gemeinde,
ist das nicht ein wunderschöner Traum, eine grossartige Vision, die uns das Jesajabuch vor Augen führt. Ein neuer Himmel und eine neue Erde. Kein Leid, kein Schmerz, keine Tränen mehr. Niemand soll mehr vorzeitig sterben, kein Leben unter der Last der Sinnlosigkeit zerbrechen, kein Mensch sich vergeblich bemühen. Ein Leben in Fülle und in Gerechtigkeit, erfüllt von einem alles umfassenden Frieden. Ja, es ist ein wunderschöner Traum, eine grossartige Verheissung – aber manchem von uns mag es auf der Zunge liegen: „Ist das nicht zu schön, um wahr zu sein?“ Da blickt jemand nach vorn, voller Hoffnung und Zuversicht, dass Gott es gut mit seinem Volk meint und dass er ihm eine heilvolle und erfüllte Zukunft schenken wird. Und wir? Wohin blicken wir?
Wir begehen heute den Toten- und Ewigkeitssonntag. Wir erinnern uns an unsere Verstorbenen. Unter uns sind Menschen, die im vergangenen Kirchenjahr von einem lieben Menschen Abschied nehmen mussten. Wir denken zurück an Menschen, die in hohem Alter gestorben sind, für die der Tod vielleicht auch eine Erlösung gewesen ist. Trotzdem fehlen sie uns, spüren wir, dass da etwas zu Ende gegangen ist - und das schmerzt.
Wir denken aber auch zurück an Menschen, die uns viel zu früh oder auf tragische Weise entrissen wurden, an Abschiede, die uns ohnmächtig und hilflos machen. Da sind die Fragen nicht so leicht loszuwerden, warum denn Gott manchen Menschen so viel Leid und so viel Schweres zumuten muss. Und es ist nicht leicht, diese Fragen auszuhalten. Es ist nicht leicht zu akzeptieren, dass es wohl keine andere Antwort gibt als die, dass wir den langen und oft schmerzhaften Weg der Trauer gehen, der es uns möglich macht, das anzunehmen, was wir nicht ändern können. Und zu vertrauen, dass wir mit Gottes Hilfe und durch die Menschen, die uns tragen und begleiten, auf diesem Weg wieder frei werden für das Leben, das vor uns liegt. Und es Gott zu überlassen, dass er uns dereinst in hellem Licht zeigen wird, was wir nicht verstehen können.
Aber der Weg kann lang und steinig sein und da helfen keine Patentrezepte, keine Vertröstungen und Verharmlosungen. Was hilft, ist allein, diesen Weg zu gehen und dabei zu achten auf die kleinen Hoffnungszeichen am Wegrand, auf die Menschen, die für uns da sind, auf die Spuren der heilsamen Gegenwart Gottes auf unserem Weg.
Wohin blicken wir? – so habe ich vorhin gefragt. Und die erste Antwort am Toten- und Ewigkeitssonntag heisst: Wir blicken zurück. Wir gedenken des Vergangenen. Und ich bin überzeugt: Das ist auch gut so. Das Vergangene, unsere Verstorbenen, die gemeinsame Geschichte mit all ihren schönen und kostbaren Seiten, aber auch mit den Schmerzen und Missverständnissen – all das gehört zu uns und unserem Leben. Wir sind es unseren Verstorbenen schuldig, dass wir ihrer gedenken und sie in unseren Herzen wohnen lassen. Und unser Blick zurück soll aufrichtig und zugleich liebevoll sein. Aber – und das ist die entscheidende Botschaft unseres Textes: Der Blick zurück darf nicht das Einzige sein. Wir dürfen und brauchen uns von diesem Blick zurück nicht gefangen nehmen lassen. Wir leben und für uns steht noch etwas aus. Wir haben ein Leben, das wir in der Gegenwart und auf Zukunft hin leben dürfen.
Die Zeit, in der unser Text geschrieben wurde, war eine schwierige Zeit. Nach der Eroberung und Zerstörung Jerusalems musste das Volk Israel 70 Jahre im Exil leben. Und als endlich die lang ersehnte Rückkehr in die Heimat Wirklichkeit wurde, fanden die Menschen sich wieder in einer Trümmerlandschaft, die nur wenig Verheissungsvolles an sich hatte. In diese entmutigende und trostlose Situation hinein redet unser Text. Er wendet sich an die, die nur noch die Trümmer ihres Lebens vor Augen haben und resigniert und mutlos darauf starren und einfach keine Kraft mehr haben, etwas anzupacken und von der Zukunft zu erwarten, sich auf etwas Neues einzulassen. Ihnen sagt er: Gott hat noch etwas mit uns vor. Er wendet sich an die, die meinen, früher sei alles besser gewesen es werde alles immer nur noch schlechter.
Ihnen sagt er, dass sie dem vergangenen nicht nachtrauern und es nicht verklären, sondern sich umdrehen, nach vorne blicken sollen, weil da Gott auf uns zukommt. Mit seiner grossartigen Vision eines neuen Himmels und einer neuen Erde will unser Text diesen Menschen die Hoffnung und den Lebensmut zurückgeben, die sie verlassen hatten.
Auch damals werden wohl viele gesagt haben: Das ist doch zu schön um wahr zu sein. Und sie haben sich gefragt: Wann soll denn das Wirklichkeit sein? Und haben sich vielleicht selbst die Antwort gegeben: wahrscheinlich nie? Auf ihre Weise haben sie sogar Recht. Denn was uns hier verheissen wird, das lässt sich nie einfach verwirklichen, das ist nicht die Beschreibung einer realen Zukunft im Massstab 1:1. Die biblischen Visionen und Verheissungen haben immer einen Überschuss, enthalten mehr als diese Welt uns zu geben vermag. Es kommt nicht darauf an, wann das alles Wirklichkeit sein wird, sondern ob wir uns überhaupt auf diese Vision, diese Verheissung einlassen. Ob wir uns bewegen lassen, nach vorne zu schauen und uns von Gott Hoffnung und Zuversicht schenken lassen.
Die Kraft dieser Verheissung liegt darin, dass sie unsere Blickrichtung verändern und uns aufrütteln kann. Nur wer vom Leben noch etwas erwartet, wer sich vorstellen kann, dass es auch noch ganz anders, dass es heil werden könnte, wird befähigt, sein Leben in die Hand zu nehmen, Bruchstücke dieser heilvollen Zukunft in seinem Leben zu entdecken, in der Gegenwart und auf Zukunft hin zu leben.
Es geht nicht darum, das Vergangene zu vergessen oder gar zu verdrängen. Ich möchte das, worum es in meinen Augen geht, mit einem Bild ausdrücken: Der entscheidende Unterschied ist der, ob wir wie gebannt auf das Vergangene blicken, sei es verklärend oder erschrocken, und dem, was kommt, den Rücken zukehren oder ob wir die Vergangenheit im Rücken haben und den Blick nach vorne gerichtet, weil wir vom Leben etwas erwarten. Wer so das Vergangene im Rücken hat, der weiss darum, dass es zu ihm gehört, mit allem Kostbaren und Schönen, aber auch mit den Schatten, die es wirft.
Die Menschen, die wir verloren haben, sie gehören zu uns – als kostbarer Schatz und Kraftquelle, manchmal auch als bedrückende Last. Aber mit dieser Geschichte dürfen wir weitergehen. Wir dürfen sie ruhen lassen. Denn wir leben und uns gilt die Verheissung eines neuen Himmels und einer neuen Erde. Sie gilt uns bruchstückhaft schon in dieser Welt und in diesem Leben. Wer trauert, darf sich wieder dem Leben zuwenden, sich wieder freuen, Schönes erleben und geniessen. Ja, der darf sich auf neue Menschen und neue Beziehungen einlassen. Das ist kein Verrat an dem verstorbenen Menschen. Denn der Tod eines Menschen bedeutet auch, dass wir einander wieder frei geben. Wer sich dem Leben wieder zuwendet, der bewahrt gerade darin die Treue zu dem verstorbenen Menschen und die Treue zu Gott. „Vertraut den neuen Wegen, auf die der Herr euch weist“, wie es in einem schönen neueren Kirchenlied heisst.
Die Verheissungen Gottes haben einen Überschuss, der sich nicht einfach realisieren lässt. Sie sind gewissermassen nicht ganz von dieser Welt. Aber gerade darin zeigen sie uns, dass wir als Gottes Geschöpfe nicht einfach dieser Welt gehören. Die Schrecken, die wir erleben, der Tod der uns trifft, die Trauer, die wir zu tragen haben – sie sind nicht alles, was über uns und unser Leben zu sagen ist.
Als Christen glauben wir, dass Gott das letzte Wort über unser Leben hat und nicht der Tod. Als Christen glauben wir, dass wir auf einen neuen Himmel und eine neue Erde zugehen, bruchstückhaft jetzt schon in dieser Welt, aber vollkommen erst dann, wenn wir ganz bei Gott sind, in jener Welt, in der alles Leid und selbst der Tod überwunden ist. Dann wird man des Vergangenen nicht mehr gedenken, weil dann alles aufgehoben ist in Gottes heilvoller und ewiger Gegenwart. Darum dürfen wir schon heute den Blick nach vorne richten, hoffnungsvoll und zuversichtlich, weil der, der uns entgegenkommt, uns und diese Welt liebt und uns Zukunft und Hoffnung geben will. Amen.
Sonntag, 4. November 2012
Predigt zu Gal 5,1-6 am Reformationssonntag 4. November 2012
Liebe Gemeinde!
Von dem Dramatiker Eugène Ionescu gibt es ein Theaterstück mit dem Titel „Die Nashörner“. Darin versinnbildlicht die allmähliche Verwandlung der Menschen in Nashörner die Bereitschaft, sich bereitwillig anzupassen, wenn es für einen selber nützlich erscheint. Die Versuchung, aus Bequemlichkeit die eigene Freiheit aufzugeben, ist gross. Es ist leichter, mit der Masse mitzulaufen als dagegenzuhalten. Selber zu denken, eine eigene Meinung zu vertreten, das kann anstrengender sein, als sich schön der Menge anzupassen.
Aber es gibt auch das fatale Missverständnis, das Freiheit mit Rücksichtslosigkeit verwechselt. Wer sich nur frei fühlt, wenn er auf nichts oder niemanden Rücksicht nehmen muss, der kreist letztlich nur um sich selber, in einer Selbstverliebtheit, die für andere, für Gemeinsamkeit keinen Raum lässt. Die Reformatoren haben vom „in sich selbst verkrümmten Menschen“ geredet und darin den Inbegriff von Sünde gesehen, während heute eine solche Haltung oft als Freiheit und Unabhängigkeit gefeiert wird. Für die Reformatoren war es wichtig, dass für einen Menschen, der aus dem Glauben an Jesus Christus lebt, beides zusammengehört: eine eigenständige Person zu sein, eine eigene Meinung zu haben, sich frei zu entfalten und dabei und zugleich das Wohl anderer Menschen im Sinn zu behalten. In seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ hat Luther geschrieben: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan.“ „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ Und: „ Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Wir müssen von Kindesbeinen an lernen, wann es dem eigenen Gewissen entspricht, auf Freiheit zu pochen oder in Freiheit auf sie zu verzichten.
Unser Predigttext liefert uns dafür kein einfaches Rezept, aber eine ganz wichtige Richtschnur: „In Christus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.“ Denn damit gewinnt die christliche Freiheit Konturen. Da wird klar, dass diese Freiheit nicht zu verwechseln ist mit den einsamen Helden der Zigarettenwerbung oder einem Wirtschaftsliberalismus, der sich am liebsten von allen sozialen Rücksichten befreit sähe.
Man kann diesen ganz entscheidenden Unterschied vielleicht am Besten so deutlich machen: Während viele heute Freiheit in erster Linie als „Freiheit von“ verstehen, ist Freiheit im evangelischen Sinn „Freiheit zu“. Und diese Freiheit zu ist die Freiheit zum Glauben, der durch die Liebe tätig ist. Und das lässt sich nun auf unzählige Bereiche unseres Lebens beziehen. Bin ich frei, wenn ich ohne Rücksicht auf andere Menschen leben kann oder bin ich dann frei, wenn ich in einer Partnerschaft oder im Zusammenleben mit Kindern aus freien Stücken immer wieder darauf verzichte, meine eigenen Interessen durchzusetzen? Bin ich frei, wenn ich so schnell und so viel fahren kann, wie ich will oder wenn ich aus Rücksicht auf die Natur und die Mitmenschen meine Mobilität sinnvoll beschränke? Ist ein Unternehmer frei, wenn er rücksichtslos seinen Profit verfolgen kann oder dann, wenn er Rahmenbedingungen akzeptiert, die dem sozialen und ökologischen Frieden dienen? Bin ich frei, wenn ich jeder Mode nachlaufe, die Spuren des Alterns verdecken, mich in ein gutes Licht stellen kann oder eher dann, wenn ich zu mir selbst ja sagen kann, so wie ich geworden bin, auch mit den Spuren des Alters, den Unzulänglichkeiten, meinem Anderssein? Es geht immer um den rechten Gebrauch der Freiheit, darum dass wir unsere Freiheit so gebrauchen, dass sie andere einbezieht und Zuwendung und Gemeinschaft ermöglicht.
Es liegt mir sehr viel an dieser Unterscheidung einer Freiheit von, die uns von unseren Mitmenschen trennt und allzu leicht zu einem Deckmantel der Rücksichtslosigkeit werden kann, und der Freiheit zu, die Freiheit zur Liebe, zur Rücksichtnahme und zur Gemeinschaft ist. Aber in einem Punkt beharrt dann Paulus doch ganz entschieden auf einer Freiheit von. Als Christen sind wir frei davon, vor Gott etwas aus uns machen zu müssen. Es gibt keine Bedingungen, die wir zuerst zu erfüllen hätten, damit Gott uns wohl gesonnen ist. Zur Zeit des Paulus hat es geheissen: Es stimmt schon, dass Christus uns befreit hat, aber es gehört sich doch, dass man sich zumindest beschneiden lässt. Aber hier sagt Paulus ganz entschieden nein. Die Beschneidung an sich ist für Paulus weder nützlich noch schädlich. Aber wenn sie zur Bedingung des Christseins gemacht wird, dann wird die Freiheit verspielt. Denn wenn ein Mensch meint oder sich einreden lässt, dass er Vorschriften erfüllen muss, um Gott genehm zu sein oder auch nur der Welt zu gefallen, dann setzt er seine Freiheit aufs Spiel. Wer sich so in seiner Freiheit beschneiden lässt, der kommt ein Leben lang nicht mehr aus dem Zwang heraus, allen möglichen Bedingungen zu gehorchen. Ob es dann der Zwang ist, irgendwelchen Moden hinterherzulaufen oder sich der jeweils herrschenden Meinung anzupassen oder möglichst fromm zu sein, ist gar nicht so entscheidend. Entscheidend ist, ob wir uns irgendwelchen auferlegten Gesetzen unterwerfen oder ob wir aus Freiheit uns entscheiden, weil wir wissen, dass wir von Gott geliebt und angenommen sind und darum zur Liebe und Mitmenschlichkeit befähigt.
Deshalb möchte ich sie ermutigen: Geben sie ihre Freiheit nicht auf. Sie ist ein kostbares Geschenk. Sie müssen sich nicht rechtfertigen – nicht vor Gott und nicht vor den anderen. Sie müssen und sie können es nicht allen recht machen. Es ist ja auch ein Stück Lebensklugheit, wenn wir begreifen, dass Beziehungen nur dann gelingen können, wenn es ein Gegenüber gibt und nicht eines im Anderen nur das Echo seiner Wünsche und Vorstellungen erkennt. Wer es allen recht machen will, der verliert sich selbst und oft auch den Respekt der Anderen. In Gottes Augen aber sind wir alle einzigartige und wertvolle Geschöpfe. Darum hat er uns Freiheit geschenkt, damit wir sie auch gebrauchen. Darum bittet er uns aber auch, dass wir einander nicht ständig dem Zwang unterwerfen, uns zu rechtfertigen. All unsere Fragen, warum der Andere dies oder das getan oder unterlassen hat, sollten getragen sein vom ehrlichen Interesse an den Beweggründen des Anderen. Dann sind sie auch wertvoll. Aber sie verkehren sich ins Gegenteil, wenn sie denn anderen zwingen, sich zu rechtfertigen und eigentlich nichts als Vorwürfe sind. Das ungute Wechselspiel von Vorwürfen und Rechtfertigungen tut keinem der Beteiligten gut.
Ich möchte sie aber auch ermutigen, ihre christliche Freiheit so zu gebrauchen, dass sie die Zuwendung zu den Mitmenschen einschliesst und in einem Glauben Gestalt gewinnt, der in der Liebe tätig ist. Vergessen sie nicht, dass wahre Freiheit nicht darin besteht, dass wir ohne Rücksicht tun und lassen können, was wir wollen, sondern sich manchmal gerade darin zeigen kann, dass wir freiwillig darauf verzichten, unsere Interessen durchzusetzen. Lassen sie sich nicht von anderen vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben, aber lassen sie sich auch nicht einreden, dass nur der frei ist, der auf niemand Rücksicht nehmen muss und sich alles leisten kann. Es könnte ja sein, dass wir unsere Freiheit gerade darin verwirklichen, dass wir aus freien Stücken einen kranken Menschen pflegen, manche Dinge zum Wohl unserer Familie zurückstellen, wirtschaftlichen Nutzen zum Wohl der Menschen zurückstellen oder die freie Verfügung über unsere Zeit einschränken zugunsten der Verpflichtungen in einem Ehrenamt oder einer freiwilligen Tätigkeit. Erst wenn wir uns entscheiden und uns damit auch binden, verwirklichen wir unsere Freiheit.
Dass gilt auch für unseren Glauben. Frei sind wir nicht, wenn wir glauben oder auch nicht glauben können. Frei sind wir, wenn wir im Glauben annehmen können, dass wir durch Christus befreit sind und nicht mehr dem Zwang zur Leistung und Rechtfertigung unterworfen. Das macht unabhängig. Darum müssen wir uns auch nicht anpassen, sondern dürfen den Mut zur eigenen Meinung, zum eigenen Lebensstil haben. Und wir können darauf bauen, dass eines gewiss ist: Ich bin ohne mein Zutun, ohne Vorbedingungen von Gott geliebt und angenommen.
Donnerstag, 17. Mai 2012
Predigt zum Auffahrtstag am 17. Mai 2012 (ökumenischer Gottesdienst)
Die Predigt habe ich gemeinsam mit Pastoralassistent Udo Schaufelberger verfasst und anlässlich des ökumenischen Gottesdienstes zum Auftakt der Auffahrtswanderung der bernischen Landeskirchen und der Berner Wanderwege gehalten.
B.B.: Liebe Gemeinde,
nachher werden viele von ihnen diesen Tag nützen, um in unserer wunderbaren Hügellandschaft zu wandern - bergauf und bergab - und hoffentlich diesen Tag geniessen und viele bereichernde Eindrücke mitnehmen können. Auch in der Predigt möchten wir sie auf eine Wanderung einladen, sozusagen auf eine „geistliche Bergwanderung“. Sie beginnt auf dem Ölberg, mit der biblischen Geschichte, die dem heutigen Auffahrtstag seinen Namen gegeben hat.
40 Tage sind seit dem Ostermorgen vergangen. Im NT sind diese 40 Tage eine Zeit der besonderen Gegenwart Jesu. In dieser Zeit wurden die Jüngerinnen und Jünger Jesu in der Gewissheit bestärkt, dass Jesus, der Gekreuzigte nicht im Tode geblieben ist. Es ist eine Zeit der Reifung und der Stärkung, die Zeit, die es braucht, damit die neue Hoffnung, das neue Vertrauen bei den Jüngerinnen und Jüngern Wurzel schlagen kann. Ermutigt und bestärkt, erfüllt von dem Vertrauen, dass Jesus auferstanden und nicht alles zuende ist, können sie nun Abschied nehmen. Dieser Abschied ist geprägt von Zuversicht, ist auch eine Art Mündigerklärung der Jüngerinnen und Jünger.
Am Ende der Geschichte gibt es eine beeindruckende Szene: wie gebannt blicken die Jüngerinnen und Jünger in den Himmel hinauf, der Wolke hinterher, die den Auferstandenen ihren Blicken entzogen hat. Da tauchen zwei Männer in weissen Kleidern auf - wer würde hier nicht an die Geschichte vom leeren Grab denken! Und so wie sie am Ende des Lukasevangeliums fragen „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?“ so fragen sie nun „Was steht ihr da und schaut hinauf zum Himmel?“
Sie verweisen die Jüngerinnen und Jünger auf die Erde. Das ist der Ort, wo sie ihr Leben gestalten sollen, wo sie Verantwortung tragen und die Liebe, die sie erfahren haben, weitertragen sollen. Wer den christlichen Glauben mit einer frommen Weltflucht verwechselt, der hat diese Frage überhört.
Indem der Auferstandene die Jüngerinnen und Jünger verlässt, gibt er ihnen Freiheit und eröffnet ihnen und uns einen Raum, den wir wahrnehmen und in dem wir Verantwortung tragen können, Verantwortung für unser Leben, Verantwortung für die Menschen, die Gott uns anvertraut hat und für seine ganze Schöpfung, Verantwortung auch für die Botschaft vom Reich Gottes, die Jesus verkündet hat. Der Auferstandene geht. Aber er lässt sie nicht allein zurück. „Ihr werdet aber Kraft empfangen, wenn der heilige Geist über euch kommt, und ihr werdet meine Zeugen sein.“
Welchen Weg der Auferstandene uns als seinen Zeuginnen und Zeugen zeigt, danach fragen wir, indem wir nun die Szene von der Auffahrt Jesu auf dem Ölberg verlassen und auf einen zweiten Berg steigen, der schon vorher in der Bibel, im Matthäusevangelium beschrieben ist, den Berg der Versuchung.
U.S.: Welches Bild von Jesus ist uns eigentlich am liebsten? Jesus als Wanderprediger in der Hügellandschaft von Galiläa? Oder macht uns das zu wenig her? Ist uns doch das Bild von Christus lieber, der als Weltenherrscher strahlend und souverän auf einem himmlischen Thron ruht? Wie sich Jesus selber verstanden hat, darüber erfahren wir etwas Wichtiges auf dem zweiten Berg unserer geistlichen Bergwanderung, dem Berg der Versuchung. Auf diesen ‚sehr hohen Berg‘ hinauf hat der Teufel Jesus geführt, weil er ihm alle Königreiche der Welt in ihrer Pracht zeigen will: „Dies alles werde ich dir geben, wenn du dich niederwirfst und mich anbetest“ (Mt 4, 9), so lautet das verführerische Angebot. Doch Jesus sagt ab. Er widersteht der Versuchung zur Macht, und das nicht nur, weil ihm der teuflisch hohe Preis nicht behagt, sondern weil das nicht der Weg ist, den Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern weisen will. Jesus will mit den Seinen selber unterwegs sein, will für sie erfahrbar sein und berührbar. Denn nur in einer solchen Weggemeinschaft können sich die Anderen an ihm orientieren, können sie mit der Zeit selbst Verantwortung übernehmen, um dann wiederum anderen Menschen voranzugehen. Dies aber ist auch die Voraussetzung dafür, dass die Jüngerinnen und Jünger nach Ostern eigenständig einstehen können für ihre neu gewonnene Glaubensüberzeugung, für dieses neue Bewusstsein von Gott, das sich im Evangelium zeigt.
Jesus gibt uns einen wichtigen Wegweiser, in dem er selbst den Weg mit uns geht. Und diese Erfahrung trägt auch noch nach Ostern, nach Auffahrt und Pfingsten und lässt die kirchliche Weggemeinschaft nun seit fast 2000 Jahren unterwegs sein.
Wir dürfen gespannt sein, was uns Jesus noch alles mitgeben wird für unsere geistliche Wanderschaft, die uns auf einen weiteren Berg, den Berg der Seligpreisungen führt.
B.B.: Es tönt auf jeden Fall gut, was wir dort zuerst zu hören bekommen: “Glücklich seid ihr …” Ein glücklicher Mensch sein - wer möchte das nicht! Aber was ist ein glücklicher Mensch? Die Aufzählung in den Seligpreisungen entspricht vermutlich nicht ganz unserem Bild glücklicher Menschen: die Armen im Geiste, die Leidtragenden, die Sanftmütigen, die Barmherzigen, die reinen Herzens sind, die Friedensstifter. Glücklich nennt Jesus sie, weil sie auf Gott vertrauen und weil ihr Vertrauen nicht enttäuscht werden wird. Glücklich nennt er sie, weil sie ihre Berufung, ihre Aufgabe gefunden haben und weil sie mit anderen gemeinsam unterwegs sind. Und sie sind glücklich, weil sie die Sehnsucht nach einem Leben in Gemeinschaft und in Gerechtigkeit wachhalten.
Gegen Ende dieser Bergpredigt gibt Jesus uns die entscheidende Richtschnur für unser Handeln auf diesem Weg: “Wie immer ihr wollt, dass die Leute mit euch umgehen, so geht auch mit ihnen um!” Er macht nicht eine Vielzahl von Vorschriften, stellt keine Regeln auf, sondern macht Mut, selber zu denken und vor allem auf sein Herz zu hören, sich mit anderen zu verbinden und darauf zu achten, was sie nötig haben. Nicht Gehorsam, sondern Mitgefühl und Achtsamkeit kennzeichnen den Weg, den Jesus uns zeigt. Er traut uns zu, selber herauszufinden, was die anderen nötig haben und eigenständig, phantasievoll und kreativ das zu tun, was nötig ist. Und er traut uns auch zu, dass wir einander ermutigen und ermächtigen, unseren Weg eigenständig zu gehen und achtsam zu bleiben füreinander. Augustin hat einmal gesagt: “Liebe - und tu was du willst.” Ist das nicht ein wunderbarer Gedanke? Tu, was du wirklich von Herzen willst, wenn du liebst.
Wenn wir in diesem Geist der Bergpredigt Jesu unterwegs sind, dann können wir einander zu wirklichen Lehrerinnen und Lehrern werden, die einander ermächtigen statt andere nur zu belehren. Denn das ist der Auftrag, den Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern auf dem letzten Berg unserer Wanderung gibt.
“Geht nun hin und macht alle Völker zu Jüngern: Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, und lehrt sie alles halten, was ich euch geboten habe. Und seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.”
U.S.: Auch diese letzte Szene des Matthäusevangeliums spielt also auf einem Berg. Jesus hat die Frauen und Männer seiner Gemeinschaft an diesen Ort in Galiläa geschickt, an dem er ihnen das letzte Mal erscheinen will. Und das ist nicht verwunderlich: denn schon in vielen älteren Schriften der Bibel, z.B. in den Büchern Mose oder bei Jesaja ist der Berg der Ort der besonderen Gottesoffenbarung. Und viele Berggängerinnen und Berggänger teilen diese Erfahrung bis heute. Auch wenn sie nicht immer mit derlei klaren Worten nach Hause kommen, wie Jesus sie seinen Jüngerinnen und Jüngern auf diesem Berg mitgeben hat: „Geht nun, macht alle Völker zu Jüngern, tauft sie und lehrt sie alles, was ich euch geboten habe“.
Alle Völker zu Jüngern machen? Am Ende zu Mitgliedern der reformierten, römisch-katholischen, christkatholischen und all der anderen Kirchen? Dass dieser Auftrag bei vielen nicht gerade auf Gegenliebe trifft, scheint offensichtlich. Aber geht es wirklich darum? Jünger sind zuallererst Menschen, die bereit sind zu lernen in der Schule des Lebens, die bereit sind, sich führen zu lassen auf diesem Weg des Lernens. Und auf diesem Weg der Erkenntnis brauchen wir genau die Orientierungshilfe, die uns Jesus so kraftvoll anbietet. Jesus ist aber nicht einer, dem wir einfach blindlings nachlaufen sollen. Vielmehr sagt er mir: Habe den Mut, zu der Überzeugung zu stehen, die Dich bewegt und gehe nicht hinter sie zurück. Stell Dich der Aufgabe, Deine Glaubenseinsicht eigenständig zu vertreten, so wie ich es Dir vorgemacht habe. Zeige das eigene Profil Deiner Glaubensüberzeugung, denn Du brauchst nicht kreuz und quer Deinen Weg zu gehen.
Es geht also um solche Weggemeinschaft, die aus Schülerinnen und Schülern Lehrer und Lehrerinnen macht, zu eigenständigen Menschen, die im Geist von Jesus handeln. Und mit diesem lebensbejahenden Geist sollen wir die ganze Welt anstecken, sollen wir sie eintauchen, sie taufen. Und das ergibt dann eben nicht das brave Kirchenschaf, diese Karikatur des Kirchgängers, das jedem Prediger blindlings hinterherläuft und auch nicht diese Karikatur des Wanderers, der in roten Kniebundsocken, blind für die Wunder der Natur dahinschreitet, sondern dieser lebensbejahende Geist Jesu führt zu Menschen, die achtsam und bewusst in dieser Welt unterwegs sind - auch bereit, sich für die Wege selber einzusetzen, auf denen wir gehen können. Und genau das tun ja z.B. die engagierten Frauen und Männer bei den „Berner Wanderwegen“ seit nunmehr 75 Jahren.
Jesus mutet uns auf diesem letzten Berg des Matthäusevangeliums nicht weniger als die religiöse Eigenständigkeit zu, aber er lässt uns damit nicht allein. Er sagt vielmehr: Es kommt zwar auf Dich an, es hängt aber nicht allein von Dir ab. Denn seid gewiss: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“.
Samstag, 5. Mai 2012
Predigt zu „Viele reden vom Weltuntergang - wir reden vom Leben“ am 22. April 2012
Liebe Mitchristen,
am 21. Dezember dieses Jahres wird die Welt untergehen. So jedenfalls wird in manchen esoterischen Kreisen die Tatsache interpretiert, dass zur Wintersonnenwende 2012 der Mayakalender endet und eine rätselhafte Inschrift in diesem Zusammenhang vom Kommen einer Gottheit berichtet. Vor drei Jahren startete in den Kinos ein Katastrophenfilm des Erfolgsregisseurs Roland Emmerich mit dem Titel 2012, der von dieser Prophezeihung inspiriert war und sich eben auch die Faszinationskraft solcher Weltuntergangsängste zunutze macht.
Es ist nicht die erste und vermutlich auch nicht die letzte Weltuntergangs-prophezeihung und sie beruht wohl auf einer Fehlinterpretation des Mayakalenders. Denn der beruht auf einem zyklischen Denken und umfasst Zyklen zu je 394 Jahren. Relativ sicher ist nur dass am 21. Dezember ein solcher Zyklus endet. Erst wenn man dies mit apokalyptischen Szenarien verbindet, wird daraus mehr als der Übergang zu einem neuen Zyklus. Und ganz abgesehen davon zwingt uns nichts und niemand dazu, aus dem Mayakalender historische Ereignisse abzuleiten. Er ist Ausdruck einer frühen Hochkultur, die ihre Blütezeit zwischen 300 und 900 n.Chr. hatte. Diese Kultur verdient Respekt, aber aus ihr zukünftige Ereignisse ablesen zu wollen, ist für mich nicht nachvollziehbar. Und übrigens gibt es manche, die davon überzeugt scheinen, dass tatsächlich am 21.12. die Welt untergeht und sich trotzdem um ihre Rente sorgen.
Aber gehört nicht die Erwartung des Weltuntergangs und des Kommens Jesu Christi zum Jüngsten Gericht zu den Erwartungen unseres christlichen Glaubens? Ist nicht das Buch der Offenbarung eine manchmal beängstigende Schilderung der Ereignisse am Ende der Welt? Und lassen sich nicht manche Dinge beobachten, die an die Geschehnisse erinnern, die in der Offenbarung geschildert werden - Abfall vom Glauben, Naturkatastrophen, Kriege, Terror und Gewalt? Auch in christlichen Kreisen hat es immer wieder Spekulationen über das Weltende gegeben und Menschen haben historische Ereignisse als Zeichen der Endzeit interpretiert. Ich will und kann hier nur zu allergrösster Vorsicht und Zurückhaltung mahnen. Das Buch der Offenbarung ist keine realistische Schilderung irgendwelcher Ereignisse am Ende der Weltgeschichte, keine Weissagung zukünftiger Ereignisse, die irgendwann genau so eintreffen werden. Es nimmt apokalyptische Vorstellungen auf, um den Erfahrungen der Bedrängnis und Verfolgung, in der die christlichen Gemeinden in Kleinasien in dieser Zeit stehen, einen Sinn zu geben. Es ist eine Zeit der Bewährung und diese Zeit ist begrenzt. Ihr müsst die Hoffnung nicht aufgeben, denn unser Herr kommt gewiss. Gewalt und Verfolgung, das herrschende Unrecht - sie haben nicht das letzte Wort. Das ist die Botschaft der Offenbarung für die Christen Kleinasiens. Der Verfasser der Offenbarung hat die Ereignisse seiner Gegenwart als Zeichen der Endzeit verstanden und mit einem baldigen Weltende gerechnet. Diese Erwartung hat sich in dieser Form nicht bewahrheitet und wir können und müssen diese apokalyptische Vorstellungswelt nicht teilen, um Christinnen und Christen zu sein.
Auch der Abschnitt aus dem Markusevangelium, den wir in der Schriftlesung gehört haben, teilt diese apokalyptische Vorstellungswelt und auch der Evangelist erwartet das Weltende noch zu seinen Lebzeiten. Auch hier gilt: nicht die apokalyptische Vorstellungswelt und das erwartete baldige Weltende sind entscheidend für den christlichen Glauben. Worauf es in meinen Augen in diesem Text ankommt und was die bleibende christliche Botschaft ist, das ist die Erinnerung daran, dass wir weder den Tag noch die Stunde kennen und die Aufforderung zur Wachsamkeit. Wachsamkeit heisst aber nun nicht, irgendwie doch die Zeichen des vermeintlich nahenden Weltendes lesen und interpretieren zu wollen. Wachsamkeit heisst vielmehr: bereit sein, für unser Leben Verantwortung zu übernehmen. Die bodenständige Lebensweisheit eines Bauern aus unserer Gemeinde - oder genauer gesagt seiner längst verstorbenen Mutter - wird diesem Text mehr gerecht als jede noch so tiefe Spekulation über das Weltende. Er sagte mir einmal, dass er von seiner Mutter gelernt habe, sich jeden Tag darum zu bemühen, mit seinen Mitmenschen im Frieden zu leben und seinen Zorn nicht mit in den Schlaf zu nehmen, weil man nie wissen könne, ob man den nächsten Tag noch gemeinsam erlebe. Es ist dieses Bewusstsein der Endlichkeit und unserer Verantwortung, die wir gegenüber unserem Leben, den Mitmenschen und letztlich gegenüber unserem Schöpfer haben, um die es geht.
Viele reden vom Weltuntergang - wir reden vom Leben. Als Christinnen und Christen sollen wir vom Leben reden, vom Geschenk des Lebens, von der Verantwortung, die wir für unser Leben tragen und davon, dass wir im Leben und im Sterben in Gottes Hand sind. Luther’s berühmter Satz, dass er, wenn er wüsste, dass morgen die Welt unterginge, er heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen würde, ist Ausdruck dieser Hinwendung zum Leben. Spekuliert nicht über die Endzeit, sondern setzt Zeichen der Hoffnung. Spekuliert nicht über das Jenseits, sondern wendet euch dem Leben Hier und Jetzt zu. Aber tut es nicht so, als ob nach euch die Sintflut käme, sondern im Wissen darum, dass ihr in diesem Leben eine Berufung, einen Auftrag habt und dass dieses Leben nur dann Sinn macht, wenn ihr eurer Berufung nachlebt. Jeder und jede von uns hat seine eigene Berufung. Sie zu erkennen, ist ein lebenslanger Prozess, ein Prozess mit Wandlungen und Häutungen, auch mit Irrwegen und Zeiten der Verunsicherung. Dieses Leben ist ein Geschenk und in einem Geschenk ist der Schenkende selbst präsent. Entsprechend sorgfältig und achtsam sollen wir mit dem uns Anvertrauten umgehen - mit unserem eigenen Leben, mit unseren Mitmenschen und mit der ganzen Schöpfung.
Auf Endzeitspekulationen - ob sie nun aus dem Mayakalender oder aus der Bibel abgeleitet werden - sollten wir verzichten. Hier gilt: Ihr wisset weder Tag noch Stunde. Wo wir erkennen, dass wir selbst unser Leben und unseren Planeten gefährden - durch unseren Umgang mit den natürlichen Ressourcen, durch die Anhäufung tödlicher Waffen oder dadurch, dass wir durch die ungerechte Verteilung der Mittel bedrohliches Konfliktpotential schaffen, da haben wir nicht Zeichen der Endzeit zu erkennen, sondern Zeichen dafür, unser Handeln zu ändern. Und dasselbe gilt auch für die Ressourcen an Mitgefühl, an Liebe, an Zeit füreinander.
Die Wachsamkeit, zu der wir aufgefordert sind, sie ist weniger Wachsamkeit für die Vorboten einer Endzeit, sondern vielmehr Wachsamkeit für das, was uns hier und heute begegnet, für die Menschen um uns, für die Aufgaben, die jetzt zu tun sind, für die Zeichen der Hoffnung, die uns am Wegrand begegnen, für die Gelegenheiten zur Liebe, zur Begegnung und zur Versöhnung. Und mindestens ebenso sehr, wie wir auf das Kommen Christi am Ende der Zeiten hoffen, sollen wir achtsam sein für das Kommen Christi mitten in diesem Leben. Denn darauf dürfen wir vertrauen, dass Christus jeden Tag neu auf uns zukommt - in den Menschen, die uns begegnen, in Momenten innerer Gewissheit und Ruhe, in Worten die uns Kraft und Lebensmut geben, in den Erfahrungen des Getragen- und Geliebtseins, im Aufleuchten der Kostbarkeit des Lebens. Es sind diese alltäglichen Zeichen, auf die wir achten und für die wir wachsam sein sollen, damit wir bereit sind für das, was bereits jetzt auf uns zukommt. Und festhalten sollen wir an dem Vertrauen, dass das Ende unserer Zeit und das Ende der Weltzeit nicht das Ende der Möglichkeiten Gottes ist. Das ist der Kern der Verheissung der Wiederkunft Christi und der Schaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde. Wir werden immer wieder Angst haben, angesichts der Sorgen unseres eigenen Lebens und angesichts von Entwicklungen, die uns bedrohlich erscheinen. Aber da ist einer, der bei uns ist in unseren Ängsten und der sie von uns nehmen kann. Wenn wir auf ihn vertrauen, werden wir frei, uns dem Leben und den Menschen zuzuwenden, finden wir zu innerer Ruhe und Gelassenheit und können wachsam sein für das, was Gott uns an Möglichkeiten schenkt.
Predigt über Jesaja 12,1-6 am 6. Mai 2012
Liebe Gemeinde!
Wenn es uns gut geht und wir glücklich sind, dann singt es sich leicht, dann wird vielen Menschen die Freude zum Lied, zu einer fröhlichen Melodie. Aber wenn es nichts zu lachen gibt, wenn trübe Gedanken unsere Seele belasten, wenn Not und Trauer unser Leben verdunkeln? Dann ist vielen von uns nicht zum Singen zumute. Aber käme es nicht gerade in solch schweren und dunklen Zeiten unseres Lebens darauf an, dass wir wieder ein neues, ein besseres Lied singen können als das ewige Lied des Jammerns und Klagens – oder uns hineinbegeben in die Gemeinschaft derer, die Lob- und Danklieder singen können? Ich denke, die Kraft der biblischen Botschaft hat nicht zuletzt etwas damit zu tun, dass hier auch im tiefsten Dunkel das Lob Gottes nicht verstummt. Gerade die Psalmen, dieses Gesangbuch der Bibel macht uns das immer wieder bewusst. Wie tief das Dunkel auch sein mag, wie sehr die Beterinnen und Beter in ihrer Not auch am Rande der Verzweiflung sind, vielleicht gar erfüllt von tiefen Hass- und Rachegefühlen – immer münden die Psalmen am Ende in eine andere Melodie, eine Melodie, die Gott preist für seine Güte und ihn zugleich bittet, ja geradezu beschwört, sein Angesicht wieder zuzuwenden, das eigene Schicksal zu wenden.
Auch unser heutiger Predigttext ist ein solches Loblied in dunkler Zeit:
Lesung Jes 12
Ein wahrhaft kühner Vorgriff auf eine glückliche und heilvolle Zukunft ist dieses Danklied der Erlösten aus dem Jes – ein kühner Vorgriff in der dunkelsten Stunde des Volkes Israel. Wo die meisten ihr trauriges Schicksal beweinen und Mut und Hoffnungslosigkeit sich breit machen, wagt da einer ein neues Lied anzustimmen, nicht schicksalsergeben oder hadernd, sondern hoffnungsvoll und zuversichtlich.
Israel befindet sich in der babylonischen Gefangenschaft. Wird es je wieder eine glückliche Zukunft, eine Rückkehr in die Heimat geben? War das bittere Exil die gerechte Strafe Gottes, weil die Israeliten so oft von den Weisungen und Wegen ihres Gottes abgewichen waren? Oder war es vielmehr der Beweis der Ohnmacht dieses Gottes? Haben wir es nicht besser verdient oder hat Gott uns im Stich gelassen? Der Verfasser unseres Predigttextes findet sich nicht ab mit dieser trostlosen Alternative. Er kennt die alten Worte des Propheten Jesaja, die etwa 150 Jahre früher gesprochen wurden. Er weiss wie sehr der Prophet sein Volk gewarnt hat, sich nicht allein auf eigene Macht und Stärke zu verlassen, sondern den Weisungen seines Gottes zu folgen. Hat er nicht angeprangert, wie die Grossen und Mächtigen die Armen und Kleinen bedrücken? Hat er sie nicht gewarnt vor dem Vertrauen auf militärische Stärke und sie dazu aufgerufen den Weg des Glaubens, des Friedens und der Gerechtigkeit zu gehen? Ja, das Exil ist wohl wirklich die logische Konsequenz der Irrwege seines Volkes. Und doch ist es für ihn nicht das Ende der Wege Gottes. Denn er weiss auch um Gottes Verheissungen, um seine Treue und Verlässlichkeit. Und so schreibt er die alten Prophetenworte fort und stimmt ein neues Lied an, schreibt und singt an gegen die Resignation und Hoffnungslosigkeit. Er wagt es, von einer Zeit zu reden, in der die Menschen zuversichtlich ans Werk gehen, mit Freuden Wasser schöpfen und erkennen, dass Gott mit ihnen geht. Die Zeit der Vorwürfe, der Anklagen und des Selbstmitleids ist vorbei. Jetzt gilt es, über die gegenwärtige Misere hinauszuschauen und wieder zu träumen von einer guten und heilvollen Zukunft. Erst wenn wir das wieder wagen, kann es auch gelingen, phantasievoll und zuversichtlich vorwärts zu gehen und neue Energien zu entwickeln. Nicht, weil wir Träumer oder billige Optimisten sind, sondern weil wir die Verheissungen unseres Gottes haben.
Singt dem Herrn ein neues Lied – diese Aufforderung steht über dem Sonntag Kantate. Sie ist eine Einladung, das Lob Gottes auch dann nicht verstummen zu lassen, wenn die Erfahrungen unseres Lebens uns ein solches Lob nicht unbedingt nahe legen. Gerade in dunklen Zeiten ist es wichtig für uns, dass wir in den Raum des Gotteslobs eintreten können. Ich habe das ganz bewusst so formuliert. Denn Gott zu loben in schwerer Zeit, das ist mehr als wir eigentlich können. Wenn wir bei einer Trauerfeier, bei der der Abschied fast nicht auszuhalten ist, die Worte Dietrich Bonhoeffers singen: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag“, dann können wir das wohl nur, weil wir uns diese Worte leihen dürfen und sie nicht selber finden müssen. Und ich denke, dass es leichter ist, diese zu singen, als sie einfach zu sprechen. Dieses Lied ist wie ein Raum, in den wir eintreten dürfen, der einfach da ist für uns. Wenn wir dieses Lied singen, dann probieren wir aus, wie das ist, sich in diesem Raum zu bewegen. Und vielleicht können wir ein wenig heimisch darin werden, uns darin bergen in unserer Trauer und spüren, dass da noch eine Kraft ist, die über unsere Trauer hinausweist.
Manche von ihnen haben wohl auch schon die Erfahrung gemacht, wie sich ein tiefer Friede ausbreiten kann, wenn sie am Bett eines schwer kranken oder sterbenden Menschen ein Lied gesungen haben. Oder es ist für mich immer wieder beeindruckend, wie sich das Gesicht eines Menschen verändern kann, wenn ich mit ihm oder für ihn die Worte des 23. Psalms spreche. Und ich denke daran, wie viel gerade älteren Menschen das Lied „So nimm denn meine Hände bedeutet“ – und nicht nur den besonders Frommen. Viele Menschen spüren, dass solche Worte und vor allem solche Lieder ein Raum sind, in dem sie sich bergen können. Sie sind uns geschenkt und wir müssen sie nicht erst machen. Aber entdecken müssen wir diese Räume und wir müssen es wagen, in sie einzutreten. Es sind einladende Räume und niemand darf hineingezwungen werden. Zum Glauben und zum Gottvertrauen kann niemand aufgefordert werden. Das ist nichts was wir machen oder erzwingen können. Und es kann vielleicht besser sein, anderen erst einmal beim Singen zuzuhören, wahrzunehmen wie das tönt und wie die Töne und die Worte in mir anklingen. Aber es ist wichtig für uns, dass wir wissen: wir dürfen die Worte und Melodien ausprobieren. Es kommt nicht darauf an, dass wir jedes einzelne aus vollem Herzen mitsprechen und mitsingen können. Ich möchte sie viel eher einladen, die alten Worte und Melodien einfach einmal auszuprobieren. Das mag durchaus in der Haltung sein: Wie wäre das, wenn wir wirklich von guten Mächten wunderbar geborgen wären – auch wenn ich das momentan kaum glauben kann. Wie wäre das, wenn ich tatsächlich mit Freuden Wasser schöpfen dürfte aus den Quellen der Rettung, auch wenn ich um mich nur Wüste sehe. Ich stelle mir einmal vor, dass da einer ist, der sich um mich sorgt, damit ich keinen Mangel leide und der meinen Tisch reichlich füllt.
Vielleicht denken sie jetzt, dass das alles ein bisschen wenig ist und dass uns das alles und viel mehr in der Bibel zugesagt ist und wir das nicht nur ausprobieren, sondern wirklich glauben sollen. Das stimmt natürlich. Trotzdem denke ich, dass Messlatten und feste Vorschriften im Glauben nicht weiterhelfen. Deshalb möchte ich zum Ausprobieren einladen. Deshalb ist mir das Bild von den Worten und Melodien, die wir uns leihen können, von den Räumen, die wir betreten dürfen so wichtig. Ich denke, dass es Menschen leichter fällt, sich auf den Glauben einzulassen, wenn sie wissen, dass sie nicht dieses oder jenes glauben müssen, sondern ihnen auch Räume fremd bleiben dürfen und sie sich auch eingestehen dürfen, dass ihnen Glaubenssätze und Hoffnungen anderer im Moment fremd bleiben und nicht zugänglich sind. Vielleicht sind es ja Räume, Melodien und Worte, die ihnen zu einer anderen Zeit ihres Lebens wichtig werden. Solche Offenheit und Experimentierfreude wünsche ich mir für unseren Glauben.
Dann können wir auch die Einladung unseres Predigttextes hören, unserem Gott Loblieder zu singen, weil wir nicht vergessen, wie viel Gutes er uns bis hierher getan hat und weil wir glauben, dass er uns auch durch das Dunkel begleitet und unser Dunkel wieder hell machen kann. Mit den Worten unseres Predigtliedes:
„Sollt ich meinem Gott nicht singen! Sollt ich ihm nicht dankbar sein?
Denn ich seh in allen Dingen, wie so gut er’s mit mir mein.
Ist doch nichts als lauter Lieben, das sein treues Herz bewegt,
das ohn Ende hebt und trägt, die in seinem Dienst sich üben.
Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit.“ Amen.
Sonntag, 29. April 2012
Predigt über 2. Kor 4,16-18 am 29. April 2012
Liebe Gemeinde,
„Darum verzagen wir nicht“ oder in der Luther-Übersetzung: „darum werden wir nicht müde“ - es ist eine starke Behauptung des Paulus, mit der unser heutiger Predigttext beginnt. Hat dieser Paulus denn gar keine Ahnung von all den vielen Dingen, die uns so oft müde und verzagt machen?
Manche von uns könnten wohl ein Lied davon singen, dass das Leben uns manchmal ganz schön müde und verzagt machen kann. Mütter und Väter, die versuchen Familie, Beruf, Hobbies und Freundschaften irgendwie zu vereinbaren und es in allen Bereichen möglichst gut machen wollen und darunter leiden, dass sie immer wieder an Grenzen stossen, merken, dass vieles zu kurz kommt und das Gefühl haben, nicht allem gerecht werden zu können. Manch einer und manch eine erlebt heute den Alltag wie einen Hochseilakt, bei dem man jederzeit aus der Balance geraten und abstürzen kann. Und manch einer verliert auch sein Gleichgewicht und stürzt.
Es kann müde und verzagt machen, wenn man immer wieder äusseren Anforderungen gerecht werden will, ob sie nun von der Familie kommen, von Modetrends, von dem, was MAN tut, von Vorgesetzten im Beruf oder von dem, was wir selber für nötig halten und irgendwann vor der Frage steht, welchen Sinn das alles macht. Und manch einen macht es auch müde, immer wieder nach aussen als ein Anderer erscheinen zu müssen, als der für den er sich selber hält, scheinbar verbergen zu müssen, wie einem wirklich zumute ist. „Wir spielen alle Theater“ heisst ein Buch, das im englischen Original schon vor über 50 Jahren erschienen ist und dessen Titel vermutlich heute mehr denn je seine Gültigkeit hat. Wie viele Menschen sind ständig bemüht, ihr Image aufrechtzuerhalten und zahlen dafür einen hohen Preis, weil sie innerlich immer einsamer werden.
Es kann müde und verzagt machen, wenn einem das, worauf man gebaut hat, genommen wird oder unter den Händen zerrinnt - weil vielleicht ein lieber Mensch stirbt, eine Partnerschaft oder eine ganz wichtige Freundschaft zerbricht oder auch einfach nur das, woran man bisher geglaubt hat, plötzlich fraglich wird.
Und manche macht es auch müde und verzagt, wenn sie spüren, wie die körperlichen Kräfte oder die geistigen Fähigkeiten allmählich abnehmen und die Spuren des Alters sich zeigen, Krankheiten und Gebrechen häufiger werden und vielleicht eines nach dem anderen kommt und manchmal kaum Zeit bleibt, wieder einmal Lebensmut und Zuversicht zu entwickeln.
„Darum verzagen wir nicht“, „darum werden wir nicht müde“ - es ist wirklich eine starke und gar nicht selbstverständliche Behauptung, die Paulus da macht. Seine Begründung mag auf den ersten Blick einleuchten, aber sie löst auch wieder Fragen aus: „Wenn auch unser äusserer Mensch verbraucht wird, so wird doch unser innerer Mensch von Tag zu Tag erneuert.“ Dass unsere Kräfte mit dem Älterwerden abnehmen, das ist eine Erfahrung, die wir alle teilen. Aber wird der innere Mensch automatisch von Tag zu Tag erneuert? Und sind wir heute nicht oft viel mehr damit beschäftigt, den Verbrauch und Verfall des äusseren Menschen aufzuhalten als damit, den inneren Menschen zu erneuern? Und stimmt diese einfache Gegenüberstellung von äusserem und innerem Menschen überhaupt? Zumindest würde ich dieser einfachen Gegenüberstellung gerne einen Satz der Theresa von Avila entgegenhalten: „Tu deinem Leib etwas Gutes, damit deine Seele Lust hat, darin zu wohnen.“ Es stimmt eben nicht, dass es auf das Äussere und Sichtbare nicht ankommt und dass wir uns nur um das Innere und Unsichtbare zu kümmern hätten. Wenn wir unserem Körper etwas Gutes tun, uns um unser äusserliches Wohlbefinden kümmern, dann sind das keine unnötigen Nebensächlichkeiten, sondern es kann durchaus eine Art sein, wie wir unsere Dankbarkeit dafür zeigen, dass Gott uns - um mit Paulus zu sprechen - dieses irdische Gefäss geschenkt hat, damit wir so Sorge dazu tragen, dass unsere Seele Lust hat, darin zu wohnen.
Trotzdem macht Paulus uns auf etwas Wichtiges aufmerksam. Es kommt auf die Erneuerung unseres inneren Menschen an. Auch Paulus weiss sehr wohl darum, wie sehr einem das Leben manchmal müde machen kann. Er hat erfahren, wie manches, was er aufgebaut hat, wieder in Frage gestellt wurde - gerade in der korinthischen Gemeinde. Er hat erlebt, wie sein ganzes bisheriges Leben auf einmal seinen Sinn und seinen Wert verloren hat, weil er als Verfolger der christlichen Gemeinde mit Eifer einen Irrweg verfolgt hatte. Sein Weg als Apostel und Gemeindegründer war mit kräfteraubenden Reisen und Entbehrungen, mit Anfeindungen und Misserfolgen, zeitweise mit Gefangenschaft verbunden. Und zu alledem musste er als Stotterer Spott ertragen und wurde immer wieder von epileptischen Anfällen geplagt.
Für ihn war es wichtig auf das Unsichbare zu schauen und nicht nur auf das Sichtbare. Seine Leiden und Entbehrungen verloren für ihn an Gewicht und Bedeutung, weil er sie im Lichte der Leiden Christi und mit der Hoffnung auf die unendliche Fülle sehen konnte, die Christus verheissen hat. Das war sein innerer Kompass, daran richtete er seinen inneren Menschen aus. Sich immer wieder in diesem Vertrauen zu bestärken, darin sieht Paulus die tägliche Erneuerung des inneren Menschen.
Für mich ist dieses Bild vom inneren Kompass hilfreich als Bild für das, was Paulus mit der Erneuerung des inneren Menschen meint. Einen inneren Kompass brauchen wir, damit wir in unserem Leben nicht die Richtung verlieren und uns immer wieder neu auf das Wesentliche konzentrieren können. Dazu brauchen wir nicht so sehr gute Ratschläge und Lebensweisheiten von der Stange, sondern viel eher die Ermutigung: nimm dir die Zeit und die Ruhe, darauf zu achten, was dir in deinem Leben wirklich wichtig ist. Stürze dich dabei nicht auf das Erstbeste und Naheliegende, sondern versuche weiter zu schauen. Vertraue auch nicht allein auf das Sichtbare, sondern schaue über das hinaus, was vor Augen liegt. Wo es uns geschenkt wird, „hinüber“ zu sehen, unser Leben gewissermassen mit den Augen Gottes zu sehen, als ein Leben, das in Gottes Hand steht, kann sich eine heitere Gelassenheit entwickeln, die uns hilft, nicht müde oder verzagt zu werden. Was ich damit meine, kann ich nicht schöner und treffender ausdrücken als in den Worten des Kabarettisten Hans-Dieter Hüsch:
Ich bin vergnügt, erlöst, befreit.
Gott nahm in seine Hände meine Zeit,
mein Fühlen, Denken, Hören, Sagen,
mein Triumphieren und Verzagen,
das Elend und die Zärtlichkeit.
Was macht, dass ich so fröhlich bin
in meinem kleinen Reich.
Ich sing und tanze her und hin
vom Kindbett bis zur Leich.
Was macht, dass ich so furchtlos bin
an vielen dunklen Tagen.
Es kommt ein Geist in meinen Sinn,
will mich durchs Leben tragen.
Was macht, dass ich so unbeschwert
und mich kein Trübsal hält,
weil mich mein Gott das Lachen lehrt
wohl über alle Welt.
Solch heitere Gelassenheit, weil wir darauf vertrauen dürfen, dass unser Leben in Gottes Hand steht, kann ein innerer Kompass für unser Leben sein. Und weil wir nicht alles von diesem Leben erwarten müssen und weil auch nicht alles auf uns ankommt, können wir hier und jetzt das uns Mögliche tun und uns immer wieder neu auf das Wesentliche konzentrieren. Das müssen keine grossen Dinge sein. Noch einmal möchte ich dazu Hanns Dieter Hüsch zitieren. Vor Jahren beendete er seine Auftritte mit einer kurzen Zugabe als Schlusspunkt:
Ich sah einen Mann
mit seiner Frau
Beide schon älter
Die Frau war blind
Der Mann konnte sehen
Er fütterte sie
Das ist alles
Hüsch schloss mit einem Gute Nacht. Ich mit einem Amen.
Sonntag, 8. April 2012
Predigt zu Joh 20,24-29 am Ostersonntag, 8. April 2012
Am Ostersonntag wird der Gottesdienst in unserer Kirchgemeinde als Gottesdienst für Klein und Gross gefeiert. Deshalb steht in der Regel eine Bilderbuchgeschichte im Zentrum. In diesem Jahr war es "Der Ostermorgen" von Regine Schindler. Für die Erwachsenen gibt es eine kurze Predigt, die im Folgenden zu lesen ist.
Christus ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden! Mit diesem Osterruf haben wir den Gottesdienst begonnen und die Geschichte von Regine Schindler hat uns davon erzählt. Die Ostergeschichte, die gute Nachricht von der Auferstehung Jesu Christi ist das Zentrum unseres Glaubens.
Aber geht es uns modernen Menschen nicht oft wie der biblischen Gestalt des Thomas? Von ihm erzählt das 20. Kap. des Joh: V. 24-29
Es lohnt sich, diese Geschichte ganz genau zu lesen. Thomas ist der exemplarische Skeptiker und Zweifler. Er sucht den eindeutigen Beweis für Jesu Auferstehung. Das Zeugnis seiner Gefährten reicht ihm nicht. Ja, nicht einmal, wenn er den Auferstandenen selbst sehen würde, wäre er überzeugt. Er will seine Hand in seine Wundmale legen, um ganz sicher zu sein. Und genau das bietet ihm der Auferstandene an. Verschafft Thomas sich nun den eindeutigen Beweis. Viele Darstellungen in der Kunstgeschichte scheinen davon überzeugt. Aber wenn wir genau lesen oder hinhören, dann heisst es da nur, das Thomas sagt: „Mein Herr und mein Gott!“ Und auch die Reaktion Jesu redet nur vom Sehen, nicht vom Berühren. Warum ist dieser Unterschied so wichtig? Weil er uns daran erinnert, dass wir der Auferstehungsbotschaft nur glauben können und die Suche nach eindeutigen, überzeugenden Beweisen an dieser Botschaft des Glaubens vorbeizielt.
Die Geschichte des Thomas führt uns haarscharf an die Grenze dessen, was der Glaube an die Auferstehung bedeutet. Er ist nicht ein blosses Führwahrhalten von etwas, das eigentlich widervernünftig ist, sondern das Vertrauen auf eine Wirklichkeit, die höher ist als alle Vernunft. Deshalb geht auch der innerchristliche Streit darum, ob man nun als Christ eine leibliche Auferstehung Jesu Christi für wahr halten muss oder nicht, letztlich am Kern dieser Botschaft vorbei. Ohne Zeichen, ohne Auferstehungserfahrungen hätten die Jüngerinnen und Jünger Jesu nicht glauben können, das Jesus wahrhaftig auferstanden ist. Sie haben Erfahrungen gemacht, die sie mit der inneren Gewissheit erfüllte, dass Jesus lebt. Aber sie haben keine eindeutigen Beweise erhalten. Und sie können und wollen uns auch nicht erklären wie und in welcher Gestalt Jesus auferstanden ist. Die Erfahrungen und Zeichen haben den Glauben in ihnen geweckt. An diesem Glauben haben sie festgehalten und ihn weitergetragen.
Jesus sagt zu Thomas: „Selig, die nicht mehr sehen und glauben!“ Das ist die Situation der Leserinnen und Leser des Joh - und es ist auch unsere Situation. Auch wenn wir nicht die Erfahrungen der Jünger machen, auch wenn wir nicht mehr sehen, so dürfen wir doch vertrauen auf die österliche Botschaft, denn wir haben das Wort der Zeuginnen und Zeugen. In unseren Herzen kann so die innere Gewissheit wachsen, dass das Dunkel und der Tod nicht das Ende ist, sondern neues Licht und Leben von Gott auf uns zukommt. Diese Gewissheit kann wachsen, wenn wir uns auf diesen Glauben einlassen und achtsam werden dafür, dass wir neue und wunderbare Anfänge schon in diesem Leben erfahren dürfen, Zeiten, in denen wir behütet und geführt werden, wiederaufgerichtet und zu neuem Leben erweckt. Im Licht von Ostern muss kein Mensch ohne Hoffnung leben, nicht hier in diesem Leben und auch dann nicht, wenn unser leben zuende geht. Das ist eine ermutigende und eine tröstliche Botschaft. In diesem Vertrauen dürfen wir uns immer wieder neu üben - mit Gottes Hilfe. Amen.
Christus ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden! Mit diesem Osterruf haben wir den Gottesdienst begonnen und die Geschichte von Regine Schindler hat uns davon erzählt. Die Ostergeschichte, die gute Nachricht von der Auferstehung Jesu Christi ist das Zentrum unseres Glaubens.
Aber geht es uns modernen Menschen nicht oft wie der biblischen Gestalt des Thomas? Von ihm erzählt das 20. Kap. des Joh: V. 24-29
Es lohnt sich, diese Geschichte ganz genau zu lesen. Thomas ist der exemplarische Skeptiker und Zweifler. Er sucht den eindeutigen Beweis für Jesu Auferstehung. Das Zeugnis seiner Gefährten reicht ihm nicht. Ja, nicht einmal, wenn er den Auferstandenen selbst sehen würde, wäre er überzeugt. Er will seine Hand in seine Wundmale legen, um ganz sicher zu sein. Und genau das bietet ihm der Auferstandene an. Verschafft Thomas sich nun den eindeutigen Beweis. Viele Darstellungen in der Kunstgeschichte scheinen davon überzeugt. Aber wenn wir genau lesen oder hinhören, dann heisst es da nur, das Thomas sagt: „Mein Herr und mein Gott!“ Und auch die Reaktion Jesu redet nur vom Sehen, nicht vom Berühren. Warum ist dieser Unterschied so wichtig? Weil er uns daran erinnert, dass wir der Auferstehungsbotschaft nur glauben können und die Suche nach eindeutigen, überzeugenden Beweisen an dieser Botschaft des Glaubens vorbeizielt.
Die Geschichte des Thomas führt uns haarscharf an die Grenze dessen, was der Glaube an die Auferstehung bedeutet. Er ist nicht ein blosses Führwahrhalten von etwas, das eigentlich widervernünftig ist, sondern das Vertrauen auf eine Wirklichkeit, die höher ist als alle Vernunft. Deshalb geht auch der innerchristliche Streit darum, ob man nun als Christ eine leibliche Auferstehung Jesu Christi für wahr halten muss oder nicht, letztlich am Kern dieser Botschaft vorbei. Ohne Zeichen, ohne Auferstehungserfahrungen hätten die Jüngerinnen und Jünger Jesu nicht glauben können, das Jesus wahrhaftig auferstanden ist. Sie haben Erfahrungen gemacht, die sie mit der inneren Gewissheit erfüllte, dass Jesus lebt. Aber sie haben keine eindeutigen Beweise erhalten. Und sie können und wollen uns auch nicht erklären wie und in welcher Gestalt Jesus auferstanden ist. Die Erfahrungen und Zeichen haben den Glauben in ihnen geweckt. An diesem Glauben haben sie festgehalten und ihn weitergetragen.
Jesus sagt zu Thomas: „Selig, die nicht mehr sehen und glauben!“ Das ist die Situation der Leserinnen und Leser des Joh - und es ist auch unsere Situation. Auch wenn wir nicht die Erfahrungen der Jünger machen, auch wenn wir nicht mehr sehen, so dürfen wir doch vertrauen auf die österliche Botschaft, denn wir haben das Wort der Zeuginnen und Zeugen. In unseren Herzen kann so die innere Gewissheit wachsen, dass das Dunkel und der Tod nicht das Ende ist, sondern neues Licht und Leben von Gott auf uns zukommt. Diese Gewissheit kann wachsen, wenn wir uns auf diesen Glauben einlassen und achtsam werden dafür, dass wir neue und wunderbare Anfänge schon in diesem Leben erfahren dürfen, Zeiten, in denen wir behütet und geführt werden, wiederaufgerichtet und zu neuem Leben erweckt. Im Licht von Ostern muss kein Mensch ohne Hoffnung leben, nicht hier in diesem Leben und auch dann nicht, wenn unser leben zuende geht. Das ist eine ermutigende und eine tröstliche Botschaft. In diesem Vertrauen dürfen wir uns immer wieder neu üben - mit Gottes Hilfe. Amen.
Predigt zur Passionsgeschichte nach Lukas am Karfreitag, 6. April 2012
Liebe Gemeinde,
früher galt der Karfreitag als der wichtigste protestantische Feiertag. Das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, war an diesem Tag wie erstorben. Kein lauter Ton war zu hören. Das Leben stand gewissermassen still. Auch der Gottesdienst gehörte für viele selbstverständlich dazu. Auch heute noch ist der Karfreitag ruhiger als andere Tage. Sportveranstaltungen und viele andere Wochenendaktivitäten ruhen. Aber immer mehr wird gefragt, ob solche Schutzbestimmungen für den Karfreitag noch Sinn machen, wo doch so vielen gar nicht mehr richtig bewusst ist, was der Karfreitag eigentlich bedeutet
Es geht mir nicht darum, über den allgemeinen Kulturverfall oder den Schwund christlichen Bewusstseins zu jammern. Die traditionelle Passionsfrömmigkeit macht ja auch vielen, die mit Ernst Christen sein wollen, durchaus Mühe. „Was du, Herr, hast erduldet, ist alles meine Last. Ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast.“ Wohl manch einer von uns – und ich schliesse mich ausdrücklich ein – hat Mühe, solche Aussagen heute noch wirklich zu verstehen. Für viele Menschen sind sie einfach sinnlos geworden.
Worauf es mir ankommt ist, dass die Passionsvergessenheit eine Verdrängung und einen Verlust zum Ausdruck bringt. Wir verdrängen Leid und Dunkel, Schuld und Versagen und wir verlieren das Gespür dafür, dass in dem Drama des Karfreitags etwas geschieht, das uns zugute kommt und uns hilft menschlicher zu leben, das Dunkel anzunehmen, weil Jesus es geteilt hat, Schuld und Versagen zu ertragen, weil er sie uns abgenommen hat.
Wenn wir ganz einfach die Passionsgeschichte lesen oder hören und sie meditieren, dann begegnen wir Menschen, die an ihre Grenzen stossen, die versagen, die mitschuldig werden aus Schwäche oder aus Kalkül. Wir begegnen aber auch Menschen, die schlicht menschlich handeln und das Nahe liegende tun. Auf diese Menschen möchte ich heute den Blick richten und mich an ihre Seite stellen. Mag sein, dass wir in manchen von ihnen uns wieder finden können. Was mich an der biblischen Passionsgeschichte des Lukas berührt, das ist ihre Nüchternheit. Da wird nichts beschönigt. Und zugleich ihre Barmherzigkeit, die Botschaft der Vergebung, die über allem steht.
Am Anfang steht ein Verrat. Über die Motive des Judas erfahren wir wenig. Im Lukasevangelium heisst es, der Satan sei in ihn gefahren. Historiker vermuten aufgrund seines Namens, er sei Anhänger einer gewaltsamen Widerstandsbewegung gegen die römische Herrschaft gewesen und von Jesu Gewaltfreiheit und Duldsamkeit enttäuscht.
Als Jesus im Angesicht seines Todes im Garten Gethsemane betet, übermannt seine Jünger der Schlaf. Der Schlaf, die bleierne Müdigkeit – sie ist Ausdruck dafür, dass die Jünger dem, was da geschieht, nicht gewachsen sind. Es ist einfach zu viel. Sie wissen nur zu gut, dass sie jetzt gebraucht würden. Aber sie sind wie gelähmt. Ich denke, dass wir durchaus in unserem eigenen Leben ähnlich Erfahrungen machen. Wichtig ist für mich, dass Jesus die Jünger aufrüttelt, aber dass er sie nicht verdammt. Seine Worte sind eher liebevoll und voller Mitgefühl.
In Petrus begegnen uns menschliche Angst und Feigheit. Dreimal verleugnet er, dass er einer der Gefährten Jesu ist. Er ist in dieser Geschichte alles andere als ein Fels. Er hat schlicht und einfach Angst. Er will sich nicht exponieren, möglichst unsichtbar bleiben. Auch in solcher Angst und Feigheit können wir vielleicht ein Stück von uns selber erkennen. Nicht nur da, wo es darum ginge, uns zu unserem Glauben zu bekennen, das auch. Aber auch da, wo es darum ginge, ein klares Wort zu sagen, ein eindeutiges Ja oder Nein, z.B. wenn Menschen verspottet, ausgegrenzt, als schwarze Schafe abgestempelt werden. Oder da, wo es darauf ankäme, den Leuten nicht nach dem Mund zu reden oder auch für jemanden in die Bresche zu springen und ihn in Schutz zu nehmen. Als der Hahn kräht, verdrängt oder rechtfertigt Petrus sein Versagen nicht, sondern er weint.
Pilatus ist das Bild eines Mächtigen, der es allen recht machen will und vor allem seine eigene Position nicht gefährden will. Er opfert einen Unschuldigen. Schnell bemerkt er die Stimmung, kalkuliert die Wirkung eines Freispruchs, wenn man sich beim Kaiser beschweren würde und überlässt Jesus seinem Schicksal. Es ist leicht, auf Pilatus zu zeigen, dieses Musterbeispiel eines Politikers ohne Rückgrat. Aber vielleicht ist es gut, wenn wir uns einen Moment an seine Seite zu stellen. Wer jemals in einer Entscheidungsposition war, der weiss, wie gross die Versuchung ist, die Stimmung auszuloten und mit dem Wind zu segeln und wie schwer es ist, Rückgrat zu zeigen und ein klares Wort zu sagen, für die eignen Überzeugungen einzustehen, erst recht, wenn man keine klaren Überzeugungen hat.
Oder denken sie an die aufgeheizte Volksmenge, die brüllt: „Kreuzige ihn!“. Diese Szene gehört für mich zu den beklemmendsten der Passionsgeschichte. Weil sie in den Kampagnen in Politik und Medien allgegenwärtig ist und weil die Bereitschaft so vieler, mitzubrüllen, zu verurteilen und zu verdammen, immer wieder erschreckend ist.
Erschreckend auch das Verhalten der Soldaten, die den Gefangenen misshandeln und verspotten. Noch dann, als er schon am Kreuz hängt, verspotten sie ihn und die Leute schauen zu. Auch dafür finden sich unschwer Beispiele aus unserer Zeit.
Und dann sind da am Kreuz die beiden Mitverurteilten. Der eine der beiden flüchtet sich in Zynismus und Spott. Der andere aber sucht seine Zuflucht bei Jesus. Er nimmt sein Schicksal an und setzt seine Hoffnung auf Gott.
Am Ende ist da noch der römische Hauptmann, der nicht einfach seinen Job tut, sondern sich berühren und bewegen lässt von dem, was er erfährt. Ganz schlicht stellt er fest: Dieser ist ein frommer Mensch gewesen.
Wenn wir die Passionsgeschichte meditieren, dann begegnen wir auf Schritt und Tritt Menschen, die angesichts des Leidens Jesu schwach sind, die an ihre Grenzen kommen und versagen. Und erst wenn wir uns einen Moment solidarisch an ihre Seite stellen, erkennen wir, dass wir Menschen so eben auch sind – nicht nur hilfreich, edel und gut, sondern mit Grenzen, Schuld und Versagen. Und die Passionsgeschichte kann uns helfen, diese Seiten an uns selber wahrzunehmen und sie anzunehmen, damit wir sie nicht nur auf die anderen projizieren und bei uns selber verdrängen müssen. Und vor allem kann sie uns dazu helfen, weil sie eben diese menschlichen Seiten weder beschönigt noch verdammt und weil sie sie in das Licht göttlicher Gnade und Barmherzigkeit stellt. „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“ bittet Jesus für seine Peiniger. Und Petrus, der ihn verleugnet hat, wird später seine Botschaft weitertragen und mit ihm die anderen Jünger, die bei der Passion die Flucht ergriffen haben.
Jesus verurteilt nicht. er kann uns auch als schwache und versagende Menschen brauchen. Er tritt für uns ein. Wie gut, das zu wissen. In diesem Vertrauen können wir täglich den aufrechten Gang üben und wenn wir hinfallen, dürfen wir uns wieder aufrichten lassen. Wir müssen keine Helden sein, sondern Menschen, die mit Gottes Hilfe ganz alltäglich ihren Weg gehen und sich gerade darin immer wieder Gottes Gnade und Barmherzigkeit gefallen lassen und erfahren dürfen, dass Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist. In dieser Kraft dürfen wir Menschen sein, die füreinander eintreten, so wie Christus für uns alle eingetreten ist.
Amen.
früher galt der Karfreitag als der wichtigste protestantische Feiertag. Das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, war an diesem Tag wie erstorben. Kein lauter Ton war zu hören. Das Leben stand gewissermassen still. Auch der Gottesdienst gehörte für viele selbstverständlich dazu. Auch heute noch ist der Karfreitag ruhiger als andere Tage. Sportveranstaltungen und viele andere Wochenendaktivitäten ruhen. Aber immer mehr wird gefragt, ob solche Schutzbestimmungen für den Karfreitag noch Sinn machen, wo doch so vielen gar nicht mehr richtig bewusst ist, was der Karfreitag eigentlich bedeutet
Es geht mir nicht darum, über den allgemeinen Kulturverfall oder den Schwund christlichen Bewusstseins zu jammern. Die traditionelle Passionsfrömmigkeit macht ja auch vielen, die mit Ernst Christen sein wollen, durchaus Mühe. „Was du, Herr, hast erduldet, ist alles meine Last. Ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast.“ Wohl manch einer von uns – und ich schliesse mich ausdrücklich ein – hat Mühe, solche Aussagen heute noch wirklich zu verstehen. Für viele Menschen sind sie einfach sinnlos geworden.
Worauf es mir ankommt ist, dass die Passionsvergessenheit eine Verdrängung und einen Verlust zum Ausdruck bringt. Wir verdrängen Leid und Dunkel, Schuld und Versagen und wir verlieren das Gespür dafür, dass in dem Drama des Karfreitags etwas geschieht, das uns zugute kommt und uns hilft menschlicher zu leben, das Dunkel anzunehmen, weil Jesus es geteilt hat, Schuld und Versagen zu ertragen, weil er sie uns abgenommen hat.
Wenn wir ganz einfach die Passionsgeschichte lesen oder hören und sie meditieren, dann begegnen wir Menschen, die an ihre Grenzen stossen, die versagen, die mitschuldig werden aus Schwäche oder aus Kalkül. Wir begegnen aber auch Menschen, die schlicht menschlich handeln und das Nahe liegende tun. Auf diese Menschen möchte ich heute den Blick richten und mich an ihre Seite stellen. Mag sein, dass wir in manchen von ihnen uns wieder finden können. Was mich an der biblischen Passionsgeschichte des Lukas berührt, das ist ihre Nüchternheit. Da wird nichts beschönigt. Und zugleich ihre Barmherzigkeit, die Botschaft der Vergebung, die über allem steht.
Am Anfang steht ein Verrat. Über die Motive des Judas erfahren wir wenig. Im Lukasevangelium heisst es, der Satan sei in ihn gefahren. Historiker vermuten aufgrund seines Namens, er sei Anhänger einer gewaltsamen Widerstandsbewegung gegen die römische Herrschaft gewesen und von Jesu Gewaltfreiheit und Duldsamkeit enttäuscht.
Als Jesus im Angesicht seines Todes im Garten Gethsemane betet, übermannt seine Jünger der Schlaf. Der Schlaf, die bleierne Müdigkeit – sie ist Ausdruck dafür, dass die Jünger dem, was da geschieht, nicht gewachsen sind. Es ist einfach zu viel. Sie wissen nur zu gut, dass sie jetzt gebraucht würden. Aber sie sind wie gelähmt. Ich denke, dass wir durchaus in unserem eigenen Leben ähnlich Erfahrungen machen. Wichtig ist für mich, dass Jesus die Jünger aufrüttelt, aber dass er sie nicht verdammt. Seine Worte sind eher liebevoll und voller Mitgefühl.
In Petrus begegnen uns menschliche Angst und Feigheit. Dreimal verleugnet er, dass er einer der Gefährten Jesu ist. Er ist in dieser Geschichte alles andere als ein Fels. Er hat schlicht und einfach Angst. Er will sich nicht exponieren, möglichst unsichtbar bleiben. Auch in solcher Angst und Feigheit können wir vielleicht ein Stück von uns selber erkennen. Nicht nur da, wo es darum ginge, uns zu unserem Glauben zu bekennen, das auch. Aber auch da, wo es darum ginge, ein klares Wort zu sagen, ein eindeutiges Ja oder Nein, z.B. wenn Menschen verspottet, ausgegrenzt, als schwarze Schafe abgestempelt werden. Oder da, wo es darauf ankäme, den Leuten nicht nach dem Mund zu reden oder auch für jemanden in die Bresche zu springen und ihn in Schutz zu nehmen. Als der Hahn kräht, verdrängt oder rechtfertigt Petrus sein Versagen nicht, sondern er weint.
Pilatus ist das Bild eines Mächtigen, der es allen recht machen will und vor allem seine eigene Position nicht gefährden will. Er opfert einen Unschuldigen. Schnell bemerkt er die Stimmung, kalkuliert die Wirkung eines Freispruchs, wenn man sich beim Kaiser beschweren würde und überlässt Jesus seinem Schicksal. Es ist leicht, auf Pilatus zu zeigen, dieses Musterbeispiel eines Politikers ohne Rückgrat. Aber vielleicht ist es gut, wenn wir uns einen Moment an seine Seite zu stellen. Wer jemals in einer Entscheidungsposition war, der weiss, wie gross die Versuchung ist, die Stimmung auszuloten und mit dem Wind zu segeln und wie schwer es ist, Rückgrat zu zeigen und ein klares Wort zu sagen, für die eignen Überzeugungen einzustehen, erst recht, wenn man keine klaren Überzeugungen hat.
Oder denken sie an die aufgeheizte Volksmenge, die brüllt: „Kreuzige ihn!“. Diese Szene gehört für mich zu den beklemmendsten der Passionsgeschichte. Weil sie in den Kampagnen in Politik und Medien allgegenwärtig ist und weil die Bereitschaft so vieler, mitzubrüllen, zu verurteilen und zu verdammen, immer wieder erschreckend ist.
Erschreckend auch das Verhalten der Soldaten, die den Gefangenen misshandeln und verspotten. Noch dann, als er schon am Kreuz hängt, verspotten sie ihn und die Leute schauen zu. Auch dafür finden sich unschwer Beispiele aus unserer Zeit.
Und dann sind da am Kreuz die beiden Mitverurteilten. Der eine der beiden flüchtet sich in Zynismus und Spott. Der andere aber sucht seine Zuflucht bei Jesus. Er nimmt sein Schicksal an und setzt seine Hoffnung auf Gott.
Am Ende ist da noch der römische Hauptmann, der nicht einfach seinen Job tut, sondern sich berühren und bewegen lässt von dem, was er erfährt. Ganz schlicht stellt er fest: Dieser ist ein frommer Mensch gewesen.
Wenn wir die Passionsgeschichte meditieren, dann begegnen wir auf Schritt und Tritt Menschen, die angesichts des Leidens Jesu schwach sind, die an ihre Grenzen kommen und versagen. Und erst wenn wir uns einen Moment solidarisch an ihre Seite stellen, erkennen wir, dass wir Menschen so eben auch sind – nicht nur hilfreich, edel und gut, sondern mit Grenzen, Schuld und Versagen. Und die Passionsgeschichte kann uns helfen, diese Seiten an uns selber wahrzunehmen und sie anzunehmen, damit wir sie nicht nur auf die anderen projizieren und bei uns selber verdrängen müssen. Und vor allem kann sie uns dazu helfen, weil sie eben diese menschlichen Seiten weder beschönigt noch verdammt und weil sie sie in das Licht göttlicher Gnade und Barmherzigkeit stellt. „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“ bittet Jesus für seine Peiniger. Und Petrus, der ihn verleugnet hat, wird später seine Botschaft weitertragen und mit ihm die anderen Jünger, die bei der Passion die Flucht ergriffen haben.
Jesus verurteilt nicht. er kann uns auch als schwache und versagende Menschen brauchen. Er tritt für uns ein. Wie gut, das zu wissen. In diesem Vertrauen können wir täglich den aufrechten Gang üben und wenn wir hinfallen, dürfen wir uns wieder aufrichten lassen. Wir müssen keine Helden sein, sondern Menschen, die mit Gottes Hilfe ganz alltäglich ihren Weg gehen und sich gerade darin immer wieder Gottes Gnade und Barmherzigkeit gefallen lassen und erfahren dürfen, dass Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist. In dieser Kraft dürfen wir Menschen sein, die füreinander eintreten, so wie Christus für uns alle eingetreten ist.
Amen.
Samstag, 25. Februar 2012
Predigt über Jesaja 5,1-7 vom 26. Februar 2012
Liebe Gemeinde,
dürfen wir uns Gott als einen enttäuschten und verletzten Liebhaber vorstellen? Unser Predigttext aus dem Buch des Propheten Jesaja ist ein Liebeslied, ein Lied, das von einer enttäuschten und verletzten Liebe singt. Es ist ein ungewohntes Gefäss, in das der Prophet seine Botschaft kleidet. Hätte er nicht einfach dem Volk die Leviten lesen können, den Menschen ihr Unrecht vorhalten? Ist Gott nicht der Herrscher und Richter, der sein Volk, seine Menschen souverän zur Rechenschaft ziehen könnte? Dass der Prophet seine Botschaft in die Gestalt eines Gleichnisses, eines Liebesliedes kleidet, ist nicht einfach eine originelle Verkleidung. Es ist die Botschaft selbst. Gott ist und bleibt der Liebende. So dramatisch am Ende unseres Predigttextes der verwüstete und preisgegebene Weinberg vor unseren Augen steht und der Vorwurf von Rechtsbruch und Schlechtigkeit im Raum – die Geschichte ist offen. Weil Gott der Liebende bleibt, weil er als Liebender und eben nicht als blinde Justitia auftritt, bleibt noch die Wut des enttäuschten Liebhabers ein Werben um seine Liebe, ein Werben Gottes um sein Volk und seine Menschen.
Eindrücklich singt uns der Prophet von seinem Freund, dem Weinbergbesitzer. Viel Zeit und Mühe hat er für seinen Weinberg aufgewendet. Wir sehen ihn richtig vor uns, wie er mit dem Werkzeug in der Hand seien Weinberg umgräbt, die Steine hinausschafft, edle Reben darin pflanzt, einen Turm baut und eine Kelter gräbt. Schweiss und Mühe gehört dazu. Und wir dürfen uns den Weinbergbesitzer vorstellen, wie er nach all der Arbeit erschöpft dasitzt und stolz und glücklich seinen Weinberg betrachtet. Nun wird er seine Früchte bringen. Er hegt und pflegt seinen Weinberg. Was hätte man noch tun können, das ich nicht getan habe? Aber der Weinberg bringt nichts als schlechte Trauben. Wie gross ist die Enttäuschung - und die Enttäuschung verwandelt sich in Wut.
Enttäuschte Liebe, vergebliche Liebesmüh. Vielleicht könnten manche von uns auch solche Geschichten erzählen, solche Lieder singen. Menschen, die sich um einen anderen Menschen bemüht haben, die überzeugt sind, ihr Bestes getan zu haben, die viel in ihre Liebe investiert haben und enttäuscht worden sind. Eltern, die ihren Kindern viel gegeben haben an Liebe und Zuwendung, an persönlichen Opfern und die sich plötzlich fragen: Wozu das alles? Was bekomme ich denn zurück. Oder auch Menschen, die sich einer Sache, einer Aufgabe verschrieben haben und ihre Zeit und ihre Kraft, ja, ihre ganze Liebe darin investiert haben und eines Tages sich fragen: Wo bleibt der Dank? Was bekomme ich zurück? Enttäuschte Liebe, verletzte Gefühle, der Eindruck: es war alles umsonst, vergebene Liebesmüh – vielleicht können wir das nachvollziehen. Menschen, die viel gegeben, die viel investiert haben und deren Liebe gross ist, die sind besonders verletzlich und sie können an den Punkt kommen, wo sie den Bettel hinschmeissen möchten, wo die Liebe die Gestalt der Wut und der Aggression annimmt. Ich habe das bewusst so formuliert. Jemand hat einmal gesagt: Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit. Das ist eine sehr weise Einsicht, denn wo Gleichgültigkeit herrscht, da hat die Liebe keinen Platz mehr. Die Wut und Aggression des Weinbergbesitzers, der seinen Weinberg der Verwüstung preisgeben will, sie ist und bleibt eine Gestalt seiner Liebe. Würde er es wirklich tun – er würde gewiss dasitzen und wie ein Schlosshund heulen. Es würde ihm das Herz brechen und wer weiss, ob er es nicht im selben Moment bereuen würde. Der aber, der gleichgültig geworden ist, der würde kalt lächelnd weitergehen – im Gefühl, dass es dem Weinberg ja nur recht geschieht. Ich glaube, wir können uns diesen entscheidenden Unterschied nicht genug bewusst machen. Wenn wir enttäuscht werden oder auch, wenn uns Wut und Enttäuschung entgegenschlägt, kann es ganz wichtig sein, wenn wir nicht vergessen, dass sie so etwas wie die Kehrseite der Liebe sind und nicht das Ende. Erst wo die Gleichgültigkeit Einzug hält ist die Liebe meist wirklich zu Ende.
Wie aber soll ein Mensch reagieren, dem so viel Wut und Enttäuschung vor die Füsse geworfen wird? Eine mögliche Reaktion – und vielleicht nicht die seltenste – ist es, resigniert aufzugeben. Das war’s dann wohl, es hat keinen Sinn mehr. Diese Reaktion sieht nur noch die Enttäuschung und Wut und nimmt sie nicht mehr als Gestalt der Liebe wahr. Dann bleibt nur noch das Zerstörerische und Hoffnungslose übrig. Auch im Glauben gibt es dieses Muster: Menschen, die Gott nur als den allmächtigen Richter sehen können, dessen wachsames Auge noch alles kontrolliert und dessen erhobener Zeigefinger allgegenwärtig ist. Und irgendwann bleibt ihnen nur noch die Befreiung, der Abschied von diesem Gott und sie merken gar nicht, dass es nur ein falsches Gottesbild ist, von dem sie Abschied nehmen.
Eine andere Reaktion ist es, die Gegenrechnung aufzumachen. Dieses Muster kommt in unseren Beziehungen oft vor. Und wie oft hast du mich enttäuscht, welche Fehler hast du gemacht? Wer ist Schuld? Und wer trägt mehr Schuld? Ich brauche nicht lange zu erklären, wie zerstörerisch dieses Muster ist, zumal ja in der Regel die objektiven Massstäbe fehlen, um Schuld zu beurteilen. So häufig diese Reaktion unter uns ist, so sehr fällt mir doch auf, dass sie im Glauben, in unserem Verhältnis zu Gott eigentlich unmöglich ist. Wer sich von Gott zur Rechenschaft gezogen weiss, spürt wohl intuitiv, dass er hier keine Gegenrechnung aufmachen kann und da wo Menschen Gott zur Rechenschaft ziehen, klagen und ihn anklagen, da kommen sie zu ihm mit ihren Zweifeln und Fragen angesichts von Not und Elend in der Welt, von Ungerechtigkeit und Leid oder weil sie in ihrem persönlichen Schicksal nichts mehr spüren von der Gegenwart eines liebenden Gottes. Das aber ist etwas ganz anderes als das Aufrechnen von Schuld.
Eine dritte Möglichkeit ist die demütige Unterwerfung. Auch dieses Muster gibt es in unseren Beziehungen. Und ich denke, dass es ebenfalls ein ungesundes Muster ist, weil es nicht partnerschaftlich, sondern herrschaftlich ist. Wer sich immer unterwirft, verliert die Selbstachtung und die Achtung des Anderen. Oder könnten Sie jemand auf Dauer lieben, der sich niemals wehrt und immer nur versucht, es ihnen in allem recht zu machen? Aber vielleicht fragen sie sich, ob nicht in unserem Verhältnis zu Gott solch demütige Unterwerfung angemessen ist. Ist er nicht der allmächtige Herrscher, der gar nicht im Unrecht sein kann? Schon Paulus hat es ja festgehalten und die Reformatoren haben es unterstrichen: Wir sind allzumal Sünder und bedürfen der Vergebung unseres Gottes. Und trotzdem behaupte ich: Gott will nicht demütige Unterwerfung, sondern Menschen, die ihm aufrecht gegenüber treten, Menschen, die sich zur Verantwortung ziehen lassen. Die paulinische und reformatorische Einsicht ist nicht dazu da, dass wir stets gebeugten Hauptes und schuldbewusst herumlaufen. Gott will gerade und aufrechte Menschen. Im Lied vom Weinbergbesitzer appelliert der Prophet ja an die Einsicht der Menschen. Rechtsbruch und Schlechtigkeit sind ja offensichtlich. Und er hofft darauf, dass die Menschen zu freier Einsicht kommen und umkehren zu Recht und Gerechtigkeit.
So bleibt also die vierte Möglichkeit. Konfrontiert mit der Wut und Aggression enttäuschter Liebe können wir das Werben um unsere Liebe erkennen, das darin steckt. Konfrontiert mit Vorwürfen können wir Verantwortung übernehmen für das, was wir aus freier Einsicht annehmen können, wofür wir uns auch wirklich verantwortlich fühlen. Wir können um Vergebung bitten und wir können verzeihen. Und wir können versuchen, auch das Unlösbare zu akzeptieren, all das was wir verschieden sehen. Und ich glaube, dass es auch im Verhältnis zu Gott, im Glauben, um genau diese freie und aufrechte Verantwortlichkeit, dieses Gegenüber geht. Rechtsspruch und Gerechtigkeit sind Gottes Massstäbe für unser Handeln. Werden wir ihnen gerecht oder wo scheitern wir an ihnen? Wofür wollen wir Gott um Vergebung bitten? Vor allem aber: Erkennen wir, wie sehr Gott um uns wirbt und uns auch in der Konfrontation mit unserem Versagen, unserer Schuld, seine Liebe zeigt?
Denn das ist ganz entscheidend an diesem Text: Gott ist nicht der Richter, sondern bleibt auch angesichts der ins Auge gefassten Preisgabe des Weinbergs der Liebende, der um seine Menschen wirbt. Trotzdem ist ja nicht wegzudiskutieren, dass der Weinberg am Ende verwüstet daliegen könnte. Die Vorstellung, Gott könnte aus enttäuschter Liebe sein Volk, er könnte uns Menschen aufgeben, sie macht mir Mühe. Und erzählt die Bibel nicht immer wieder davon, wie Gott einen neuen Anfang mit seinen Menschen, mit uns macht? Ist nicht das ganze Neue Testament in immer neuen Anläufen die Verkündigung frohen Botschaft, dass Gott Frieden mit uns gemacht, sich selbst mit uns versöhnt hat? Aber umgekehrt: Ist Liebe, die völlig einseitig von Gott ausginge und von uns ganz unabhängig wäre, überhaupt noch Liebe. Ist Liebe, deren Ende nicht mehr gedacht werden darf, noch Liebe oder einfach ein unentrinnbares Schicksal?
Wichtig ist mir bei all diesen Fragen dreierlei: Erstens: Das Lied des Propheten vom Weinberg seines Freundes hat ein offenes Ende. Es ist nicht der Beschluss, den Weinberg der Verwüstung preiszugeben, sondern fasst diese äusserste Möglichkeit ins Auge – aus Liebe und um damit um Liebe und Umkehr zu werben. Die Botschaft lautet: Gott liebt euch und es ist ihm nicht egal, was ihr tut. Erst wo die Trennung denkbar wird ist die Liebe nicht ein unentrinnbares, aber letztlich gleichgültiges Schicksal, sondern eine lebendige Beziehung, die wachsen kann. Das zweite: Das Lied hat zwar ein offenes Ende. Im Horizont der Botschaft von Jesus stehen aber drohende Verwüstung und erhoffter Neuanfang nicht gleichgewichtig nebeneinander: Gott hat uns in Jesus Christus mit sich versöhnt. Der Zugang zu ihm ist offen. Seine Liebe bleibt. Für jeden. Immer. Und das dritte: Das Ende des Liedes ist offen, weil es nicht über uns redet, nicht das Urteil über uns spricht, sondern uns anredet und um uns wirbt. Am Ende des Liedes ist der Ball bei uns. Wir sind gefragt. Wir sind gefragt, wie wir es halten mit Recht und Gerechtigkeit, mit Rechtsbruch und Schlechtigkeit. Wir sind gefragt – als die Geliebten – was wir für diese Liebe tun wollen im Alltag unseres Lebens. Gott gibt uns die Freiheit, auf seine Liebe zu antworten. Amen.
dürfen wir uns Gott als einen enttäuschten und verletzten Liebhaber vorstellen? Unser Predigttext aus dem Buch des Propheten Jesaja ist ein Liebeslied, ein Lied, das von einer enttäuschten und verletzten Liebe singt. Es ist ein ungewohntes Gefäss, in das der Prophet seine Botschaft kleidet. Hätte er nicht einfach dem Volk die Leviten lesen können, den Menschen ihr Unrecht vorhalten? Ist Gott nicht der Herrscher und Richter, der sein Volk, seine Menschen souverän zur Rechenschaft ziehen könnte? Dass der Prophet seine Botschaft in die Gestalt eines Gleichnisses, eines Liebesliedes kleidet, ist nicht einfach eine originelle Verkleidung. Es ist die Botschaft selbst. Gott ist und bleibt der Liebende. So dramatisch am Ende unseres Predigttextes der verwüstete und preisgegebene Weinberg vor unseren Augen steht und der Vorwurf von Rechtsbruch und Schlechtigkeit im Raum – die Geschichte ist offen. Weil Gott der Liebende bleibt, weil er als Liebender und eben nicht als blinde Justitia auftritt, bleibt noch die Wut des enttäuschten Liebhabers ein Werben um seine Liebe, ein Werben Gottes um sein Volk und seine Menschen.
Eindrücklich singt uns der Prophet von seinem Freund, dem Weinbergbesitzer. Viel Zeit und Mühe hat er für seinen Weinberg aufgewendet. Wir sehen ihn richtig vor uns, wie er mit dem Werkzeug in der Hand seien Weinberg umgräbt, die Steine hinausschafft, edle Reben darin pflanzt, einen Turm baut und eine Kelter gräbt. Schweiss und Mühe gehört dazu. Und wir dürfen uns den Weinbergbesitzer vorstellen, wie er nach all der Arbeit erschöpft dasitzt und stolz und glücklich seinen Weinberg betrachtet. Nun wird er seine Früchte bringen. Er hegt und pflegt seinen Weinberg. Was hätte man noch tun können, das ich nicht getan habe? Aber der Weinberg bringt nichts als schlechte Trauben. Wie gross ist die Enttäuschung - und die Enttäuschung verwandelt sich in Wut.
Enttäuschte Liebe, vergebliche Liebesmüh. Vielleicht könnten manche von uns auch solche Geschichten erzählen, solche Lieder singen. Menschen, die sich um einen anderen Menschen bemüht haben, die überzeugt sind, ihr Bestes getan zu haben, die viel in ihre Liebe investiert haben und enttäuscht worden sind. Eltern, die ihren Kindern viel gegeben haben an Liebe und Zuwendung, an persönlichen Opfern und die sich plötzlich fragen: Wozu das alles? Was bekomme ich denn zurück. Oder auch Menschen, die sich einer Sache, einer Aufgabe verschrieben haben und ihre Zeit und ihre Kraft, ja, ihre ganze Liebe darin investiert haben und eines Tages sich fragen: Wo bleibt der Dank? Was bekomme ich zurück? Enttäuschte Liebe, verletzte Gefühle, der Eindruck: es war alles umsonst, vergebene Liebesmüh – vielleicht können wir das nachvollziehen. Menschen, die viel gegeben, die viel investiert haben und deren Liebe gross ist, die sind besonders verletzlich und sie können an den Punkt kommen, wo sie den Bettel hinschmeissen möchten, wo die Liebe die Gestalt der Wut und der Aggression annimmt. Ich habe das bewusst so formuliert. Jemand hat einmal gesagt: Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit. Das ist eine sehr weise Einsicht, denn wo Gleichgültigkeit herrscht, da hat die Liebe keinen Platz mehr. Die Wut und Aggression des Weinbergbesitzers, der seinen Weinberg der Verwüstung preisgeben will, sie ist und bleibt eine Gestalt seiner Liebe. Würde er es wirklich tun – er würde gewiss dasitzen und wie ein Schlosshund heulen. Es würde ihm das Herz brechen und wer weiss, ob er es nicht im selben Moment bereuen würde. Der aber, der gleichgültig geworden ist, der würde kalt lächelnd weitergehen – im Gefühl, dass es dem Weinberg ja nur recht geschieht. Ich glaube, wir können uns diesen entscheidenden Unterschied nicht genug bewusst machen. Wenn wir enttäuscht werden oder auch, wenn uns Wut und Enttäuschung entgegenschlägt, kann es ganz wichtig sein, wenn wir nicht vergessen, dass sie so etwas wie die Kehrseite der Liebe sind und nicht das Ende. Erst wo die Gleichgültigkeit Einzug hält ist die Liebe meist wirklich zu Ende.
Wie aber soll ein Mensch reagieren, dem so viel Wut und Enttäuschung vor die Füsse geworfen wird? Eine mögliche Reaktion – und vielleicht nicht die seltenste – ist es, resigniert aufzugeben. Das war’s dann wohl, es hat keinen Sinn mehr. Diese Reaktion sieht nur noch die Enttäuschung und Wut und nimmt sie nicht mehr als Gestalt der Liebe wahr. Dann bleibt nur noch das Zerstörerische und Hoffnungslose übrig. Auch im Glauben gibt es dieses Muster: Menschen, die Gott nur als den allmächtigen Richter sehen können, dessen wachsames Auge noch alles kontrolliert und dessen erhobener Zeigefinger allgegenwärtig ist. Und irgendwann bleibt ihnen nur noch die Befreiung, der Abschied von diesem Gott und sie merken gar nicht, dass es nur ein falsches Gottesbild ist, von dem sie Abschied nehmen.
Eine andere Reaktion ist es, die Gegenrechnung aufzumachen. Dieses Muster kommt in unseren Beziehungen oft vor. Und wie oft hast du mich enttäuscht, welche Fehler hast du gemacht? Wer ist Schuld? Und wer trägt mehr Schuld? Ich brauche nicht lange zu erklären, wie zerstörerisch dieses Muster ist, zumal ja in der Regel die objektiven Massstäbe fehlen, um Schuld zu beurteilen. So häufig diese Reaktion unter uns ist, so sehr fällt mir doch auf, dass sie im Glauben, in unserem Verhältnis zu Gott eigentlich unmöglich ist. Wer sich von Gott zur Rechenschaft gezogen weiss, spürt wohl intuitiv, dass er hier keine Gegenrechnung aufmachen kann und da wo Menschen Gott zur Rechenschaft ziehen, klagen und ihn anklagen, da kommen sie zu ihm mit ihren Zweifeln und Fragen angesichts von Not und Elend in der Welt, von Ungerechtigkeit und Leid oder weil sie in ihrem persönlichen Schicksal nichts mehr spüren von der Gegenwart eines liebenden Gottes. Das aber ist etwas ganz anderes als das Aufrechnen von Schuld.
Eine dritte Möglichkeit ist die demütige Unterwerfung. Auch dieses Muster gibt es in unseren Beziehungen. Und ich denke, dass es ebenfalls ein ungesundes Muster ist, weil es nicht partnerschaftlich, sondern herrschaftlich ist. Wer sich immer unterwirft, verliert die Selbstachtung und die Achtung des Anderen. Oder könnten Sie jemand auf Dauer lieben, der sich niemals wehrt und immer nur versucht, es ihnen in allem recht zu machen? Aber vielleicht fragen sie sich, ob nicht in unserem Verhältnis zu Gott solch demütige Unterwerfung angemessen ist. Ist er nicht der allmächtige Herrscher, der gar nicht im Unrecht sein kann? Schon Paulus hat es ja festgehalten und die Reformatoren haben es unterstrichen: Wir sind allzumal Sünder und bedürfen der Vergebung unseres Gottes. Und trotzdem behaupte ich: Gott will nicht demütige Unterwerfung, sondern Menschen, die ihm aufrecht gegenüber treten, Menschen, die sich zur Verantwortung ziehen lassen. Die paulinische und reformatorische Einsicht ist nicht dazu da, dass wir stets gebeugten Hauptes und schuldbewusst herumlaufen. Gott will gerade und aufrechte Menschen. Im Lied vom Weinbergbesitzer appelliert der Prophet ja an die Einsicht der Menschen. Rechtsbruch und Schlechtigkeit sind ja offensichtlich. Und er hofft darauf, dass die Menschen zu freier Einsicht kommen und umkehren zu Recht und Gerechtigkeit.
So bleibt also die vierte Möglichkeit. Konfrontiert mit der Wut und Aggression enttäuschter Liebe können wir das Werben um unsere Liebe erkennen, das darin steckt. Konfrontiert mit Vorwürfen können wir Verantwortung übernehmen für das, was wir aus freier Einsicht annehmen können, wofür wir uns auch wirklich verantwortlich fühlen. Wir können um Vergebung bitten und wir können verzeihen. Und wir können versuchen, auch das Unlösbare zu akzeptieren, all das was wir verschieden sehen. Und ich glaube, dass es auch im Verhältnis zu Gott, im Glauben, um genau diese freie und aufrechte Verantwortlichkeit, dieses Gegenüber geht. Rechtsspruch und Gerechtigkeit sind Gottes Massstäbe für unser Handeln. Werden wir ihnen gerecht oder wo scheitern wir an ihnen? Wofür wollen wir Gott um Vergebung bitten? Vor allem aber: Erkennen wir, wie sehr Gott um uns wirbt und uns auch in der Konfrontation mit unserem Versagen, unserer Schuld, seine Liebe zeigt?
Denn das ist ganz entscheidend an diesem Text: Gott ist nicht der Richter, sondern bleibt auch angesichts der ins Auge gefassten Preisgabe des Weinbergs der Liebende, der um seine Menschen wirbt. Trotzdem ist ja nicht wegzudiskutieren, dass der Weinberg am Ende verwüstet daliegen könnte. Die Vorstellung, Gott könnte aus enttäuschter Liebe sein Volk, er könnte uns Menschen aufgeben, sie macht mir Mühe. Und erzählt die Bibel nicht immer wieder davon, wie Gott einen neuen Anfang mit seinen Menschen, mit uns macht? Ist nicht das ganze Neue Testament in immer neuen Anläufen die Verkündigung frohen Botschaft, dass Gott Frieden mit uns gemacht, sich selbst mit uns versöhnt hat? Aber umgekehrt: Ist Liebe, die völlig einseitig von Gott ausginge und von uns ganz unabhängig wäre, überhaupt noch Liebe. Ist Liebe, deren Ende nicht mehr gedacht werden darf, noch Liebe oder einfach ein unentrinnbares Schicksal?
Wichtig ist mir bei all diesen Fragen dreierlei: Erstens: Das Lied des Propheten vom Weinberg seines Freundes hat ein offenes Ende. Es ist nicht der Beschluss, den Weinberg der Verwüstung preiszugeben, sondern fasst diese äusserste Möglichkeit ins Auge – aus Liebe und um damit um Liebe und Umkehr zu werben. Die Botschaft lautet: Gott liebt euch und es ist ihm nicht egal, was ihr tut. Erst wo die Trennung denkbar wird ist die Liebe nicht ein unentrinnbares, aber letztlich gleichgültiges Schicksal, sondern eine lebendige Beziehung, die wachsen kann. Das zweite: Das Lied hat zwar ein offenes Ende. Im Horizont der Botschaft von Jesus stehen aber drohende Verwüstung und erhoffter Neuanfang nicht gleichgewichtig nebeneinander: Gott hat uns in Jesus Christus mit sich versöhnt. Der Zugang zu ihm ist offen. Seine Liebe bleibt. Für jeden. Immer. Und das dritte: Das Ende des Liedes ist offen, weil es nicht über uns redet, nicht das Urteil über uns spricht, sondern uns anredet und um uns wirbt. Am Ende des Liedes ist der Ball bei uns. Wir sind gefragt. Wir sind gefragt, wie wir es halten mit Recht und Gerechtigkeit, mit Rechtsbruch und Schlechtigkeit. Wir sind gefragt – als die Geliebten – was wir für diese Liebe tun wollen im Alltag unseres Lebens. Gott gibt uns die Freiheit, auf seine Liebe zu antworten. Amen.
Samstag, 28. Januar 2012
Predigt über 2. Könige 5,1-19 vom 29. Januar 2012
Liebe Gemeinde,
Naaman lebt mitten unter uns – und vielleicht sind ja sogar wir selbst dieser Naaman. Das mag überraschend klingen, denn was könnte viel weiter von uns entfernt sein als ein aramäischer Feldhauptmann vor fast 3000 Jahren und ein israelitischer Prophet, der eine wunderbare Heilung vornimmt. Und doch – wenn wir genau hinschauen, dann können wir in der Art der Krankheit dieses Feldhauptmanns und dem verwickelten Weg der Heilung mehr über uns selbst erfahren als wir zunächst denken und vielleicht sogar als uns lieb ist.
Naaman wird uns als ein vortrefflicher, hoch geachteter und erfolgreicher militärischer Feldherr vorgestellt, einer der viel erreicht hat. Doch er leidet an einer Krankheit, die ihm schwer zu schaffen macht. Aussätzig sei er, heisst es in der Luther-Übersetzung. Es handelt sich aber hier nicht um die hoch ansteckende Leprakrankheit, die wir aus den Geschichten des Neuen Testaments kennen, sonst hätte er nicht bei seiner Familie leben und in grossem Gefolge reisen und seinen Beruf ausüben können. Seine Krankheit ist eine Schuppenflechte, bei der die natürliche Hornbildung der Haut masslos übersteigert ist und zwangsläufig an Panzerbildung erinnert.
Nun ist die Bibel kein medizinisches Lehrbuch, aber ebenso wenig ein Wunder- und Märchenbuch. Die Heilungsgeschichten der Bibel wollen uns einladen, die Perspektive des Glaubens einzunehmen. Krankheiten sind in ihnen oft ein Spiegel der Seele und Heilung bedeutet meist mehr als äusserliches Verschwinden der Krankheitssymptome. Heilung ist eine innere Verwandlung des Menschen, ist auch seelische Gesundung, der Aufbruch zu einer neuen Lebenshaltung.
Naaman, der mächtige Mann, er leidet an Verpanzerung. Die äusserliche Verpanzerung seiner Haut ist in dieser Geschichte wohl auch ein Spiegel des Panzers, mit dem er seine Seele umgeben hat, der Schutzmechanismen, die er sich im Laufe der Zeit zugelegt hat. Und genau da ist uns dieser Feldhauptmann plötzlich gar nicht mehr so fremd. Denn auch wir haben uns ja unsere Schutzmechanismen zugelegt. Schliesslich braucht man ja ein dickes Fell. Wir sehen zu, dass wir die Dinge im Griff haben und versuchen uns mit dem zu arrangieren, was wir nicht ändern können. Aber all das – so werden sie nun vielleicht denken – ist doch notwendig. Sie haben Recht. Niemand kann ohne solche Schutzmechanismen leben. Wir brauchen Abwehrkräfte. Manchmal dürfen wir vielleicht Dinge gar nicht zu nahe an uns herankommen lassen. Und doch birgt eben all dies die Gefahr der Verpanzerung in sich. Dann kann uns nichts mehr überraschen. Dann wissen wir, wie die Dinge laufen, dann kennen wir unsere Feinde, dann lassen wir uns nicht mehr berühren und sind krampfhaft damit beschäftigt, unser Leben im Griff zu behalten. Uneingestanden träumen wir den Traum von der Unverletzbarkeit und merken gar nicht, dass Unverletzbarkeit nichts anderes ist als der Tod. So wie wir auf unsere Körperöffnungen angewiesen sind, darauf dass unsere Haut atmen kann, obwohl genau dadurch auch all die Schadstoffe und Krankheitserreger unseren Körper erreichen, genau so muss auch unsere Seele atmen können und das kann sie nur, wenn wir auch das zulassen, was uns verletzen kann. Wir wollen die Dinge im Griff haben bis der Punkt kommt, wo wir merken, wie einsam und leer unser Leben geworden ist oder wo plötzlich sich etwas in unseren Weg stellt, das wir nicht mehr im Griff haben oder bewältigen können. Und dann?
Naaman leidet. Er weiss wie man militärische Mittel einsetzt und wie man einen Feind im Felde besiegt. Er weiss seine Macht und seinen Einfluss zu gebrauchen. Er verfügt über Geld, mit dem er sich so ziemlich alles leisten kann. Er kann gebieten und befehlen. Aber gegen seinen Panzer ist er machtlos. Da versagen all seine bewährten Mittel und Strategien. Und würde diese Geschichte allein im Kreis der Mächtigen spielen, sie würde wohl bald mit einem Staatsbegräbnis enden. Aber nun kommt in unserem Predigttext eine junge Frau ins Spiel, eine Kriegsgefangene, die als Dienerin der Frau des Naaman im Hause lebt. Sie, die namenlose Sklavin, die von der Armee des Naaman ihrer Heimat, ihrer Familie, ihrer Freiheit beraubt wurde, sie ist fähig zum Mitgefühl und bringt die erste entscheidende Wendung in der Geschichte. Auch wenn sie wohl recht gut behandelt wurde, hätte sie nicht doch Grund genug gehabt, gleichgültig zu bleiben? Und woher nahm sie den Mut, überhaupt etwas zu sagen? Wer sollte schon auf eine Sklavin hören? Musste sie nicht befürchten, verspottet oder ignoriert zu werden oder gar bestraft, weil man ihr vorwerfen könnte, sie wolle sich über den armen Naaman lustig machen? Das geht mich doch nichts an! Das bringt doch eh nichts! Wer weiss, wie die anderen reagieren! Aber die israelitische Sklavin greift ein: „Ach dass mein Herr wäre bei dem Propheten in Samaria! Der könnte ihn von seinem Aussatz befreien.“ Und nun geschieht das erste Wunder. Naaman hört. Er hört auf diese Sklavin. Und er geht zum König, beruft sich vor diesem ausdrücklich auf die Worte einer Sklavin und Kriegsgefangenen und macht sich auf den Weg.
Aber er tut es natürlich mit den Mitteln, die ihm vertraut sind: hoch zu Ross, mit grossem Gefolge, reichen Geschenken und einem königlichen Empfehlungsschreiben. Und er begibt sich mit alledem zuerst zum König von Israel. Die Folge sind diplomatische Irritationen, die leicht hätten eskalieren können. Denn der König von Israel kann – gepanzert mit der uralten Feindschaft der beiden Völker – im Ansinnen des Naaman nur einen Vorwand zum Streit sehen. Auch er verpanzert, eingeschlossen in sein Bild der Welt, der Machtpolitik. Auch das mag uns nicht ganz unvertraut sein. Wie oft entsteht in alten Feindschaften oder belasteten Beziehungen diese fatale Situation. Alles was der andere tut oder sagt steht unter dem Verdacht, was er oder sie jetzt wieder Böses im Schilde führt. So wird jede Begegnung, jede Versöhnung unmöglich und wir sind Gefangene unserer festgefahrenen Bilder und Vorstellungen, aus denen wir uns selbst nicht mehr befreien können.
Das Eingreifen des Elisa ist nötig, damit die Geschichte gut weitergehen kann. Mit all den Symbolen seiner Macht zieht Naaman vor das Haus des Propheten. Doch dieser kommt nicht einmal persönlich heraus, sondern schickt lediglich einen Boten. Welch eine Demütigung für den machtgewohnten Feldherrn. Wenigstens durch Macht und Reichtum wollte er die Kontrolle behalten und nun bricht all das zusammen und er muss sich von einem Boten abspeisen lassen. Und der hat ihm nicht mehr zu bieten als den lächerlichen Rat, sich sieben Mal im Jordan zu baden. Jetzt packt Naaman die Wut. Geht man so mit mir um. Er sollte selber herauskommen und mit machtvollen Worten seinen Gott zum Eingreifen bewegen. Reich würde ich ihn dafür beschenken. Aber baden kann ich mich auch zuhause in unseren Flüssen. Die sind sogar besser. Auch den Kontakt zu Gott kann er sich nur in den Kategorien von Macht und Grösse vorstellen. Und als diese Erwartungen enttäuscht werden, da brechen endlich die ganzen Gefühle von Wut und Enttäuschung, seine Aggressionen auf. Und ich denke, dass auch das zu seiner Heilung dazugehört. Er zeigt Gefühle, sein Panzer bricht auf. Was er aber jetzt noch braucht ist dies: er muss endlich herabsteigen von seinem Ross. Aber zuerst einmal denkt er ans umkehren. Lieber im vertrauten Elend bleiben als sich zu demütigen oder lächerlich zu machen. So leicht steigt ein Feldherr nicht von seinem hohen Ross. Aber Naaman hat Glück mit seinen Untergebenen. Denn wie oft reden die ihren Vorgesetzten nach dem Mund und es ist auch unter Freunden nicht selbstverständlich, dass offene und klare Worte gesprochen werden. Aber wenn wir einander nur sagen, was der andere gerne hört, betrügen wir einander um die Wahrheit und berauben uns der Möglichkeit, Dinge zu verändern. Dass wir dies liebevoll und behutsam tun sollten und im Wissen darum, dass auch wir irren könnten, das ist klar. Die Diener des Naaman schweigen nicht, so wie schon vorher die israelitische Sklavin. Geschickt und behutsam dringen sie durch den stolzen Panzer ihres Herrn. Und der lässt sich bewegen. Er steigt herab. Er taucht unter. Siebenmal. Bis auf den Grund des schmutzigen Jordanwassers. Nur so wird er seinen krank machenden Schutzpanzer los. Nur so begegnet er dem Gott Israels und seiner heilenden Kraft.
„Da stieg er ab und tauchte unter im Jordan siebenmal, wie der Mann Gottes geboten hatte. Und sein Fleisch wurde wieder heil wie das Fleisch eines jungen Knaben, und er wurde rein.“ Die Heilung gleicht einer Neugeburt. Das Untertauchen erinnert uns an die Taufe. Die Taufe ist ja auch die Zusage: „Du bist in Gottes Hand.“ Und wer sich in Gottes Hand weiss, der darf sich auch von seinen Schutzpanzern befreien lassen, kann auch dem begegnen, was ihm an sich selbst Mühe macht und unansehnlich ist, kann sich berühren lassen und Möglichkeiten entdecken. Wo wir alles schon wissen, da hat es für Gott keinen Platz. Wenn wir alles im Griff haben wollen, können wir uns nicht beschenken lassen. Wenn wir uns nicht berühren lassen, verlernen wir das Staunen. Und das ist wohl eines der grössten Geschenke, die Kinder uns immer wieder machen: Sie lehren uns das Staunen. Sie helfen uns, die Dinge mit anderen Augen zu sehen. Aber sie konfrontieren uns auch mit ihrer Bedürftigkeit und mit den Grenzen unseres Machens und Planens. Und genau das ist heilsam für uns, so wie für Naaman der Blick von unten, der Blick der Dienerin und seiner Diener, ihr Blick von unten, heilsam war.
Naaman ist geheilt. Und doch bleibt noch etwas. Denn der grosse Feldherr will dem Propheten wenigstens den grossen Dienst angemessen entgelten. Doch Elisa nimmt das Geschenk nicht an. Für Naaman ist es wichtig, dass er lernt, sich beschenken zu lassen, etwas schuldig zu bleiben. Auch das ist Teil seiner Heilung, der Befreiung von seinem Panzer der Macht und des Reichtums. Lass es dir gefallen, sagt Elisa ihm. Und endlich begreift er es. Und hat eine letzte Bitte. Erde will er mitnehmen aus Israel. Erde, die ihn erinnert an das Gute, das ihm widerfahren ist und an den Gott, der ihm diese Heilung hat widerfahren lassen, der ihn befreit hat von seinem Panzer. Diesem Gott will er fortan dienen. Elisa gewährt im diese Bitte – und auch noch eine allerletzte: Sein Amt zwingt Naaman, zuhause auch den Gott Rimmon anzubeten und Elisa erlaubt ihm diesen Kompromiss. Diese Toleranz beeindruckt mich. Natürlich gibt es auch faule Kompromisse, aber ebenso eine bedrohliche fanatische Kompromisslosigkeit. „Zieh hin mit Frieden!“ verabschiedet Elisa den Naaman. Er vertraut darauf, dass er nicht vergessen wird, welcher Gott ihm geholfen hat. Auch wenn er in seinem Alltag mit Kompromissen leben wird, auch wenn er wieder Macht und Reichtum gebrauchen wird – sein Panzer ist aufgebrochen, er lässt sich berühren, seine Seele kann atmen. Das bleibt. Das ist ein Segen. Amen.
Naaman lebt mitten unter uns – und vielleicht sind ja sogar wir selbst dieser Naaman. Das mag überraschend klingen, denn was könnte viel weiter von uns entfernt sein als ein aramäischer Feldhauptmann vor fast 3000 Jahren und ein israelitischer Prophet, der eine wunderbare Heilung vornimmt. Und doch – wenn wir genau hinschauen, dann können wir in der Art der Krankheit dieses Feldhauptmanns und dem verwickelten Weg der Heilung mehr über uns selbst erfahren als wir zunächst denken und vielleicht sogar als uns lieb ist.
Naaman wird uns als ein vortrefflicher, hoch geachteter und erfolgreicher militärischer Feldherr vorgestellt, einer der viel erreicht hat. Doch er leidet an einer Krankheit, die ihm schwer zu schaffen macht. Aussätzig sei er, heisst es in der Luther-Übersetzung. Es handelt sich aber hier nicht um die hoch ansteckende Leprakrankheit, die wir aus den Geschichten des Neuen Testaments kennen, sonst hätte er nicht bei seiner Familie leben und in grossem Gefolge reisen und seinen Beruf ausüben können. Seine Krankheit ist eine Schuppenflechte, bei der die natürliche Hornbildung der Haut masslos übersteigert ist und zwangsläufig an Panzerbildung erinnert.
Nun ist die Bibel kein medizinisches Lehrbuch, aber ebenso wenig ein Wunder- und Märchenbuch. Die Heilungsgeschichten der Bibel wollen uns einladen, die Perspektive des Glaubens einzunehmen. Krankheiten sind in ihnen oft ein Spiegel der Seele und Heilung bedeutet meist mehr als äusserliches Verschwinden der Krankheitssymptome. Heilung ist eine innere Verwandlung des Menschen, ist auch seelische Gesundung, der Aufbruch zu einer neuen Lebenshaltung.
Naaman, der mächtige Mann, er leidet an Verpanzerung. Die äusserliche Verpanzerung seiner Haut ist in dieser Geschichte wohl auch ein Spiegel des Panzers, mit dem er seine Seele umgeben hat, der Schutzmechanismen, die er sich im Laufe der Zeit zugelegt hat. Und genau da ist uns dieser Feldhauptmann plötzlich gar nicht mehr so fremd. Denn auch wir haben uns ja unsere Schutzmechanismen zugelegt. Schliesslich braucht man ja ein dickes Fell. Wir sehen zu, dass wir die Dinge im Griff haben und versuchen uns mit dem zu arrangieren, was wir nicht ändern können. Aber all das – so werden sie nun vielleicht denken – ist doch notwendig. Sie haben Recht. Niemand kann ohne solche Schutzmechanismen leben. Wir brauchen Abwehrkräfte. Manchmal dürfen wir vielleicht Dinge gar nicht zu nahe an uns herankommen lassen. Und doch birgt eben all dies die Gefahr der Verpanzerung in sich. Dann kann uns nichts mehr überraschen. Dann wissen wir, wie die Dinge laufen, dann kennen wir unsere Feinde, dann lassen wir uns nicht mehr berühren und sind krampfhaft damit beschäftigt, unser Leben im Griff zu behalten. Uneingestanden träumen wir den Traum von der Unverletzbarkeit und merken gar nicht, dass Unverletzbarkeit nichts anderes ist als der Tod. So wie wir auf unsere Körperöffnungen angewiesen sind, darauf dass unsere Haut atmen kann, obwohl genau dadurch auch all die Schadstoffe und Krankheitserreger unseren Körper erreichen, genau so muss auch unsere Seele atmen können und das kann sie nur, wenn wir auch das zulassen, was uns verletzen kann. Wir wollen die Dinge im Griff haben bis der Punkt kommt, wo wir merken, wie einsam und leer unser Leben geworden ist oder wo plötzlich sich etwas in unseren Weg stellt, das wir nicht mehr im Griff haben oder bewältigen können. Und dann?
Naaman leidet. Er weiss wie man militärische Mittel einsetzt und wie man einen Feind im Felde besiegt. Er weiss seine Macht und seinen Einfluss zu gebrauchen. Er verfügt über Geld, mit dem er sich so ziemlich alles leisten kann. Er kann gebieten und befehlen. Aber gegen seinen Panzer ist er machtlos. Da versagen all seine bewährten Mittel und Strategien. Und würde diese Geschichte allein im Kreis der Mächtigen spielen, sie würde wohl bald mit einem Staatsbegräbnis enden. Aber nun kommt in unserem Predigttext eine junge Frau ins Spiel, eine Kriegsgefangene, die als Dienerin der Frau des Naaman im Hause lebt. Sie, die namenlose Sklavin, die von der Armee des Naaman ihrer Heimat, ihrer Familie, ihrer Freiheit beraubt wurde, sie ist fähig zum Mitgefühl und bringt die erste entscheidende Wendung in der Geschichte. Auch wenn sie wohl recht gut behandelt wurde, hätte sie nicht doch Grund genug gehabt, gleichgültig zu bleiben? Und woher nahm sie den Mut, überhaupt etwas zu sagen? Wer sollte schon auf eine Sklavin hören? Musste sie nicht befürchten, verspottet oder ignoriert zu werden oder gar bestraft, weil man ihr vorwerfen könnte, sie wolle sich über den armen Naaman lustig machen? Das geht mich doch nichts an! Das bringt doch eh nichts! Wer weiss, wie die anderen reagieren! Aber die israelitische Sklavin greift ein: „Ach dass mein Herr wäre bei dem Propheten in Samaria! Der könnte ihn von seinem Aussatz befreien.“ Und nun geschieht das erste Wunder. Naaman hört. Er hört auf diese Sklavin. Und er geht zum König, beruft sich vor diesem ausdrücklich auf die Worte einer Sklavin und Kriegsgefangenen und macht sich auf den Weg.
Aber er tut es natürlich mit den Mitteln, die ihm vertraut sind: hoch zu Ross, mit grossem Gefolge, reichen Geschenken und einem königlichen Empfehlungsschreiben. Und er begibt sich mit alledem zuerst zum König von Israel. Die Folge sind diplomatische Irritationen, die leicht hätten eskalieren können. Denn der König von Israel kann – gepanzert mit der uralten Feindschaft der beiden Völker – im Ansinnen des Naaman nur einen Vorwand zum Streit sehen. Auch er verpanzert, eingeschlossen in sein Bild der Welt, der Machtpolitik. Auch das mag uns nicht ganz unvertraut sein. Wie oft entsteht in alten Feindschaften oder belasteten Beziehungen diese fatale Situation. Alles was der andere tut oder sagt steht unter dem Verdacht, was er oder sie jetzt wieder Böses im Schilde führt. So wird jede Begegnung, jede Versöhnung unmöglich und wir sind Gefangene unserer festgefahrenen Bilder und Vorstellungen, aus denen wir uns selbst nicht mehr befreien können.
Das Eingreifen des Elisa ist nötig, damit die Geschichte gut weitergehen kann. Mit all den Symbolen seiner Macht zieht Naaman vor das Haus des Propheten. Doch dieser kommt nicht einmal persönlich heraus, sondern schickt lediglich einen Boten. Welch eine Demütigung für den machtgewohnten Feldherrn. Wenigstens durch Macht und Reichtum wollte er die Kontrolle behalten und nun bricht all das zusammen und er muss sich von einem Boten abspeisen lassen. Und der hat ihm nicht mehr zu bieten als den lächerlichen Rat, sich sieben Mal im Jordan zu baden. Jetzt packt Naaman die Wut. Geht man so mit mir um. Er sollte selber herauskommen und mit machtvollen Worten seinen Gott zum Eingreifen bewegen. Reich würde ich ihn dafür beschenken. Aber baden kann ich mich auch zuhause in unseren Flüssen. Die sind sogar besser. Auch den Kontakt zu Gott kann er sich nur in den Kategorien von Macht und Grösse vorstellen. Und als diese Erwartungen enttäuscht werden, da brechen endlich die ganzen Gefühle von Wut und Enttäuschung, seine Aggressionen auf. Und ich denke, dass auch das zu seiner Heilung dazugehört. Er zeigt Gefühle, sein Panzer bricht auf. Was er aber jetzt noch braucht ist dies: er muss endlich herabsteigen von seinem Ross. Aber zuerst einmal denkt er ans umkehren. Lieber im vertrauten Elend bleiben als sich zu demütigen oder lächerlich zu machen. So leicht steigt ein Feldherr nicht von seinem hohen Ross. Aber Naaman hat Glück mit seinen Untergebenen. Denn wie oft reden die ihren Vorgesetzten nach dem Mund und es ist auch unter Freunden nicht selbstverständlich, dass offene und klare Worte gesprochen werden. Aber wenn wir einander nur sagen, was der andere gerne hört, betrügen wir einander um die Wahrheit und berauben uns der Möglichkeit, Dinge zu verändern. Dass wir dies liebevoll und behutsam tun sollten und im Wissen darum, dass auch wir irren könnten, das ist klar. Die Diener des Naaman schweigen nicht, so wie schon vorher die israelitische Sklavin. Geschickt und behutsam dringen sie durch den stolzen Panzer ihres Herrn. Und der lässt sich bewegen. Er steigt herab. Er taucht unter. Siebenmal. Bis auf den Grund des schmutzigen Jordanwassers. Nur so wird er seinen krank machenden Schutzpanzer los. Nur so begegnet er dem Gott Israels und seiner heilenden Kraft.
„Da stieg er ab und tauchte unter im Jordan siebenmal, wie der Mann Gottes geboten hatte. Und sein Fleisch wurde wieder heil wie das Fleisch eines jungen Knaben, und er wurde rein.“ Die Heilung gleicht einer Neugeburt. Das Untertauchen erinnert uns an die Taufe. Die Taufe ist ja auch die Zusage: „Du bist in Gottes Hand.“ Und wer sich in Gottes Hand weiss, der darf sich auch von seinen Schutzpanzern befreien lassen, kann auch dem begegnen, was ihm an sich selbst Mühe macht und unansehnlich ist, kann sich berühren lassen und Möglichkeiten entdecken. Wo wir alles schon wissen, da hat es für Gott keinen Platz. Wenn wir alles im Griff haben wollen, können wir uns nicht beschenken lassen. Wenn wir uns nicht berühren lassen, verlernen wir das Staunen. Und das ist wohl eines der grössten Geschenke, die Kinder uns immer wieder machen: Sie lehren uns das Staunen. Sie helfen uns, die Dinge mit anderen Augen zu sehen. Aber sie konfrontieren uns auch mit ihrer Bedürftigkeit und mit den Grenzen unseres Machens und Planens. Und genau das ist heilsam für uns, so wie für Naaman der Blick von unten, der Blick der Dienerin und seiner Diener, ihr Blick von unten, heilsam war.
Naaman ist geheilt. Und doch bleibt noch etwas. Denn der grosse Feldherr will dem Propheten wenigstens den grossen Dienst angemessen entgelten. Doch Elisa nimmt das Geschenk nicht an. Für Naaman ist es wichtig, dass er lernt, sich beschenken zu lassen, etwas schuldig zu bleiben. Auch das ist Teil seiner Heilung, der Befreiung von seinem Panzer der Macht und des Reichtums. Lass es dir gefallen, sagt Elisa ihm. Und endlich begreift er es. Und hat eine letzte Bitte. Erde will er mitnehmen aus Israel. Erde, die ihn erinnert an das Gute, das ihm widerfahren ist und an den Gott, der ihm diese Heilung hat widerfahren lassen, der ihn befreit hat von seinem Panzer. Diesem Gott will er fortan dienen. Elisa gewährt im diese Bitte – und auch noch eine allerletzte: Sein Amt zwingt Naaman, zuhause auch den Gott Rimmon anzubeten und Elisa erlaubt ihm diesen Kompromiss. Diese Toleranz beeindruckt mich. Natürlich gibt es auch faule Kompromisse, aber ebenso eine bedrohliche fanatische Kompromisslosigkeit. „Zieh hin mit Frieden!“ verabschiedet Elisa den Naaman. Er vertraut darauf, dass er nicht vergessen wird, welcher Gott ihm geholfen hat. Auch wenn er in seinem Alltag mit Kompromissen leben wird, auch wenn er wieder Macht und Reichtum gebrauchen wird – sein Panzer ist aufgebrochen, er lässt sich berühren, seine Seele kann atmen. Das bleibt. Das ist ein Segen. Amen.
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